Unser sanfter Genius ahmte dem Todesengel nach und sagte dem Kleinen: »Wenn wir eine Lilie finden: so sterben wir bald.« Wie alsdann der Himmellustige, der noch keine gesehen, überall darnach suchte! Einmal, da sein Genius ihm den Genius des Universums nicht als ein metaphysisches Robinets-Vexierbild, sondern als den größten und besten Menschen der Erde geschildert hatte: zog sich ein nie dagewesenen Wohlgeruch um sie herum. Der Kleine fühlt, aber sieht nicht; er tritt zur Klause hinaus und – drei Lilien liegen da. Er kennt sie nicht, diese weißen Juniuskinder; aber der Genius nimmt sie entzückt von ihm und sagt: »Das sind Lilien, die kommen vom Himmel, nun sterben wir bald.« Ewig zitterte die Rührung nach spätern Jahren noch vor jeder Lilie in Gustavs Herzen fort, und gewiß gaukelt einmal in seiner wahren Todesstunde eine Lilie als das letzte glänzende Viertel der verlöschenden Monderde vor ihm.

Der Genius hatte vor, ihn am ersten Junius, seinem Geburttage, aus der Erde zu lassen. Aber um seine Seele noch höher zu spannen (vielleicht zu hoch), ließ er ihn in der letzten Woche noch zwei heilige Vorfeste des Sterbens erleben. – Als er ihm nämlich die Seligkeiten des Himmels, d.h. der Erde mit seiner Zunge und mit seinem Gesichte vorgemalet hatte, besonders die Herrlichkeiten der Himmel- und Sphärenmusik: so endigte er mit der Nachricht, daß oft schon zu Sterbenden, die noch nicht oben wären, dieses Echo des menschlichen Herzens hinuntertönte und daß sie denn eher stürben, weil davon das weiche Herz zerflösse. In das Ohr des Kleinen war Musik, diese Poesie der Luft, noch nie gekommen. Sein Lehrer hatte längst ein sogenanntes Sterbelied gemacht; in diesem bezog natürlicherweise Gustav alles, was es vom zweiten Leben sagte, auf das erste, und sie lasen es oft, ohne es zu singen. Aber in der letzten Woche erst fing der Genius auf einmal an, seine milde Lehrstimme zu der noch weichern Singstimme des herrnhutischen Kirchengesanges zu verklären und das sehnsüchtige Sterbelied vorzutragen, indes er durch Veranstaltungen sich oben von einem Waldhorne – dieser Flöte der Sehnsucht – begleiten ließ; und die ziehenden Adagio-Klagen sanken durch die dämpfende Erde in ihre Ohren und Herzen wie ein warmer Regen nieder ....

Gustavs Auge stand in der ersten Freudenträne – sein Herz drehte sich um – er glaubte, nun stürb' es an den Tönen schon.

O Musik! Nachklang aus einer entlegnen harmonischen Welt! Seufzer des Engels in uns! Wenn das Wort sprachlos ist, und die Umarmung, und das Auge, und das weinende, und wenn unsre stummen Herzen hinter dem Brust-Gitter einsam liegen: o so bist nur du es, durch welche sie sich einander zurufen in ihren Kerkern und ihre entfernten Seufzer vereinigen in ihrer Wüste! –

Wie bei einem wahren Sterben näherte der Genius seinen Zögling in diesem nachgeahmten auf der Stufenleiter der fünf Sinne dem Himmel. Er schmückte den scheinbaren Tod zum Vorteile des wahren mit allen Reizen aus, und Gustav stirbt einmal entzückter als einer von uns. Anstatt daß andere uns die Hölle offen sehen lassen: verhieß er ihm, er werde wie Stephanus an seinem Sterbetage den Himmel schon offen sehen, eh' er in ihn aufsteige. – Dies geschah auch. Ihr unterirdisches Josaphats-Tal hatte außer der erwähnten Kellertreppe noch einen langen waagrechten Kreuzgang, der am Fuße des Bergs ins Tal und ins Dörfchen darin offen stand, und den zwei Türen in verschiedenen Zwischenräumen versperrten. Diese Türen ließ er in der Nacht vor dem ersten Junius, als bloß die weiße Mondsichel am Horizonte stand und wie ein altergraues Angesicht sich in der blauen Nacht nach der versteckten Sonne wandte, mitten in einem Gebete unvermerkt aufziehen – – und nun siehst du, Gustav, zum ersten Male in deinem Leben und auf den Knien in das weite, 9 Millionen Quadratmeilen große Theater des menschlichen Leidens und Tuns hinein; aber nur so wie wir in den nächtlichen Kindheitjahren und unter dem Flor, womit uns die Mutter gegen Mücken überhüllte, blickest du in das Nachtmeer, das vor dir unermeßlich hinaussteht mit schwankenden Blüten und schießenden Feuerkäfern, die sich neben den Sternen zu bewegen scheinen, und mit dem ganzen Gedränge der Schöpfung! – – O! du glücklicher Gustav; dieses Nachtstück bleibt noch nach langen Jahren in deiner Seele wie eine im Meere untergesunkne grüne Insel hinter tiefen Schatten gelagert und sieht dich sehnend an wie eine längstvergangne frohe Ewigkeit .... Allein nach wenigen Minuten schloß der Genius ihn an sich und verhüllte die suchenden Augen mit seinem Busen; unvermerkt liefen die Himmeltüren wieder zu und nahmen ihm den Frühling.

In zwölf Stunden steht er darin; aber ich werde ordentlich beklemmt, je näher ich mich zu dieser sanften Auferstehung bringe. Es rührt nicht bloß daher, daß ich nur ein einziges Mal in meinem Leben einen solchen des Himmels werten Geburttag wie Gustavs seinen in meinem Kopfe auf- und untergehen lassen kann, einen Tag, dessen Feuer ich an meinem Pulse fühle und wovon nur Widerschein aufs Papier herfällt – auch nicht bloß daher kommt es, daß nachher der schöne Genius ungekannt von Autor und Leser wegziehet – sondern daher am meisten, daß ich meinen Gustav aus der stillen Demantgrube, wo sich der Demant seines Herzens so durchsichtig und so strahlend und so ohne Flecken und Federn zusammensetzte, hinauswerfe in die heiße Welt, welche bald ihre Brennspiegel auf ihn halten wird zum Zerbröckeln, aus seiner Meerstille der Leidenschaften heraus in den sogenannten Himmel hinein, wo neben den Seligen ebenso viele Verdammte gehen. – Aber da er alsdann auch der großen Natur ins Angesicht schauen darf: so ists doch nicht sein Schicksal allein, was mich beklommen macht, sondern meines und fremdes, weil ich bedenke, durch wieviel Kot unsere Lehrer unsern innern Menschen wie einen Missetäter schleifen, eh' er sich aufrichten darf! – Ach hätte ein Pythagoras, statt des Lateinischen und statt der syrischen Geschichte, unser Herz zu einer sanft erhebenden Äolsharfe, auf welcher die Natur spielet und ihre Empfindung ausdrückt, und nicht zu einer lärmenden Feuertrommel aller Leidenschaften werden lassen – wie weit – da das Genie, aber nie die Tugend Grenzen hat und jeder Reine und Gute noch reiner werden kann – könnten wir nicht sein! –

So wie Gustav eine Nacht wartet, will ich auch meine Schilderung um eine verschieben, um sie morgen mit aller Wollust meiner Seele zu geben.

 

Fünfter Sektor oder Ausschnitt

 

Auferstehung

 

Vier Priester stehen im weiten Dom der Natur und beten an Gottes Altären, den Bergen, – der eisgraue Winter mit dem schneeweißen Chorhemd – der sammelnde Herbst mit Ernten unter dem Arm, die er Gott auf den Altar legt und die der Mensch nehmen darf – der feurige Jüngling, der Sommer, der bis nachts arbeitet, um zu opfern – und endlich der kindliche Frühling mit seinem weißen Kirchenschmuck von Blüten, der wie ein Kind Blumen und Blütenkelche um den erhabenen Geist herumlegt und an dessen Gebete alles mitbetet, was ihn beten hört. – Und für Menschenkinder ist ja der Frühling der schönste Priester.

Diesen Blumenpriester sah der kleine Gustav zuerst am Altar. Vor Sonnenaufgang am ersten Junius (unten wars Abend) kniete der Genius schweigend hin und betete mit den Augen und stummzitternden Lippen ein Gebet für Gustav, das über sein ganzes gewagtes Leben die Flügel ausbreitete. Eine Flöte hob oben ein inniges liebendes Rufen an, und der Genius sagte, selber überwältigt: »Es ruft uns heraus aus der Erde, hinauf gen Himmel; geh mit mir, mein Gustav.« Der Kleine bebte vor Freude und Angst. Die Flöte tönet fort – sie gehen den Nachtgang der Himmelleiter hinauf – zwei ängstliche Herzen zerbrechen mit ihren Schlägen beinahe die Brust – der Genius stößet die Pforte auf, hinter der die Welt steht – und hebt sein Kind in die Erde und unter den Himmel hinaus ...... Nun schlagen die hohen Wogen des lebendigen Meers über Gustav zusammen – mit stockendem Atem, mit erdrücktem Auge, mit überschütteter Seele steht er vor dem unübersehlichen Angesicht der Natur und hält sich zitternd fester an seinen Genius .... Als er aber nach dem ersten Erstarren seinen Geist aufgeschlossen, aufgerissen hatte für diese Ströme – als er die tausend Arme fühlte, womit ihn die hohe Seele des Weltall an sich drückte – als er zu sehen vermochte das grüne taumelnde Blumenleben um sich und die nickenden Lilien, die lebendiger ihm erschienen als seine, und als er die zitternde Blume tot zu treten fürchtete – als sein wieder aufwärts geworfnes Auge in dem tiefen Himmel, der Öffnung der Unendlichkeit, versank – und als er sich scheuete vor dem Herunterbrechen der herumziehenden schwarzroten Wolkengebirge und der über seinem Haupt schwimmenden Länder – als er die Berge wie neue Erden auf unserer liegen sah – und als ihn umrang das unendliche Leben, das gefiederte neben der Wolke fliegende Leben, das summende Leben zu seinen Füßen, das goldne kriechende Leben auf allen Blättern, die lebendigen, auf ihn winkenden Arme und Häupter der Riesenbäume – und als der Morgenwind ihm der große Atem eines kommenden Genius schien und als die flatternde Laube sprach und der Apfelbaum seine Wange mit einem kalten Blatt bewarf – als endlich sein belastet-gehendes Auge sich auf den weißen Flügeln eines Sommervogels tragen ließ, der ungehört und einsam über bunte Blumen wogte und ans breite grüne Blatt sich wie eine Ohrrose versilbernd hing .....: so fing der Himmel an zu brennen, der entflohenen Nacht loderte der nachschleifende Saum ihres Mantels weg, und auf dem Rand der Erde lag, wie eine vom göttlichen Throne niedergesunkene Krone Gottes, die Sonne. Gustav rief: »Gott steht dort« und stürzte mit geblendetem Auge und Geiste und mit dem größten Gebet, das noch ein kindlicher zehnjähriger Busen faßte, auf die Blumen hin .....

Schlage die Augen nur wieder auf, du Lieber! Du siehest nicht mehr in die glühende Lavakugel hinein; du liegst an der beschattenden Brust deiner Mutter, und ihr liebendes Herz darin ist deine Sonne und dein Gott – zum ersten Mal sieh das unnennbar holde, weibliche und mütterliche Lächeln, zum ersten Male höre die elterliche Stimme; denn die ersten zwei Seligen, die im Himmel dir entgegengehen, sind deine Eltern. O himmlische Stunde! Die Sonne strahlt, alle Tautropfen funkeln unter ihr, acht Freudentränen fallen mit dem milderen Sonnenbilde nieder, und vier Menschen stehen selig und gerührt auf einer Erde, die so weit vom Himmel liegt! Verhülltes Schicksal! wird unser Tod sein wie Gustavs seiner? Verhülltes Schicksal! das hinter unsrer Erde wie hinter einer Larve sitzet und das uns Zeit lässet, zu sein – ach! wenn der Tod uns zerleget und ein großer Genius uns aus der Gruft in den Himmel gehoben hat, wenn dann seine Sonnen und Freuden unsere Seele überwältigen, wirst du uns da auch eine bekannte Menschenbrust geben, an der wir das schwache Auge aufschlagen? O Schicksal! gibst du uns wieder, was wir niemals hier vergessen können? Kein Auge wird sich auf dieses Blatt richten, das hier nichts zu beweinen und nichts dort wiederzufinden hat: ach wird es nach diesem Leben voll Toter keiner bekannten Gestalt begegnen, zu der wir sagen können: willkommen? ....

Das Schicksal steht stumm hinter der Larve; die menschliche Träne steht dunkel auf dem Grabe; die Sonne leuchtet nicht in die Träne. – Aber unser liebendes Herz stirbt in der Unsterblichkeit nicht und vor dem Angesichte Gottes nicht.

 

Sechster Sektor oder Ausschnitt

 

Gewaltsame Entführung des schönen Gesichts – wichtiges Porträt

 

Das Erstaunen Gustavs, zu dem ihn den ganzen Tag ein Gegenstand nach dem andern anstrengte, und die Entbehrung des Schlafs endigten seinen ersten Himmeltag mit einem Fieberabend, den er würde verweint haben, auch ohne einen Grund. Aber er hatte einen: sein Genius war während des Tumultes im Garten mit einem sprachlosen Kusse von dem Liebling fortgezogen und hatte nichts zurückgelassen als der Mutter ein Blättchen. Er hatte nämlich ein Notenblatt in zwei Hälften zerschnitten; die eine enthielt die Dissonanzen der Melodie und die Fragen des Textes dazu, auf der andern standen die Auflösungen und die Antworten. Die dissonierende Hälfte sollte sein Gustav bekommen; die andere behielt er: »Ich und mein Freund«, sagt' er, »erkennen einmal in der wüsten Welt einander daran, daß er Fragen hat, zu denen ich Antworten habe.« Auch den Pudel, der immer größer wurde, nahm er mit ..... Wo werden wir dich wiedersehen, unbekannter schöner Schwärmer? Du erfährst es nicht, wie dein verwaiseter Zögling abends rufet und schluchzet nach dir, und wie ihm der neue gestirnte Himmel nicht so gefället als seine Stubendecke mit dir, und wie ihm die Lichtkerzen jedes Zimmer zur stillen Höhle ummalen, in der er dich geliebt hatte und du ihn.