Das ist der Grund, daß ich sie noch nicht habe.“

„Aber Mann! Die Medizin wird gebraucht!“

„Das ist sehr wahrscheinlich! Aber ich habe kein Geld. Herr Doktor, Sie sind ja Knappschafts- und Armenarzt. Könnten Sie es denn nicht befürworten, daß die Medizin umsonst oder doch wenigstens auf Kredit erhalte?“

Der Arzt zuckte die Achsel, lächelte überlegen und antwortete:

„Ja, freilich kann ich das! Es ist sogar meine Pflicht, dies zu tun, mein Bester.“

„Dann bitte ich recht herzlich um ihre Fürsprache!“

„Gern, sehr gern! Aber haben Sie mit Herrn Seidelmann bereits darüber gesprochen?“

Das Gesicht Wilhelmis verdüsterte sich, und seine Lippen preßten sich zusammen.

„Ja“, antwortete er.

„Was sagte er?“

„Was er zu dem Schreiber Beyer gesagt hatte, als dieser wegen seiner kranken Frau mit ihm redete.“

„Das weiß ich nicht auswendig.“

„Er will es nicht leiden, daß seine Angestellten sich an den Armenarzt wenden.“

„Das Recht dazu ist ihm nicht abzusprechen. Sie sind als Musterzeichner bei ihm angestellt.“

„So mag er mich doch so bezahlen, daß ich mich nicht nach Unterstützung umzusehen brauche!“

„Suchen Sie sich andere Arbeit!“

„Ich habe nichts anderes gelernt.“

„So zeichnen Sie für einen andern!“

„Gibt es hier einen?“

„Dann würde ich an Ihrer Stelle mich weiter wenden!“

„Das geht nicht. Das Fortziehen kostet Geld, und ein anderer wird mir keine Arbeit geben. Dafür sorgt Herr Seidelmann!“

Sein von der Not und Sorge fast abgezehrtes Gesicht hatte einen starren Ausdruck angenommen. Er war jedenfalls ein ganz braver Mann, aber unter den Erfahrungen, welche er gemacht hatte, war er verschlossen und verbittert geworden.

„Nun, so entscheiden Sie!“ meinte der Arzt. „Soll ich Sie als Hilfsbedürftigen melden?“

„Dann bekomme ich keine Arbeit mehr!“

„Nun, so lassen Sie sich von Herrn Seidelmann einen kleinen Vorschuß geben!“

„Den erhalte ich nicht. Er hat mir bereits zwei Gulden geborgt!“

„Dann kann ich Ihnen auch nicht helfen! Wie steht es mit dem Essen? Ist Appetit da?“

„Nicht nur Appetit, sondern sogar Hunger!“

„Was haben die Kranken genossen?“

„Seit vorgestern zwei solche Brötchen.“

Er zog den Tischkasten auf und nahm ein hartes, altes Dreierbrötchen heraus.

„Zwei? Vier Personen?“

„Ja. Ich hatte nicht mehr.“

„Sie haben ja noch eins!“

„Mein letztes; weiter habe ich nichts. Es ist für heute. Jeden Tag ein Dreierbrötchen, in Wasser aufgeweicht.“

„Hm! Und was speisen Sie?“

Der Mann wendete sich ab und warf den starren Blick zum Fenster hinaus.

„Nichts!“ sagte er.

„Aber Sie müssen doch etwas essen!“

„Eigentlich, ja. Ich werde noch die ganze folgende Nacht arbeiten. Morgen früh habe ich die Muster fertig und erhalte acht Gulden heraus. Dann werden wir einmal essen können.“

Der Arzt schüttelte den Kopf.

„Ich begreife solche Verhältnisse nicht“, sagte er. „Vierzehn Tage nichts, und dann auf einmal acht ganze Gulden! Es muß doch am Mangel an richtiger Einteilung, an Wirtschaftlichkeit liegen.“

Er bückte sich zu dem neben der Frau liegenden Kind nieder.

„Sapperment!“ sagte er. „Das ist ja tot!“

Der Musterzeichner griff sich mit der Hand nach dem Herzen.

„Ja!“ stieß er hervor.

„Wann ist es gestorben?“

„Vor zwei Stunden.“

„Hm! Lassen Sie einmal sehen!“

Er nahm seinen Stock, betastete mit demselben die Pockenkruste, welche das Gesichtchen der kleinen Leiche dick bedeckte, und sagte dann im schärfsten Ton:

„Herr Wilhelmi, ich bin gezwungen, Sie anzuzeigen!“

Der Mann warf ihm einen Blick zu, in welchem ein greller, feindseliger Blitz aufloderte, fragte aber in scheinbar ganz ruhigem Ton:

„Mich anzeigen? Warum?“

„Das Kind ist keines natürlichen Todes gestorben!“

„Ah! So!“

„Ja. Es ist vernachlässigt worden.“

„Von wem?“

„Von Ihnen natürlich. Es ist erstickt und verhungert.“

„Herr Doktor, können Sie das beweisen?“

„Jawohl! Die Kruste bedeckt den Mund und das Näschen über einen Zoll hoch. Sie mußten dafür sorgen, daß Öffnung geschafft wurde.“

„Ist das wirklich meine Pflicht gewesen?“

„Natürlich!“

„Sie meinen, daß ich den Schnitt hätte vornehmen sollen?“

„Sie? Was verstehen Sie davon! Sie hätten jedenfalls daneben geschnitten.“

„Nun wohl! Ich habe nicht weniger als fünfmal zu Ihnen geschickt, und einmal bin ich selbst bei Ihnen gewesen.“

„Ich war nicht daheim.“

„Ich habe Ihre Frau Gemahlin von dem Stand der Dinge benachrichtigt. Sie haben mir durch dieselbe sagen lassen, daß Sie kommen würden, wenn es nötig sei.“

„Ich konnte nicht wissen, daß es so sehr dringlich sei.“

„Ich habe Ihrer Frau Gemahlin mitgeteilt, daß das Leben des Kindes auf dem Spiel steht.“

„Jeder, der zu mir kommt, pflegt seine Angelegenheit so schlimm wie möglich darzustellen. Wenn man dem glauben wollte, würde man in einem Monat totgehetzt!“

„Nun, so lassen wir lieber einen Patienten sterben.“

„Übrigens gibt es mehrere Ärzte.“

„Die ich aber nicht gesetzlich zwingen kann, zu mir zu kommen. Ich war bei allen, doch vergebens. Wer nun ist der Mörder meines Kindes?“

„Das ist eine sehr müßige Frage! Haben Sie den Todesfall bereits gemeldet?“

„Ich war bei der Leichenfrau.“

„Sie wird doch bald kommen? Die Leiche darf nicht hier liegen bleiben! Sie muß fort!“

„Gewiß muß sie fort. Ich habe bereits eine alte Kiste ausgeräumt.“

Der Arzt blickte den Mann fragend an.

„Eine alte Kiste? Wozu?“

„Als Sarg.“

„Was? Sie wollen das Kind in einer Kiste begraben lassen?“

„Ja. Ich kann keinen Sarg bezahlen.“

„Der Tischler wird Ihnen Kredit geben.“

„Ich kann ihn nicht darum bitten, denn ich weiß, daß er ebenso arm ist wie ich, und daß ich den Sarg später ebensowenig bezahlen kann, wie jetzt. Das Begräbnis wird auch ohnedies die acht Gulden, welche ich morgen erhalte, auffressen. Zu allem Elend des Lebens kommt der Schluß, daß man nicht einmal umsonst sterben darf!“

„Sie sind ein Welt- und Menschenfeind!“

„Ich bin es nicht, und wenn ich es wäre, so hätte ich alle Ursache dazu, es zu sein. Aber bitte, Herr Doktor, sehen Sie die beiden anderen Kinder an. Auch sie können kaum noch atmen.