Wird keine Öffnung gemacht, so ersticken auch sie.“

Doktor Werner zog die Brauen zusammen. Mit Blatternkranken hatte er gar nicht gern etwas zu tun. Aber eins der Kinder war, weil er nicht gekommen war, bereits gestorben; er sah ein, daß er gezwungen sei, seine Pflicht zu tun.

„Kommen Sie her, und halten Sie die Patienten!“ befahl er. „Ich werde den Schnitt vornehmen.“

Der Musterzeichner gehorchte. Er brachte die beiden Kinder in die passende Lage, und der Arzt, welcher keines von ihnen mit der Hand berührte, machte ihnen mit dem Messer einen Schnitt durch die Kruste, so daß der Zutritt der Luft zum Mund ermöglicht wurde. Dabei aber war ihm anzusehen, mit welchem Abscheu er diese Operation eigentlich unternahm.

„Vor zwei Stunden wäre es hier auch noch Zeit gewesen“, sagte Wilhelmi, indem er auf die Leiche deutete.

„Ich hatte keine Zeit und bin nicht allwissend“, antwortete Doktor Werner barsch. „Nun aber haben diese beiden nicht nur Luft, sondern sie verlangen auch Nahrung.“

„Wie aber sollen sie diese zu sich nehmen? Sie haben auch den Mund voller Pocken.“

„Sie binden ein Stück Darm an eine Federspule. Die Spule wird den Patienten in den Mund gesteckt, und in den Darm gießen Sie die Milch.“

„Also Milch?“

„Ja, und Bouillon!“

„Schön! Bouillon!“ nickte der Musterzeichner grimmig vor sich nieder. „Vielleicht von Fleischextrakt?“

„Ja. Doch müssen Sie dabei auch einige Bouillonknochen mit verwenden.“

„Bouillonknochen! Ja, ja! Gut! Schön!“

„Und ganz notwendig ist die Medizin! Die müssen Sie unbedingt holen. Die Frau bekommt zweistündlich einen Eßlöffel voll und jedes Kind halb so viel.“

„Dann ist beim dritten Mal Einnehmen die Medizin für anderthalb Gulden alle geworden.“

„So holen Sie eine zweite Flasche.“

Jetzt konnte sich der arme Teufel nicht mehr halten. Er fragte:

„Nicht wahr, in der Löwenapotheke soll ich sie holen.“

„Natürlich! Dort ist sie besser als in der Mohrenapotheke.“

„Der Mohrenapotheker aber sagt, daß Sie nur deshalb Ihre Patienten in die Löwenapotheke schicken, weil Sie dort dreiunddreißig Prozent von dem Preis Ihrer Rezepte Anteil erhalten.“

Der Arzt fuhr zornig auf.

„Was? Das hat er behauptet?“

„Ja.“

„Zu wem?“

„Zu mir und zu den anderen. Verklagen Sie ihn, wenn es nicht wahr ist! Ich bin bereit, Ihnen zu zeugen.“

„Pah! Mit einem solchen Menschen streite ich mich nicht an einer Gerichtsstelle herum! Eine solche niederträchtige Verleumdung wird durch sich selbst gerichtet. Ich werde nächstens wiederkommen. Adieu!“

Er ging.

Der Musterzeichner trat an das zugefrorene Fenster, hauchte eine Öffnung in das Eis und blickte ihm nach. Es war ihm ganz so, als müsse er sich durch einen lauten, wilden Schrei Luft machen. Er faltete ganz unwillkürlich die Hände.

„Herr, hilf uns! Wir verderben!“

Dieses Stoßgebet wollte sich ihm auf die Lippen drängen, aber er schluckte es wieder hinab. Früher hatte er gebetet, ja; dann aber hatte er es verlernt. Im tiefen Schlamm des Elends steckend, hatte er sich vergeblich nach Hilfe umgeschaut, und da war ihm der Glaube an Gott und die Menschen verlorengegangen. So wenigstens dachte er. Er hielt es nicht für wahr, daß dieser Glaube eigentlich unveräußerlich sei.

Da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Seine alte Schwiegermutter war zu ihm getreten. Sie war eine fromme Frau und eine gute Mutter. Sie hatte mit ihm gehungert, gelitten und gefroren, und stets hatte sie ein Trostwort für ihn gehabt. Sie kannte ihn. Sie wußte, was in ihm vorging. Sie hatte das alte, halb zerfetzte Gesangbuch in der Hand, hielt ihm ohne ein Wort zu sagen, eine aufgeschlagene Seite entgegen und deutete mit dem hageren, abgezehrten Finger auf die Stelle:

„Gott, unser Heil, ach wende
Der Zeiten schweren Lauf;
Tu deine milden Hände,
Den Schatz der Allmacht auf!
Was nur ein Leben hat,
Nährst du mit Wohlgefallen.
Oh, schaffe doch uns allen
In unserer Armut Rat!“

„Was soll das?“ fragte er. „Kann das alte Buch uns denn Hilfe bringen?“

„Weiter!“ sagte sie, indem sie mit dem Finger nach unten zeigte:

„Herr, der du auch uns schufest,
Hör unser Angstgeschrei!
Allmächtiger, du rufest
Dem Nichts, damit es sei.
Zu Helfen ist dir leicht;
Du kannst dem Hunger wehren,
Im Mangel uns ernähren,
Wenn's uns unmöglich deucht!“

Er stieß ihre Hand mit dem Buch zurück und sagte:

„Ich fragte, ob dieses Buch uns Hilfe bringen kann?“

„Das Buch nicht, aber wohl der, von dem darin die Rede ist.“

„Gott etwa?“

„Ja.“

„Pah! Der wird sich viel um uns bekümmern!“

„Mein Sohn, versündigen Sie sich nicht! Er ließ Elias durch die Raben speisen; er sättigte Tausende mit fünf Broten und zwei Fischen, darum –“

„Lassen Sie, Mutter, lassen Sie!“ fiel er ihr in die Rede. „Ich wäre ganz froh, wenn ich jetzt nur ein Brot hätte, und auf die Fische verzichte ich von vornherein. Haben Sie gehört, was der Doktor verlangte?“

„Ja.“

„Milch, Bouillon, Fleischextrakt, Knochen, Medizin! Wissen Sie, wieviel Geld ich habe?“

„Wohl keins!“

„Keinen Kreuzer! Alles fehlt, alles! Holz, Kohlen, Licht! Und doch brauche ich das letztere, um nächste Nacht arbeiten zu können.