Der Mann schwor, keinen Schuß und auch keinen Schrei von seinem Herrn gehört zu haben. Es regnete zu dem Zeitpunkt, und im Bois befanden sich nur wenige Spaziergänger.
(Es folgten noch zehn weitere Fälle, die alle mit den angeführten Ähnlickeit hatten - einschließlich der Fälle von Trelovitch und Le Bois.)
Es war ganz zweifellos eine gewaltige Geschichte.
Der Chefredakteur saß in seinem Büro, las sie noch einmal durch und wiederholte: »Wirklich sehr gut.«
Der Reporter - sein Name war Smith - las sie ebenfalls noch einmal, und das Ergebnis seiner Leistung erfüllte ihn mit Stolz.
Der Außenminister las sie im Bett, während er seinen Morgentee trank und überlegte stirnrunzelnd, ob er wohl zuviel gesagt hatte.
Der französische Polizeichef las sie - übersetzt und telegrafisch durchgegeben - in der Le Temps und verfluchte wütend den geschwätzigen Engländer, der seine Pläne durcheinanderbrachte.
In Madrid las im ›Cafe de la Paix‹ auf dem Plaza del Sol Manfred - lächelnd, zynisch und sarkastisch - den drei Männern Auszüge aus dem Artikel vor. Zwei von ihnen schienen sich angenehm zu amüsieren, dem dritten war die Kinnlade heruntergeklappt; sein Gesicht war käsweiß, und in seinen Augen stand Todesfurcht.
2
Irgend jemand - war es Mr. Gladstone? - hat aktenkundig werden lassen, daß es nichts so Gefährliches, nichts so Wütendes und nichts so Erschreckendes gibt wie ein wildes Schaf. Ähnlich ist, wie wir wissen, keine Person so indiskret, so lächerlich geschwätzig und so erstaunlich taktlos wie ein Diplomat, der aus irgendeinem Grund aus dem Gleis geworfen ist.
Es kommt ein Moment, da für diesen Mann - der sich selbst dazu erzogen hat, im Rat der Nationen seine Zunge im Zaum zu halten, und der es gelernt hat, wachsam den geschickt aufgestellten Fallen befreundeter Mächte auszuweichen - die Vorschriften und Gewohnheiten von vielen Jahren vergessen sind, und er sich nur noch menschlich benimmt.
Warum dies so ist, wurde von gewöhnlichen Sterblichen nie erforscht, obschon einige Psychologen, die die psychischen Prozesse ihrer Mitmenschen gewöhnlich erklären können, zweifellos sehr adäquate und überzeugende Gründe für dieses Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten anfuhren.
Sir Philip Ramon war ein sehr eigentümlicher Mensch. Ich bezweifle, daß es irgend etwas auf der großen Welt geben könnte, das ihn von einem Vorhaben abhielte, zu dem er sich einmal durchgerungen hat. Er hatte Charakterstärke, war ein entschlossener Mann mit kantigen Zügen, großmäulig und mit jener gewissen Blauschattierung der Augen, die man bei besonders herzlosen Verbrechern und besonders berühmten Generälen antrifft.
Und doch fürchtete Sir Philip Ramon - wie es sich nur wenige Menschen vorstellen konnten - die Konsequenzen der Aufgabe, die er sich gestellt hatte.
Es gab Tausende von Menschen, die physisch Helden und moralisch Feiglinge waren, die dem Tod ins Gesicht lachten und in Angst vor persönlichen Schwierigkeiten lebten. Untersuchungsrichter lauschen täglich den Lebens- und den Sterbegeschichten solcher Menschen.
Der Außenminister verkehrte all diese Eigenschaften ins Gegenteil. Brutale Menschen hätten den Minister, ohne zu zögern, als einen Feigling beschrieben - denn er fürchtete sowohl Schmerzen als auch den Tod.
»Wenn Ihnen diese Geschichte so viel Angst macht«, sagte der Premierminister zwei Tage nach der Veröffentlichung der Story im Megaphone während der Kabinettssitzung freundlich zu ihm, »warum lassen Sie dann den Gesetzentwurf nicht einfach unter den Tisch fallen? Schließlich gibt es wichtigere Angelegenheiten, mit denen sich das Parlament beschäftigen kann. Und wir nähern uns dem Ende der Sitzungsperiode.«
Ein beifälliges Gemurmel machte die Runde.
»Wir haben eine gute Entschuldigung, die Sache fallenzulassen. Es wird zu einem entsetzlichen Überbordwerfen von Gesetzesvorlagen kommen. Auch Braithwaites Gesetzentwurf für die Arbeitslosen muß vom Tisch. Und weiß der Himmel, was das Land dazu sagen wird.«
»Nein, nein!« Der Außenminister ließ krachend eine Faust auf den Tisch fallen. »Es soll verabschiedet werden. Das ist mein fester Entschluß. Wir brechen sonst unser Wort der Cortes gegenüber, wir brechen es Frankreich gegenüber - kurzum, wir brechen sonst unser Wort jedem Land der ›Union‹ gegenüber. Ich habe das Versprechen abgegeben, diese Verfügung durchzubringen. Wir müssen die Sache bis zum Ende durchstehen, selbst wenn es Tausende von Gerechten und Tausende von Drohungen geben sollte.«
Der Premierminister hob die Schultern.
»Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, Ramon«, bemerkte Bolton, der Kronanwalt, »aber ich habe so das Gefühl, daß es ziemlich indiskret von Ihnen war, der Presse all diese Einzelheiten mitzuteilen. Ja, ja, ich weiß, wir waren übereingekommen, Ihnen freie Hand bei der Abwicklung der Angelegenheit zu lassen, aber irgendwie hatte ich nicht gedacht, daß Sie - nun, wie soll ich sagen? - daß Sie so offenherzig sein würden.«
»Meine Diskretion in dieser Affäre ist kein Thema, das ich jetzt zu diskutieren wünsche, Sir George«, erwiderte Ramon steif.
Als der Kronanwalt etwas später mit dem jugendlich aussehenden Schatzkanzler über den Palace Yard schritt, bemerkte er, ob der Abkanzlung verletzt, plötzlich unvermittelt: »Dummer alter Esel!«
Und der jugendliche Hüter der britischen Finanzen lächelte.
»Um die Wahrheit zu sagen - Ramon hat mordsmäßig Schiß«, meinte er. »Die Geschichte von den ›Vier Gerechten‹ macht schon in allen Klubs die Runde. Ein Mann, den ich zum Lunch im ›Carlton‹ traf, hat mich ziemlich überzeugt, daß wirklich etwas zu befürchten ist. Er klang äußerst ernst. War soeben erst aus Südamerika zurückgekehrt und hatte einiges gesehen, was auf das Konto dieser Männer geht.«
»Was, zum Beispiel?«
»War wohl ein Präsident oder so was von einer dieser kleinen korrupten Republiken... Etwa vor acht Monaten. Er steht auf der Liste. Sie haben ihn gehängt. Eine höchst außergewöhnliche Geschichte. Sie haben ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt, haben ihn geknebelt, ihm die Augen verbunden, ihn zum Gefängnis geschleppt, wurden eingelassen, haben ihn auf dem öffentlichen Richtplatz gehängt - und sind entkommen!«
Der Kronanwalt begriff, wie schwierig ein solches Vorgehen sein mußte, und wollte sich eben eingehender erkundigen, als ein Staatssekretär den Schatzkanzler abfing und ihn fortführte.
»Absurd«, murmelte der Kronanwalt ärgerlich.
Man jubelte dem Außenminister zu, als seine Karosse durch die Menge rollte, die die Auffahrt zu seinem Haus säumte. Er war in keiner Weise begeistert, denn Popularität war nicht gerade das, was er sich ersehnte. Instinktiv wußte er, daß man ihm nur zujubelte, weil die Öffentlichkeit die Gefahr erkannt hatte, in der er schwebte; und dieses Wissen ließ ihn frösteln und ärgerte ihn zugleich.
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