Sein Tonfall gewann große Sicherheit:
»Einigen Bürgern meiner Heimat, darunter auch mir, wurden heute die Pässe abgenommen. Handelt es sich um eine Verfügung Ihrer Behörde? Wissen Sie von ihr?«
Der Müdir brachte durch längeres Nachdenken und In-den-Akten-Blättern zum Ausdruck, daß er bei der Fülle seiner Obliegenheiten nicht jede Kleinigkeit sofort gegenwärtig haben könne. Endlich ging ihm ein Licht auf:
»Ach ja! Gewiß! Die Indlandpässe! Es handelt sich hiebei nicht um eine selbständige Verfügung der Kasah, sondern um einen Erlaß Seiner Exzellenz des Herrn Ministers des Inneren.«
Nun hatte er ein bedrucktes Blatt gefunden und legte es vor sich hin. Er schien bereit zu sein, den Erlaß des Ministers Taalat Bey, sollte es gewünscht werden, vollinhaltlich vorzulesen. Gabriel erkundigte sich, ob hier eine allgemeine Maßnahme vorliege. Die Antwort klang ein wenig ausweichend. Die breiten Volksmassen seien kaum betroffen, da sich zumeist nur die reicheren Kaufleute, Händler und ähnliche Persönlichkeiten im Besitze von Inlandpässen befänden. Bagradian starrte auf die langen Fingernägel des Müdirs:
»Ich habe mein Leben im Ausland, in Paris zugebracht.«
Der Beamte neigte wieder leicht den Kopf:
»Es ist uns bekannt, Effendi.«
»Ich bin daher an Freiheitsberaubungen nicht sehr gewöhnt …«
Der Müdir lächelte mit Nachsicht:
»Sie überschätzen diese Sache, Effendi. Wir haben Krieg. Übrigens müssen sich heutzutage auch die deutschen, französischen, englischen Staatsbürger in mancherlei fügen, woran sie nicht gewöhnt waren. In ganz Europa ist es jetzt nicht anders als bei uns. Ich bitte ferner zu bedenken, daß wir uns hier im Etappengebiet der vierten Armee, also im Kriegsbereich befinden. Eine gewisse Aufsicht über den Verkehr ist unbedingt geboten.«
Diese Gründe waren so einleuchtend, daß Gabriel Bagradian Erleichterung empfand. Das Ereignis des heutigen Morgens, das ihn nach Antiochia gejagt hatte, verlor auf einmal seine Schärfe. Der Staat mußte sich schützen. Immer wieder hörte man von Spionen, Verrätern, Deserteuren. Aus der Winkelperspektive von Yoghonoluk konnte man Maßregeln wie diese gar nicht beurteilen. Auch die weiteren Hinweise des Müdirs waren danach angetan, die mißtrauische Unruhe des Armeniers zu beschwichtigen. Der Minister habe zwar die Pässe eingezogen, das bedeute aber nicht, daß in berücksichtigungswerten Fällen neue Dokumente nicht ausgestellt werden könnten. Die zuständige Behörde dafür sei das Vilajet in Aleppo. Bagradian Effendi wisse wohl selbst, daß Seine Exzellenz, der Wali Djelal Bey, der gütigste und gerechteste Gouverneur des ganzen Reiches sei. Eine diesbezügliche Eingabe würde, von hier aus wohlempfohlen, nach Aleppo weitergeleitet werden. Der Müdir unterbrach sich:
»Wenn ich nicht irre, Effendi, stehn Sie im Militärverhältnis …«
Gabriel berichtete knapp über die Sachlage. Noch gestern vielleicht hätte er den Beamten gebeten, Nachforschungen darüber anzustellen, warum seine Einberufung nicht erfolge. Seit einigen Stunden aber war alles grundlegend verändert. Der Gedanke an den Krieg, an Juliette und Stephan bedrückte ihn tief. Sein Pflichtgefühl als türkischer Offizier schmolz zusammen. Jetzt hoffte er, daß man ihn beim Kader in Aleppo vergessen habe. Er dachte nicht daran, sich bemerkbar zu machen. Es fiel ihm aber auf, wie wohlunterrichtet die Behörde in Antiochia über alles war, was ihn betraf.
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