Die entzündeten Augen des Müdirs sandten ihm einen befriedigten Blick zu:
»Nun also, Sie sind Militärperson, im Stande der Beurlaubung gewissermaßen. Ein Teskeré kommt somit für Sie gar nicht in Betracht.«
»Aber meine Frau und mein Sohn …«
Bei diesen für den Müdir unklaren Worten hatte Gabriel zum erstenmal das würgende Gefühl: Wir sind in einer Falle. Im selben Augenblick öffnete sich die Doppeltür in das Nebenzimmer. Zwei Herren traten ein. Der eine, ein älterer Offizier, der andere zweifellos der Kaimakam. Der Provinz-Statthalter war ein großer, aufgeblähter Mann in einem grauen, knittrigen Gehrock. Schwere, schwarzbraune Augensäcke hingen in dem fahlen und schlaffen Gesicht eines Leberkranken. Bagradian und der Müdir erhoben sich. Der Kaimakam schenkte dem Armenier nicht die geringste Beachtung. Mit leiser Stimme gab er seinem Untergebenen irgend einen Auftrag, hob die Hand nachlässig an den Fez und verließ, von dem Major gefolgt, die Kanzlei, denn sein Tagewerk schien beendet zu sein. Gabriel starrte auf die Ausgangstür:
»Wird ein Unterschied zwischen Offizier und Offizier gemacht?«
Der Müdir begann seinen Schreibtisch in Ordnung zu bringen.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Effendi?«
»Ich meine, gibt es zweierlei Behandlung für Türken und Armenier?«
Der Müdir schien durch diese Frage auf das Äußerste entsetzt zu sein:
»Vor dem Gesetz ist jeder ottomanische Staatsbürger gleich.«
Dies sei, so fuhr er fort, die wichtigste Errungenschaft der Revolution von 1908. Daß sich einige Gewohnheiten der Vorzeit erhalten hätten, darunter etwa die Bevorzugung des osmanischen Staatsvolkes im öffentlichen und militärischen Dienst, das gehöre zu jenen Erscheinungen, die man von Amts wegen nicht abschaffen könne. Völker verändern sich nicht so schnell wie Verfassungen, und Reformen werden auf dem Papier schneller durchgeführt als in Wirklichkeit. Und er schloß seine staatspolitischen Ausführungen:
»Der Krieg wird in allen Belangen Wandel schaffen.«
Gabriel faßte diese Worte als eine günstige Prophezeiung auf. Der Müdir aber warf plötzlich sein sommersprossenbraunes Gesicht zurück, das sich ohne jeden Grund gehässig verzerrte:
»Hoffentlich zwingen keine Vorkommnisse die Regierung dazu, gewissen Bevölkerungsteilen ihre unnachsichtige Strenge zu zeigen.«
Als Gabriel Bagradian in die Bazarstraße von Antiochia einbog, hatte er zwei Dinge beschlossen: Erstens, im Falle seiner Einberufung kein Opfer zu scheuen, um sich vom Militärdienst loszukaufen. Und zweitens in der friedlichen Stille des Hauses von Yoghonoluk das Ende des Krieges abzuwarten, unbemerkt und ungestört. Da man doch schon im Frühjahr 1915 stand, konnte es sich ja nur mehr um ein paar Monate bis zum allgemeinen Waffenstillstand handeln. Er rechnete mit September oder Oktober. Einen neuen Winterfeldzug würde keine der Parteien mehr wagen. Bis dahin mußte man sich einrichten, so gut es ging, um dann so schnell wie möglich nach Paris heimzukehren.
Der Bazar riß ihn mit. Jener dichte Strom, der keine Hast, kein Zu- und Abnehmen kennt wie der Verkehr in europäischen Städten, sondern sich im unwiderstehlichen Gleichtakt dahinwälzt, so wie die Zeit in die Ewigkeit. Man hätte sich nicht in die gottverlassene Provinzstadt Antakje, sondern nach Aleppo oder Damaskus versetzt glauben können, so unerschöpflich fluteten die beiden Gegenzüge des Bazars aneinander vorbei. Türken in europäischer Kleidung, mit Spazierstöcken und steifen Kragen, den Fez auf dem Kopf, Kaufleute und Beamte. Armenier, Griechen, Syrer, auch sie an der abendländischen Gewandung kenntlich, jedoch mit unterschiedlicher Kopfbedeckung. Dazwischen immer wieder Kurden und Tscherkessen in ihren Trachten. Die meisten von ihnen trugen Waffen zur Schau. Denn die Regierung, die bei den christlichen Völkern jedes Taschenmesser mißtrauisch betrachtete, duldete bei den unruhigen Bergstämmen moderne Infanteriegewehre, ja beschenkte sie sogar mit solchen. Arabische Bauern aus der Umgebung. Auch einige Beduinen aus dem Süden, im langen faltenreichen Mantel, wüstenfarben, mit prächtigem Tarbusch, von dem die seidenen Quasten über die Schultern hingen. Frauen im Tscharschaff, dem züchtigen Gewand der Moslemin.
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