War jedoch der alte Awetis Bagradian ehemals etwas andres und besseres gewesen als solch ein Bazarhändler, wenn auch weitblickender, begabter, energischer? Und hatte er es nicht dem Großvater allein zu verdanken, daß er nicht so sein mußte, wie dieser und wie jene hier? Er ging, von Widerwillen geschüttelt, weiter. Dabei wurde es ihm bewußt, daß eine große Schwierigkeit seines Lebens in dem Umstand lag, daß er manches schon mit den Augen Juliettens sah. Er war also nicht nur in der Welt, sondern auch in sich selbst ein Fremder, sobald er mit den Menschen in Berührung kam. Jesus Christus, konnte man denn nicht ein Mensch an sich sein? Frei von diesem schmutzigen feindlichen Gewimmel, wie heute morgen auf dem Musa Dagh?
Nichts war entnervender als solch eine Probe auf die eigene Wirklichkeit! Gabriel floh den Usun Tscharschy, den langen Markt, wie der Bazar im Türkischen hieß. Den feindseligen Rhythmus konnte er nicht länger ertragen. Dann stand er auf einem kleinen, von neueren Bauten gebildeten Platz. Ein hübsches Gebäude trat hervor, Hamam, das Dampfbad, wie überall in der Türkei mit einiger Verschwendung errichtet. Es war noch zu früh für den Besuch beim alten Agha Rifaat Bereket. Da es ihn auch nicht gelüstete, in eines der zweifelhaften Speisehäuser einzukehren, trat er in das Badehaus.
Zwanzig Minuten verbrachte er in der großen allgemeinen Schwitzhalle, in dem langsam steigenden Gewölk, das nicht nur die Körper der anderen Badenden gespenstisch entfernte, sondern auch seinen eigenen Leib von ihm selbst fortzutragen schien. Es war wie ein kleiner Tod. Er fühlte die undurchsichtige Bedeutung dieses Tages. Die Tropfen rannen an seinem fernen Körper hinab und mit ihnen ein mühsamer Glaube, an dem er bisher festgehalten hatte.
Im kühlen Nebenraum legte er sich auf eine der leeren Pritschen, um sich der üblichen Behandlung anheimzugeben. Ihm war, als sei er jetzt nackter, wenn man das sagen darf, als vorhin im Dampf. Ein Badeknecht warf sich auf ihn und begann nach allen Regeln der Kunst, die wirklich eine war, sein Fleisch zu kneten. Mit trillernden Schlägen spielte er auf seinem Rumpf wie auf einem Zymbal. Zu dieser Begleitung summte er keuchend. Auf den Nachbarpritschen wurden einige türkische Beys in ähnlicher Weise bearbeitet. Sie schickten sich mit wohligen Wehlauten in den zornigen Eifer der Badeknechte. Zwischeninne – von jenen Schmerzlauten unterbrochen – führten die Stimmen in abgerissenen Sätzen eine Unterhaltung. Gabriel wollte zuerst gar nicht hinhorchen. Aber durch das Summen des Quälgeistes hindurch drängten sich die Stimmen seinen Ohren unabweisbar auf. Sie waren so überaus persönlich und so scharf voneinander unterschieden, daß Gabriel diese Stimmen zu sehn vermeinte.
Die erste, ein fetter Baß. Zweifellos ein selbstbewußter Charakter, der den größten Wert darauf legte, alles zu wissen, was vorging, womöglich noch vor den zuständigen Beamten. Dieser Mann der Informiertheit besaß seine heimlichen Quellen:
»Die Engländer haben ihn in einem Torpedoboot von Zypern an die Küste geschickt … Bei Oschlaki war das … Der Mann hat Geld und Gewehre gebracht und sieben Tage das Dorf aufgewiegelt … Die Saptiehs haben natürlich von nichts gewußt … Ich kenne sogar den Namen … Köschkerian heißt das unreine Schwein …«
Die zweite Stimme, hoch und ängstlich. Ein älteres, friedfertiges Männchen gewiß, das sich sträubt, an das Böse zu glauben. Diese Stimme hatte gewissermaßen einen kleineren Wuchs als die anderen und sah zu ihnen auf. Für ihre lustvollen Schmerzlaute benützte sie den erhabenen Vers des Korans als unterlegten Text:
»La ilah ila ’llah … Gott ist groß … Das geht ja nicht … Vielleicht aber ist es nicht wahr … la ilah ila ’llah … Man redet sehr viel … Es wird auch nur ein Gerede sein …«
Der fette Baß, verachtungsvoll:
»Ich besitze sehr ernste Briefe einer hohen Persönlichkeit … eines treuen Freundes …«
Dritte Stimme. Ein schnarrender Scharfmacher und politischer Kannegießer, dem es rechte Freude zu machen schien, wenn es auf der Welt drunter und drüber ging:
»Das kann man sich nicht länger gefallen lassen … Es muß ein Ende gemacht werden … Wo bleibt die Regierung? … Wo bleibt Ittihad? … Das Unglück ist die Wehrpflicht … Man hat das Pack noch bewaffnet … Jetzt sehet zu, wie ihr mit ihnen fertig werdet … Der Krieg … Ich rede mir schon seit Wochen die Lunge aus dem Leib …«
Vierte Stimme, sorgenbeschwert:
»Und Zeitun?«
Das friedfertige Männchen:
»Zeitun? Wie das? … Allmächtiger? … Was gibt es denn in Zeitun?«
Der Scharfmacher, bedeutungsvoll:
»In Zeitun? … Die Nachricht ist in der Lesehalle des Hükümet angeschlagen … Jeder kann sich überzeugen …«
Der informierte Baß:
»In diesen Lesehallen, welche die deutschen Konsuln überall eingeführt haben …«
Von der entferntesten Pritsche her unterbrach eine fünfte Stimme:
»Die Lesehallen haben wir selbst eingeführt.«
Ein dunkler Rauch von unverständlichen Anspielungen:
»Köschkerian … Zeitun … Es muß ein Ende gemacht werden.« Gabriel aber verstand, ohne die Einzelheiten zu verstehen. Während der Badeknecht die Fäuste in seine Schultern bohrte, drangen ihm die Türkenstimmen überlaut in die Ohren wie Wasser. Peinliche Scham! Er, der noch vor kurzer Zeit mit Blicken des Widerwillens an den armenischen Händlern des Bazars vorübergegangen war, fühlte sich nun verantwortlich und in das Schicksal dieses Volkes hineinverwickelt.
Der Herr auf der entferntesten Pritsche hatte sich indessen ächzend erhoben.
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