Er raffte seinen Burnus, der als Bademantel dient, und machte auf Watschelfüßen ein paar Schritte in den Raum. Gabriel konnte nur sehn, daß er sehr groß und dick war. Seine Art, zusammenhängend zu reden, und die Art der anderen, ihn widerspruchslos anzuhören, ließ darauf schließen, daß man einen Hochmögenden vor sich hatte:
»Man tut der Regierung unrecht. Politik läßt sich nicht mit Ungeduld allein machen. Die Verhältnisse liegen ganz anders als sich die Unwissenden im Volke einbilden. Verträge, Kapitulationen, Rücksichten, das Ausland! Ich kann aber den Beys vertraulich mitteilen, daß vom Kriegsministerium, von seiner Exzellenz Enver Pascha selbst, Befehle an die Militärbehörden ergangen sind, melun ermeni millet (die verräterische Armeniernation) zu entwaffnen, das heißt die Eingerückten aus dem Liniendienst zurückzunehmen und nur zu niedriger Arbeit zu verwenden. Straßenbau oder Lasttragen. Dies ist die Wahrheit! Doch es soll von ihr nicht gesprochen werden.«
Das darf ich nicht hinnehmen, das kann ich nicht dulden, sagte sich Gabriel Bagradian. Leise mahnte die Gegenstimme: Du bist selbst der Verfolgte. Eine dunkle Kraft aber, die ihn von der Pritsche hob, entschied diesen Kampf. Er schüttelte den Badeknecht ab und sprang auf die Steinfliesen. Mit dem weißen Tuch verhüllte er sich um die Hüften. Das zornglühende Gesicht mit dem durch das Bad verwirrten Haar, der mächtige Oberkörper schienen dem Herrn im englischen Touristenanzug nicht mehr anzugehören. Er pflanzte sich vor dem Hochmögenden auf. An den schwarzbraunen Augensäcken und an der leberkranken Gesichtsfarbe erkannte er den Kaimakam. Dieser Anblick aber stachelte seine Erregung nur noch höher:
»Seine Exzellenz Enver Pascha wurde samt seinem Stab von einer armenischen Truppe im Kaukasus gerettet. Er war von den Russen schon so gut wie gefangen. Das wissen Sie ja ebenso wie ich, Effendi. Sie wissen ferner auch, daß Seine Exzellenz daraufhin in einem Schreiben an den Katholikos von Sis oder an den Bischof von Konia die Tapferkeit der sadika ermeni millet (der treuen Armeniernation) dankbar rühmte. Dieses Schreiben wurde auf Befehl der Regierung öffentlich angeschlagen. Das ist die Wahrheit! Wer diese Wahrheit vergiftet, wer Gerüchte verbreitet, der schwächt die Kriegführung, der zersprengt die Einheit, der ist ein Feind des Reiches, ein Hochverräter! Das sage ich Ihnen, Gabriel Bagradian, Offizier in der türkischen Armee …«
Er brach ab und wartete auf eine Antwort. Die Beys aber, durch den wilden Ausbruch verdutzt, gaben keinen Laut von sich, auch der Kaimakam nicht, der nur den Burnus fester um seine Blöße zog. Gabriel durfte deshalb den Raum sogleich als Sieger verlassen, wenn auch bebend vor Erregung. Während er sich ankleidete, erkannte er bereits, daß er mit diesem Ausbruch eine der größten Dummheiten seines Lebens begangen hatte. Der Weg nach Antiochia war nun für ihn verschüttet. Und das war doch der einzige Aus- und Rückweg in die Welt. Er hätte, ehe er den Kaimakam beleidigte, an Juliette und Stephan denken müssen. Dennoch war er nicht ganz unzufrieden mit sich.
Sein Herz ging noch immer schnell, als ihn der Diener des Agha Rifaat Bereket in den Empfangsalon, den Selamlik des kühlen Türkenhauses führte. Auf dem schwebend weichen Riesenteppich des halbdunklen Zimmers schritt Gabriel auf und ab. Seine Uhr, die er unsinnigerweise noch immer nach westeuropäischer Zeit richtete, zeigte die zweite Nachmittagsstunde.
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