"Das
ist löblich an dir", sagte Charlotte, "denn ich war ja gegenwärtig;
und ob sie gleich viel jünger ist als ich, so hatte doch die Gegenwart
der ältern Freundin so viele Reize für dich, daß du über die
aufblühende, versprechende Schönheit hinaussahest.
Es gehört auch dies zu deiner Art zu sein, deshalb ich so gern das
Leben mit dir teile".
Charlotte, so aufrichtig sie zu sprechen schien, verhehlte doch etwas.
Sie hatte nämlich damals dem von Reisen zurückkehrenden Eduard
Ottilien absichtlich vorgeführt, um dieser geliebten Pflegetochter
eine so große Partie zuzuwenden; denn an sich selbst in bezug auf
Eduard dachte sie nicht mehr.
Der Hauptmann war auch angestiftet, Eduarden aufmerksam zu machen;
aber dieser, der seine frühe Liebe zu Charlotten hartnäckig im Sinne
behielt, sah weder rechts noch links und war nur glücklich in dem
Gefühl, daß es möglich sei, eines so lebhaft gewünschten und durch
eine Reihe von Ereignissen scheinbar auf immer versagten Gutes endlich
doch teilhaft zu werden.
Eben stand das Ehepaar im Begriff, die neuen Anlagen herunter nach dem
Schlosse zu gehen, als ein Bedienter ihnen hastig entgegenstieg und
mit lachendem Munde sich schon von unten herauf vernehmen ließ:"
kommen Euer Gnaden doch ja schnell herüber!
Herr Mittler ist in den Schloßhof gesprengt.
Er hat uns alle zusammengeschrieen, wir sollen sie aufsuchen, wir
sollen Sie fragen, ob es not tue.
'Ob es not tut', rief er uns nach, 'hört ihr?
Aber geschwind, geschwind!'.
"Der drollige Mann!" rief Eduard aus; "kommt er nicht gerade zur
rechten Zeit, Charlotte?"—"Geschwind zurück!" befahl er dem
Bedienten; "sage ihm, es tue not, sehr not!
Er soll nur absteigen.
Versorgt sein Pferd; führt ihn in den Saal, setzt ihm ein Frühstück
vor!
Wir kommen gleich".
"Laß uns den nächsten Weg nehmen!" sagte er zu seiner Frau und schlug
den Pfad über den Kirchhof ein, den er sonst zu vermeiden pflegte.
Aber wie verwundert war er, als er fand, daß Charlotte auch hier für
das Gefühl gesorgt habe.
Mit möglichster Schonung der alten Denkmäler hatte sie alles so zu
vergleichen und zu ordnen gewußt, daß es ein angenehmer Raum erschien,
auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten.
Auch dem ältesten Stein hatte sie seine Ehre gegönnt.
Den Jahren nach waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder
sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit
vermannigfaltigt und geziert.
Eduard fühlte sich sonderbar überrascht, wie er durch die kleine
Pforte hereintrat: er drückte Charlotten die Hand, und im Auge stand
ihm eine Träne.
Aber der närrische Gast verscheuchte sie gleich.
Denn dieser hatte keine Ruh im Schloß gehabt, war spornstreichs durchs
Dorf bis an das Kirchhoftor geritten, wo er still hielt und seinen
Freunden entgegenrief: "Ihr habt mich doch nicht zum besten?
Tuts wirklich not, so bleibe ich zu Mittage hier.
Haltet mich nicht auf!
Ich habe heute noch viel zu tun".
"Da Ihr Euch so weit bemüht habt", rief ihm Eduard entgegen, "so
reitet noch vollends herein; wir kommen an einem ernsthaften Orte
zusammen; und seht, wie schön Charlotte diese Trauer ausgeschmückt hat!"
"Hier herein", rief der Reiter, "komm ich weder zu Pferde, noch zu
Wagen, noch zu Fuße.
Diese da ruhen in Frieden, mit ihnen habe ich nichts zu schaffen.
Gefallen muß ich mirs lassen, wenn man mich einmal, die Füße voran,
hereinschleppt.
Also ists Ernst?" "Ja", rief Charlotte, "recht Ernst! Es ist das
erstemal, daß wir neuen Gatten in Not und Verwirrung sind, woraus wir
uns nicht zu helfen wissen".
"Ihr seht nicht darnach aus", versetzte er, "doch will ichs glauben.
Führt ihr mich an, so laß ich euch künftig stecken.
Folgt geschwinde nach!
Meinem Pferde mag die Erholung zugut kommen".
Bald fanden sich die dreie im Saale zusammen; das Essen ward
aufgetragen, und Mittler erzählte von seinen heutigen Taten und
Vorhaben. Dieser seltsame Mann war früherhin Geistlicher gewesen und
hatte sich bei einer rastlosen Tätigkeit in seinem Amte dadurch
ausgezeichnet, daß er alle Streitigkeiten, sowohl die häuslichen als
die nachbarlichen, erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer
Gemeinden und mehrerer Gutsbesitzer zu stillen und zu schlichten wußte.
Solange er im Dienste war, hatte sich kein Ehepaar scheiden lassen,
und die Landeskollegien wurden mit keinen Händeln und Prozessen von
dorther behelliget.
Wie nötig ihm die Rechtskunde sei, ward er zeitig gewahr.
Er warf sein ganzes Studium darauf und fühlte sich bald den
geschicktesten Advokaten gewachsen.
Sein Wirkungskreis dehnte sich wunderbar aus; und man war im Begriff,
ihn nach der Residenz zu ziehen, um das von oben herein zu vollenden,
was er von unten herauf begonnen hatte, als er einen ansehnlichen
Lotteriegewinst tat, sich ein mäßiges Gut kaufte, es verpachtete und
zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit machte, mit dem festen Vorsatz oder
vielmehr nach alter Gewohnheit und Neigung, in keinem Hause zu
verweilen, wo nichts zu schlichten und nichts zu helfen wäre.
Diejenigen, die auf die Namensbedeutungen abergläubisch sind,
behaupten, der Name Mittler habe ihn genötigt, diese seltsamste aller
Bestimmungen zu ergreifen.
Der Nachtisch war aufgetragen, als der Gast seine Wirte ernstlich
vermahnte, nicht weiter mit ihren Entdeckungen zurückzuhalten, weil er
gleich nach dem Kaffee fort müsse.
Die beiden Eheleute machten umständlich ihre Bekenntnisse; aber kaum
hatte er den Sinn der Sache vernommen, als er verdrießlich vom Tische
auffuhr, ans Fenster sprang und sein Pferd zu satteln befahl.
"Entweder ihr kennt mich nicht", rief er aus, "ihr steht mich nicht,
oder ihr seid sehr boshaft.
Ist denn hier ein Streit?
Ist denn hier eine Hülfe nötig?
Glaubt ihr, daß ich in der Welt bin, um Rat zu geben?
Das ist das dümmste Handwerk, das einer treiben kann.
Rate sich jeder selbst und tue, was er nicht lassen kann.
Gerät es gut, so freue er sich seiner Weisheit und seines Glücks;
läufts übel ab, dann bin ich bei der Hand.
Wer ein übel los sein will, der weiß immer, was er will; wer was
Bessers will, als er hat, der ist ganz starblind—ja ja!
Lacht nur—er spielt Blindekuh, er ertappts vielleicht; aber was?
Tut, was ihr wollt: es ist ganz einerlei!
Nehmt die Freunde zu euch, laßt sie weg: alles einerlei!
Das Vernünftigste habe ich mißlingen sehen, das Abgeschmackteste
gelingen.
Zerbrecht euch die Köpfe nicht, und wenns auf eine oder die andre
Weise übel abläuft, zerbrecht sie euch auch nicht!
Schickt nur nach mir, und euch soll geholfen werden.
Bis dahin euer Diener!" und so schwang er sich aufs Pferd, ohne den
Kaffee abzuwarten.
"Hier siehst du", sagte Charlotte, "wie wenig eigentlich ein Dritter
fruchtet, wenn es zwischen zwei nah verbundenen Personen nicht ganz im
Gleichgewicht steht.
Gegenwärtig sind wir doch wohl noch verworrner und ungewisser, wenns
möglich ist, als vorher".
Beide Gatten würden auch wohl noch eine Zeitlang geschwankt haben,
wäre nicht ein Brief des Hauptmanns im Wechsel gegen Eduards letzten
angekommen.
Er hatte sich entschlossen, eine der ihm angebotenen Stellen
anzunehmen, ob sie ihm gleich keineswegs gemäß war.
Er sollte mit vornehmen und reichen Leuten die Langeweile teilen,
indem man auf ihn das Zutrauen setzte, daß er sie vertreiben würde.
Eduard übersah das ganze Verhältnis recht deutlich und malte es noch
recht scharf aus".
"Wollen wir unsern Freund in einem solchen Zustande wissen?" rief er.
"Du kannst nicht so grausam sein, Charlotte!" "der wunderliche Mann,
unser Mittler", versetzte Charlotte, "hat am Ende doch recht.
Alle solche Unternehmungen sind Wagestücke.
Was daraus werden kann, sieht kein Mensch voraus.
Solche neue Verhältnisse können fruchtbar sein an Glück und an Unglück,
ohne daß wir uns dabei Verdienst oder Schuld sonderlich zurechnen
dürfen.
Ich fühle mich nicht stark genug, dir länger zu widerstehen. Laß uns
den Versuch machen!
Das einzige, was ich dich bitte: es sei nur auf kurze Zeit angesehen.
Erlaube mir, daß ich mich tätiger als bisher für ihn verwende und
meinen Einfluß, meine Verbindungen eifrig benutze und aufrege, ihm
eine Stelle zu verschaffen, die ihm nach seiner Weise einige
Zufriedenheit gewähren kann".
Eduard versicherte seine Gattin auf die anmutigste Weise der
lebhaftesten Dankbarkeit.
Er eilte mit freiem, frohem Gemüt, seinem Freunde Vorschläge
schriftlich zu tun.
Charlotte mußte in einer Nachschrift ihren Beifall eigenhändig
hinzufügen, ihre freundschaftlichen Bitten mit den seinen vereinigen.
Sie schrieb mit gewandter Feder gefällig und verbindlich, aber doch
mit einer Art von Hast, die ihr sonst nicht gewöhnlich war; und was
ihr nicht leicht begegnete, sie verunstaltete das Papier zuletzt mit
einem Tintenfleck, der sie ärgerlich machte und nur größer wurde,
indem sie ihn wegwischen wollte.
Eduard scherzte darüber, und weil noch Platz war, fügte er eine zweite
Nachschrift hinzu: der Freund solle aus diesen Zeichen die Ungeduld
sehen, womit er erwartet werde, und nach der Eile, womit der Brief
geschrieben, die Eilfertigkeit seiner Reise einrichten.
Der Bote war fort, und Eduard glaubte seine Dankbarkeit nicht
überzeugender ausdrücken zu können, als indem er aber—und abermals
darauf bestand, Charlotte solle zugleich Ottilien aus der Pension
holen lassen.
Sie bat um Aufschub und wußte diesen Abend bei Eduard die Lust zu
einer musikalischen Unterhaltung aufzuregen.
Charlotte spielte sehr gut Klavier, Eduard nicht ebenso bequem die
Flöte; denn ob er sich gleich zuzeiten viel Mühe gegeben hatte, so war
ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Ausbildung
eines solchen Talentes gehört.
Er führte deshalb seine Partie sehr ungleich aus, einige Stellen gut,
nur vielleicht zu geschwind; bei andern wieder hielt er an, weil sie
ihm nicht geläufig waren, und so wär es für jeden andern schwer
gewesen, ein Duett mit ihm durchzubringen.
Aber Charlotte wußte sich darein zu finden; sie hielt an und ließ sich
wieder von ihm fortreißen und versah also die doppelte Pflicht eines
guten Kapellmeisters und einer klugen Hausfrau, die im ganzen immer
das Maß zu erhalten wissen, wenn auch die einzelnen Passagen nicht
immer im Takt bleiben sollten.
Der Hauptmann kam.
Er hatte einen sehr verständigen Brief vorausgeschickt, der Charlotten
völlig beruhigte.
Soviel Deutlichkeit über sich selbst, soviel Klarheit über seinen
eigenen Zustand, über den Zustand seiner Freunde gab eine heitere und
fröhliche Aussicht.
Die Unterhaltungen der ersten Stunden waren, wie unter Freunden zu
geschehen pflegt, die sich eine Zeitlang nicht gesehen haben, lebhaft,
ja fast erschöpfend.
Gegen Abend veranlaßte Charlotte einen Spaziergang auf die neuen
Anlagen.
Der Hauptmann gefiel sich sehr in der Gegend und bemerkte jede
Schönheit, welche durch die neuen Wege erst sichtbar und genießbar
geworden.
Er hatte ein geübtes Auge und dabei ein genügsames; und ob er gleich
das Wünschenswerte sehr wohl kannte, machte er doch nicht, wie es
öfters zu geschehen pflegt, Personen, die ihn in dem Ihrigen
herumführten, dadurch einen üblen Humor, daß er mehr verlangte, als
die Umstände zuließen, oder auch wohl gar an etwas Vollkommneres
erinnerte, das er anderswo gesehen.
Als sie die Mooshütte erreichten, fanden sie solche auf das lustige
ausgeschmückt, zwar nur mit künstlichen Blumen und Wintergrün, doch
darunter so schöne Büschel natürlichen Weizens und anderer Feld—und
Baumfrüchte angebracht, daß sie dem Kunstsinn der Anordnenden zur Ehre
gereichten.
"Obschon mein Mann nicht liebt, daß man seinen Geburts—oder Namenstag
feire, so wird er mir doch heute nicht verargen, einem dreifachen
Feste diese wenigen Kränze zu widmen".
"Ein dreifaches?" rief Eduard.
-"Ganz gewiß!" versetzte Charlotte; "unseres Freundes Ankunft
behandeln wir billig als ein Fest; und dann habt ihr beide wohl nicht
daran gedacht, daß heute euer Namenstag ist.
Heißt nicht einer Otto so gut als der andere?" Beide Freunde reichten
sich die Hände über den kleinen Tisch.
"Du erinnerst mich", sagte Eduard, "an dieses jugendliche
Freundschaftsstück.—Als Kinder hießen wir beide so; doch als wir in
der Pension zusammenlebten und manche Irrung daraus entstand, so trat
ich ihm freiwillig diesen hübschen, lakonischen Namen ab".
"Wobei du denn doch nicht gar zu großmütig warst", sagte der Hauptmann.
"Denn ich erinnere mich recht wohl, daß dir der Name Eduard besser
gefiel, wie er denn auch, von angenehmen Lippen ausgesprochen, einen
besonders guten Klang hat".
Nun saßen sie also zu dreien um dasselbe Tischchen, wo Charlotte so
eifrig gegen die Ankunft des Gastes gesprochen hatte.
Eduard in seiner Zufriedenheit wollte die Gattin nicht an jene Stunden
erinnern, doch enthielt er sich nicht zu sagen: "für ein Viertes wäre
auch noch recht gut Platz".
Waldhörner ließen sich in diesem Augenblick vom Schloß herüber
vernehmen, bejahten gleichsam und bekräftigten die guten Gesinnungen
und Wünsche der beisammen verweilenden Freunde.
Stillschweigend hörten sie zu, indem jedes in sich selbst zurückkehrte
und sein eigenes Glück in so schöner Verbindung doppelt empfand.
Eduard unterbrach die Pause zuerst, indem er aufstand und vor die
Mooshütte hinaustrat.
"Laß uns", sagte er zu Charlotten, "den Freund gleich völlig auf die
Höhe führen, damit er nicht glaube, dieses beschränkte Tal nur sei
unser Erbgut und Aufenthalt; der Blick wird oben freier und die Brust
erweitert sich".
"So müssen wir diesmal noch", versetzte Charlotte, "den alten, etwas
beschwerlichen Fußpfad erklimmen; doch, hoffe ich, sollen meine Stufen
und Steige nächstens bequemer bis ganz hinauf leiten".
Und so gelangte man denn über Felsen, durch Busch und Gesträuch zur
letzten Höhe, die zwar keine Fläche, doch fortlaufende, fruchtbare
Rücken bildete.
Dorf und Schloß hinterwärts waren nicht mehr zu sehen.
In der Tiefe erblickte man ausgebreitete Teiche, drüben bewachsene
Hügel, an denen sie sich hinzogen, endlich steile Felsen, welche
senkrecht den letzten Wasserspiegel entschieden begrenzten und ihre
bedeutenden Formen auf der Oberfläche desselben abbildeten.
Dort in der Schlucht, wo ein starker Bach den Teichen zufiel, lag
eine Mühle halb versteckt, die mit ihren Umgebungen als ein
freundliches Ruheplätzchen erschien.
Mannigfaltig wechselten im ganzen Halbkreise, den man übersah, Tiefen
und Höhen, Büsche und Wälder, deren erstes Grün für die Folge den
füllereichsten Anblick versprach.
Auch einzelne Baumgruppen hielten an mancher Stelle das Auge fest.
Besonders zeichnete zu den Füßen der schauenden Freunde sich eine
Masse Pappeln und Platanen zunächst an dem Rande des mittleren Teiches
vorteilhaft aus.
Sie stand in ihrem besten Wachstum, frisch, gesund, empor und in die
Breite strebend.
Eduard lenkte besonders auf diese die Aufmerksamkeit seines Freundes.
"Diese habe ich", rief er aus, "in meiner Jugend selbst gepflanzt.
Es waren junge Stämmchen, die ich rettete, als mein Vater, bei der
Anlage zu einem neuen Teil des großen Schloßgartnens, sie mitten im
Sommer ausroden ließ.
Ohne Zweifel werden sie auch dieses Jahr sich durch neue Triebe wieder
dankbar hervortun".
Man kehrte zufrieden und heiter zurück.
Dem Gaste ward auf dem rechten Flügel des Schlosses ein freundliches,
geräumiges Quartier angewiesen, wo er sehr bald Bücher, Papiere und
Instrumente aufgestellt und geordnet hatte, um in seiner gewohnten
Tätigkeit fortzufahren.
Aber Eduard ließ ihm in den ersten Tagen keine Ruhe; er führte ihn
überall herum, bald zu Pferde, bald zu Fuße, und machte ihn mit der
Gegend, mit dem Gute bekannt; wobei er ihm zugleich die Wünsche
mitteilte, die er zu besserer Kenntnis und vorteilhafterer Benutzung
desselben seit langer Zeit bei sich hegte.
"Das erste, was wir tun sollten", sagte der Hauptmann, "wäre, daß ich
die Gegend mit der Magnetnadel aufnähme.
Es ist das ein leichtes, heiteres Geschäft, und wenn es auch nicht die
größte Genauigkeit gewährt, so bleibt es doch immer nützlich und für
den Anfang erfreulich; auch kann man es ohne große Beihülfe leisten
und weiß gewiß, daß man fertig wird.
Denkst du einmal an eine genauere Ausmessung, so läßt sich dazu wohl
auch noch Rat finden".
Der Hauptmann war in dieser Art des Aufnehmens sehr geübt.
Er hatte die nötige Gerätschaft mitgebracht und fing sogleich an.
Er unterrichtete Eduarden, einige Jäger und Bauern, die ihm bei dem
Geschäft behülflich sein sollten.
Die Tage waren günstig; die Abende und die frühsten Morgen brachte er
mit Aufzeichnen und Schraffieren zu.
Schnell war auch alles laviert und illuminiert, und Eduard sah seine
Besitzungen auf das deutlichste aus dem Papier wie eine neue Schöpfung
hervorwachsen.
Er glaubte sie jetzt erst kennenzulernen, sie schienen ihm jetzt erst
recht zu gehören.
Es gab Gelegenheit, über die Gegend, über Anlagen zu sprechen, die man
nach einer solchen übersicht viel besser zustande bringe, als wenn man
nur einzeln, nach zufälligen Eindrücken, an der Natur herumversuche.
"Das müssen wir meiner Frau deutlich machen", sagte Eduard. "Tue das
nicht!" versetzte der Hauptmann, der die überzeugungen anderer nicht
gern mit den seinigen durchkreuzte, den die Erfahrung gelehrt hatte,
daß die Ansichten der Menschen viel zu mannigfaltig sind, als daß sie,
selbst durch die vernünftigsten Vorstellungen, auf Einen Punkt
versammelt werden könnten.
"Tue es nicht!" rief er, "sie dürfte leicht irre werden.
Es ist ihr wie allen denen, die sich nur aus Liebhaberei mit solchen
Dingen beschäftigen, mehr daran gelegen, daß sie etwas tue, als daß
etwas getan werde.
Man tastet an der Natur, man hat Vorliebe für dieses oder jenes
Plätzchen; man wagt nicht, dieses oder jenes Hindernis wegzuräumen,
man ist nicht kühn genug, etwas aufzuopfern; man kann sich voraus
nicht vorstellen, was entstehen soll, man probiert, es gerät, es
mißrät, man verändert, verändert vielleicht, was man lassen sollte,
läßt, was man verändern sollte, und so bleibt es zuletzt immer ein
Stückwerk, das gefällt und anregt, aber nicht befriedigt".
"Gesteh mir aufrichtig", sagte Eduard, "du bist mit ihren Anlagen
nicht zufrieden".
"Wenn die Ausführung den Gedanken erschöpfte, der sehr gut ist, so
wäre nichts zu erinnern.
Sie hat sich mühsam durch das Gestein hinaufgequält und quält nun
jeden, wenn du willst, den sie hinaufführt.
Weder nebeneinander noch hintereinander schreitet man mit einer
gewissen Freiheit.
Der Takt des Schrittes wird jeden Augenblick unterbrochen; und was
ließe sich nicht noch alles einwenden!" "Wäre es denn leicht anders
zu machen gewesen?" fragte Eduard.
"Gar leicht", versetzte der Hauptmann; "sie durfte nur die eine
Felsenecke, die noch dazu unscheinbar ist, weil sie aus kleinen Teilen
besteht, wegbrechen, so erlangte sie eine schön geschwungene Wendung
zum Aufstieg und zugleich überflüssige Steine, um die Stellen
heraufzumauern, wo der Weg schmal und verkrüppelt geworden wäre.
Doch sei dies im engsten Vertrauen unter uns gesagt; sie wird sonst
irre und verdrießlich.
Auch muß man, was gemacht ist, bestehen lassen.
Will man weiter Geld und Mühe aufwenden, so wäre von der Mooshütte
hinaufwärts und über die Anhöhe noch mancherlei zu tun und viel
Angenehmes zu leisten".
Hatten auf diese Weise die beiden Freunde am Gegenwärtigen manche
Beschäftigung, so fehlte es nicht an lebhafter und vergnüglicher
Erinnerung vergangener Tage, woran Charlotte wohl teilzunehmen pflegte.
Auch setzte man sich vor, wenn nur die nächsten Arbeiten erst getan
wären, an die Reisejournale zu gehen und auch auf diese Weise die
Vergangenheit hervorzurufen.
übrigens hatte Eduard mit Charlotten allein weniger Stoff zur
Unterhaltung, besonders seitdem er den Tadel ihrer Parkanlagen, der
ihm so gerecht schien, auf dem Herzen fühlte.
Lange verschwieg er, was ihm der Hauptmann vertraut hatte; aber als er
seine Gattin zuletzt beschäftigt sah, von der Mooshütte hinauf zur
Anhöhe wieder mit Stüfchen und Pfädchen sich emporzuarbeiten, so hielt
er nicht länger zurück, sondern machte sie nach einigen Umschweifen
mit seinen neuen Einsichten bekannt.
Charlotte stand betroffen.
Sie war geistreich genug, um schnell einzusehen, daß jene recht
hatten; aber das Getane widersprach, es war nun einmal so gemacht; sie
hatte es recht, sie hatte es wünschenswert gefunden, selbst das
Getadelte war ihr in jedem einzelnen Teile lieb; sie widerstrebte der
überzeugung, sie verteidigte ihre kleine Schöpfung, sie schalt auf die
Männer, die gleich ins Weite und Große gingen, aus einem Scherz, aus
einer Unterhaltung gleich ein Werk machen wollten, nicht an die Kosten
denken, die ein erweiterter Plan durchaus nach sich zieht.
Sie war bewegt, verletzt, verdrießlich; sie konnte das Alte nicht
fahren lassen, das Neue nicht ganz abweisen; aber entschlossen wie sie
war, stellte sie sogleich die Arbeit ein und nahm sich Zeit, die Sache
zu bedenken und bei sich reif werden zu lassen.
Indem sie nun auch diese tätige Unterhaltung vermißte, da indes die
Männer ihr Geschäft immer geselliger betrieben und besonders die
Kunstgärten und Glashäuser mit Eifer besorgten, auch dazwischen die
gewöhnlichen ritterlichen übungen fortsetzten, als Jagen, Pferdekaufen,
-tauschen, -bereiten und -einfahren, so fühlte sich Charlotte täglich
einsamer.
Sie führte ihren Briefwechsel auch um des Hauptmanns willen lebhafter,
und doch gab es manche einsame Stunde.
Desto angenehmer und unterhaltender waren ihr die Berichte, die sie
aus der Pensionsanstalt erhielt.
Einem weitläufigen Briefe der Vorsteherin, welcher sich wie gewöhnlich
über der Tochter Fortschritte mit Behagen verbreitete, war eine kurze
Nachschrift hinzugefügt nebst einer Beilage von der Hand eines
männlichen Gehülfen am Institut, die wir beide mitteilen.
"Von Ottilien, meine Gnädige, hätte ich eigentlich nur zu wiederholen,
was in meinen vorigen Berichten enthalten ist.
Ich wüßte sie nicht zu schelten, und doch kann ich nicht zufrieden mit
ihr sein.
Sie ist nach wie vor bescheiden und gefällig gegen andere; aber dieses
Zurücktreten, diese Dienstbarkeit will mir nicht gefallen.
Euer Gnaden haben ihr neulich Geld und verschiedene Zeuge geschickt.
Das erste hat sie nicht angegriffen, die andern liegen auch noch da,
unberührt.
Sie hält freilich ihre Sachen sehr reinlich und gut und scheint nur in
diesem Sinn die Kleider zu wechseln.
Auch kann ich ihre große Mäßigkeit im Essen und Trinken nicht loben.
An unserm Tisch ist kein überfluß; doch sehe ich nichts lieber, als
wenn die Kinder sich an schmackhaften und gesunden Speisen satt essen.
Was mit Bedacht und überzeugung aufgetragen und vorgelegt ist, soll
auch aufgegessen werden.
Dazu kann ich Ottilien niemals bringen.
Ja, sie macht sich irgendein Geschäft, um eine Lücke auszufüllen, wo
die Dienerinnen etwas versäumen, nur um eine Speise oder den Nachtisch
zu übergehen.
Bei diesem allen kommt jedoch in Betrachtung, daß sie manchmal, wie
ich erst spät erfahren habe, Kopfweh auf der linken Seite hat, das
zwar vorübergeht, aber schmerzlich und bedeutend sein mag.
Soviel von diesem übrigens so schönen und lieben Kinde".
"Unsere vortreffliche Vorsteherin läßt mich gewöhnlich die Briefe
lesen, in welchen sie Beobachtungen über ihre Zöglinge den Eltern und
Vorgesetzten mitteilt.
Diejenigen, die an Euer Gnaden gerichtet sind, lese ich immer mit
doppelter Aufmerksamkeit, mit doppeltem Vergnügen; denn indem wir
Ihnen zu einer Tochter Glück zu wünschen haben, die alle jene
glänzenden Eigenschaften vereinigt, wodurch man in der Welt
emporsteigt, so muß ich wenigstens Sie nicht minder glücklich preisen,
daß Ihnen in Ihrer Pflegetochter ein Kind beschert ist, das zum Wohl,
zur Zufriedenheit anderer und gewiß auch zu seinem eigenen Glück
geboren ward. Ottilie ist fast unser einziger Zögling, über den ich
mit unserer so verehrten Vorsteherin nicht einig werden kann.
Ich verarge dieser tätigen Frau keinesweges, daß sie verlangt, man
soll die Früchte ihrer Sorgfalt äußerlich und deutlich sehen; aber es
gibt auch verschlossene Früchte, die erst die rechten, kernhaften sind
und die sich früher oder später zu einem schönen Leben entwickeln.
Dergleichen ist gewiß Ihre Pflegetochter.
Solange ich sie unterrichte, sehe ich sie immer gleichen Schrittes
gehen, langsam, langsam vorwärts, nie zurück.
Wenn es bei einem Kinde nötig ist, vom Anfange anzufangen, so ist es
gewiß bei ihr.
Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift sie nicht.
Sie steht unfähig, ja stöckisch vor einer leicht faßlichen Sache, die
für sie mit nichts zusammenhängt.
Kann man aber die Mittelglieder finden und ihr deutlich machen, so ist
ihr das Schwerste begreiflich.
Bei diesem langsamen Vorschreiten bleibt sie gegen ihre
Mitschülerinnen zurück, die mit ganz andern Fähigkeiten immer
vorwärtseilen, alles, auch das Unzusammenhängende, leicht fassen,
leicht behalten und bequem wieder anwenden.
So lernt sie, so vermag sie bei einem beschleunigten Lehrvortrage gar
nichts; wie es der Fall in einigen Stunden ist, welche von trefflichen,
aber raschen und ungeduldigen Lehrern gegeben werden.
Man hat über ihre Handschrift geklagt, über ihre Unfähigkeit, die
Regeln der Grammatik zu fassen.
Ich habe diese Beschwerde näher untersucht: es ist wahr, sie schreibt
langsam und steif, wenn man so will, doch nicht zaghaft und ungestalt.
Was ich ihr von der französischen Sprache, die zwar mein Fach nicht
ist, schrittweise mitteilte, begriff sie leicht.
Freilich ist es wunderbar: sie weiß vieles und recht gut; nur wenn man
sie fragt, scheint sie nichts zu wissen.
Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung schließen, so möchte ich
sagen: sie lernt nicht als eine, die erzogen werden soll, sondern als
eine, die erziehen will; nicht als Schülerin, sondern als künftige
Lehrerin.
Vielleicht kommt es Euer Gnaden sonderbar vor, daß ich selbst als
Erzieher und Lehrer jemanden nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich
ihn für meinesgleichen erkläre.
Euer Gnaden bessere Einsicht, tiefere Menschen—und Weltkenntnis wird
aus meinen beschränkten, wohlgemeinten Worten das Beste nehmen.
Sie werden sich überzeugen, daß auch an diesem Kinde viel Freude zu
hoffen ist.
Ich empfehle mich zu Gnaden und bitte um die Erlaubnis, wieder zu
schreiben, sobald ich glaube, daß mein Brief etwas Bedeutendes und
Angenehmes enthalten werde".
Charlotte freute sich über dieses Blatt.
Sein Inhalt traf ganz nahe mit den Vorstellungen zusammen, welche sie
von Ottilien hegte; dabei konnte sie sich eines Lächelns nicht
enthalten, indem der Anteil des Lehrers herzlicher zu sein schien, als
ihn die Einsicht in die Tugenden eines Zöglings hervorzubringen pflegt.
Bei ihrer ruhigen, vorurteilsfreien Denkweise ließ sie auch ein
solches Verhältnis, wie so viele andre, vor sich liegen; die Teilnahme
des verständigen Mannes an Ottilien hielt sie wert; denn sie hatte in
ihrem Leben genugsam einsehen gelernt, wie hoch jede wahre Neigung zu
schätzen sei in einer Welt, wo Gleichgültigkeit und Abneigung
eigentlich recht zu Hause sind.
Die topographische Karte, auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen
nach einem ziemlich großen Maßstabe charakteristisch und faßlich durch
Federstriche und Farben dargestellt war und welche der Hauptmann durch
einige trigonometrische Messungen sicher zu gründen wußte, war bald
fertig; denn weniger Schlaf als dieser tätige Mann bedurfte kaum
jemand, so wie sein Tag stets dem augenblicklichen Zwecke gewidmet und
deswegen jederzeit am Abende etwas getan war.
"Laß uns nun", sagte er zu seinem Freunde, "an das übrige gehen, an
die Gutsbeschreibung, wozu schon genugsame Vorarbeit da sein muß, aus
der sich nachher Pachtanschläge und anderes schon entwickeln werden.
Nur Eines laß uns festsetzen und einrichten: trenne alles, was
eigentlich Geschäft ist, vom Leben!
Das Geschäft verlangt Ernst und Strenge, das Leben Willkür; das
Geschäft die reinste Folge, dem Leben tut eine Inkonsequenz oft not,
ja sie ist liebenswürdig und erheiternd.
Bist du bei dem einen sicher, so kannst du in dem andern desto freier
sein, anstatt daß bei einer Vermischung das Sichre durch das Freie
weggerissen und aufgehoben wird".
Eduard fühlte in diesen Vorschlägen einen leisen Vorwurf.
Zwar von Natur nicht unordentlich, konnte er doch niemals dazu kommen,
seine Papiere nach Fächern abzuteilen.
Das, was er mit andern abzutun hatte, was bloß von ihm selbst abhing,
es war nicht geschieden, so wie er auch Geschäfte und Beschäftigung,
Untrhaltung und Zerstreuung nicht genugsam voneinander absonderte.
Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund diese Bemühung übernahm, ein
zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer
sich spalten mag.
Sie errichteten auf dem Flügel des Hauptmanns eine Repositur für das
Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene, schafften alle Dokumente,
Papiere, Nachrichten aus verschiedene Behältnissen, Kammern, Schränken
und Kisten herbei, und auf das geschwindeste war der Wust in eine
erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubriziert in bezeichneten Fächern.
Was man wünschte, ward vollständiger gefunden, als man gehofft hatte.
Hierbei ging ihnen ein alter Schreiber sehr an die Hand, der den Tag
über, ja einen Teil der nicht vom Pulte kam und mit dem Eduard bisher
immer unzufrieden gewesen war.
"Ich kenne ihn nicht mehr", sagte Eduard zu seinem Freund, "wie tätig
und brauchbar der Mensch ist".
-"Das macht", versetzte der Hauptmann, "wir tragen ihm nichts Neues
auf, als bis er das Alte nach seiner Bequemlichkeit vollendet hat; und
so leistet er, wie du siehst, sehr viel; sobald man ihn stört, vermag
er gar nichts".
Brachten die Freunde auf diese Weise ihre Tage zusammen zu, so
versäumten sie abends nicht, Charlotten regelmäßig zu besuchen.
Fand sich keine Gesellschaft von benachbarten Orten und Gütern,
welches öfters geschah, so war das Gespräch wie das Lesen meist
solchen Gegenständen gewidmet, welche den Wohlstand, die Vorteile und
das Behagen der bürgerlichen Gesellschaft vermehren.
Charlotte, ohnehin gewohnt, die Gegenwart zu nutzen, fühlte sich,
indem sie ihren Mann zufrieden sah, auch persönlich gefördert.
Verschiedene häusliche Anstalten, die sie längst gewünscht, aber nicht
recht einleiten können, wurden durch die Tätigkeit des Hauptmanns
bewirkt.
Die Hausapotheke, die bisher nur aus wenigen Mitteln bestanden, ward
bereichert und Charlotte so wohl durch faßliche Bücher als durch
Unterredung in den Stand gesetzt, ihr tätiges und hülfreiches Wesen
öfter und wirksamer als bisher in übung zu bringen.
Da man auch die gewöhnlichen und dessen ungeachtet nur zu oft
überraschenden Notfälle durchdachte, so wurde alles, was zur Rettung
der Ertrunkenen nötig sein möchte, um so mehr angeschafft, als bei der
Nähe so mancher Teiche, Gewässer und Wasserwerke öfters ein und der
andere Unfall dieser Art vorkam.
Diese Rubrik besorgte der Hauptmann sehr ausführlich, und Eduarden
entschlüpfte die Bemerkung, daß ein solcher Fall in dem Leben seines
Freundes auf die seltsamste Weise Epoche gemacht.
Doch als dieser schwieg und einer traurigen Erinnerung auszuweichen
schien, hielt Eduard gleichfalls an, so wie auch Charlotte, die nicht
weniger im allgemeinen davon unterrichtet war, über jene äußerungen
hinausging.
"Wie wollen alle diese vorsorglichen Anstalten loben", sagte eines
Abends der Hauptmann; "nun geht uns aber das Notwendigste noch ab, ein
tüchtiger Mann, der das alles zu handhaben weiß.
Ich kann hiezu einen mir bekannten Feldchirurgus vorschlagen, der
jetzt um leidliche Bedingung zu haben ist, ein vorzüglicher Mann in
seinem Fache, und der mir auch in Behandlung heftiger innerer übel
öfters mehr Genüge getan hat als ein berühmter Arzt; und
augenblickliche Hülfe ist doch immer das, was auf dem Lande am meisten
vermißt wird".
Auch dieser wurde sogleich verschrieben, und beide Gatten freuten sich,
daß sie so manche Summe, die ihnen zu willkürlichen Ausgaben
übrigblieb, auf die nötigsten zu verwenden Anlaß gefunden.
So benutzte Charlotte die Kenntnisse, die Tätigkeit des Hauptmanns
auch nach ihrem Sinne und fing an, mit seiner Gegenwart völlig
zufrieden und über alle Folgen beruhigt zu werden.
Sie bereitete sich gewöhnlich vor, manches zu fragen, und da sie gern
leben mochte, so suchte sie alles Schädliche, alles Tödliche zu
entfernen.
Die Bleiglasur der Töpferwaren, der Grünspan kupferner Gefäße hatte
ihr schon manche Sorge gemacht.
Sie ließ sich hierüber belehren, und natürlicherweise mußte man auf
die Grundbegriffe der Physik und Chemie zurückgehen.
Zufälligen, aber immer willkommenen Anlaß zu solchen Unterhaltungen
gab Eduards Neigung, der Gesellschaft vorzulesen.
Er hatte eine sehr wohlklingende, tiefe Stimme und war früher wegen
lebhafter, gefühlter Rezitation dichterischer und rednerischer
Arbeiten angenehm und berühmt gewesen.
Nun waren es andre Gegenstände, die ihn beschäftigten, andre Schriften,
woraus er vorlas, und eben seit einiger Zeit vorzüglich Werke
physischen, chemischen und technischen Inhalts.
Eine seiner besondern Eigenheiten, die er jedoch vielleicht mit
mehrern Menschen teilt, war die, daß es ihm unerträglich fiel, wenn
jemand ihm beim Lesen in das Buch sah.
In früherer Zeit, beim Vorlesen von Gedichten, Schauspielen,
Erzählungen, war es die natürliche Folge der lebhaften Absicht, die
der Vorlesende so gut als der Dichter, der Schauspieler, der
Erzählende hat, zu überraschen, Pausen zu machen, Erwartungen zu
erregen; da es denn freilich dieser beabsichtigten Wirkung sehr
zuwider ist, wenn ihm ein Dritter wissentlich mit den Augen vorspringt.
Er pflegte sich auch deswegen in solchem Falle immer so zu setzen, daß
er niemand im Rücken hatte.
Jetzt zu dreien war diese Vorsicht unnötig; und da es diesmal nicht
auf Erregung des Gefühls, auf überraschung der Einbildungskraft
angesehen war, so dachte er selbst nicht daran, sich sonderlich in
acht zu nehmen.
Nur eines Abends fiel es ihm auf, als er sich nachlässig gesetzt hatte,
daß Charlotte ihm in das Buch sah.
Seine alte Ungeduld erwachte, und er verwies es ihr, gewissermaßen
unfreundlich: "wollte man sich doch solche Unarten, wie so manches
andre, was der Gesellschaft lästig ist, ein für allemal abgewöhnen!
Wenn ich jemand vorlese, ist es denn nicht, als wenn ich ihm mündlich
etwas vortrüge?
Das Geschriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen
Sinnes, meines eigenen Herzens; und würde ich mich wohl zu reden
bemühen, wenn ein Fensterchen vor meiner Stirn, vor meiner Brust
angebracht wäre, so daß der, dem ich meine Gedanken einzeln zuzählen,
meine Empfindungen einzeln zureichen will, immer schon lange vorher
wissen könnte, wo es mit mir hinaus wollte?
Wenn mir jemand ins Buch sieht, so ist mir immer, als wenn ich in zwei
Stücke gerissen würde".
Charlotte, deren Gewandtheit sich in größeren und kleineren Zirkeln
besonders dadurch bewies, daß sie jede unangenehme, jede heftige, ja
selbst nur lebhafte äußerung zu beseitigen, ein sich verlängerndes
Gespräch zu unterbrechen, ein stockendes anzuregen wußte, war auch
diesmal von ihrer guten Gabe nicht verlassen:" du wirst mir meinen
Fehler gewiß verzeihen, wenn ich bekenne, was mir diesen Augenblick
begegnet ist.
Ich hörte von Verwandtschaften lesen, und da dacht ich eben gleich an
meine Verwandten, an ein paar Vettern, die mir gerade in diesem
Augenblick zu schaffen machen.
Meine Aufmerksamkeit kehrt zu deiner Vorlesung zurück; ich höre, daß
von ganz leblosen Dingen die Rede ist, und blicke dir ins Buch, um
mich wieder zurechtzufinden".
"Es ist eine Gleichnisrede, die dich verführt und verwirrt hat", sagte
Eduard.
"Hier wird freilich nur von Erden und Mineralien gehandelt, aber der
Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst,
er legt sich als Folie der ganzen Welt unter".
"Jawohl!" fuhr der Hauptmann fort; "so behandelt er alles, was er
außer sich findet; seine Weisheit wie seine Torheit, seinen Willen wie
seine Willkür leiht er den Tieren, den Pflanzen, den Elementen und den
Göttern".
"Möchtet ihr mich", versetzte Charlotte, "da ich euch nicht zu weit
von dem augenblicklichen Interesse wegführen will, nur kürzlich
belehren, wie es eigentlich hier mit den Verwandtschaften gemeint
sei?" "Das will ich wohl gerne tun", erwiderte der Hauptmann, gegen
den sich Charlotte gewendet hatte, "freilich nur so gut, als ich es
vermag, wie ich es etwa vor zehn Jahren gelernt, wie ich es gelesen
habe.
Ob man in der wissenschaftlichen Welt noch so darüber denkt, ob es zu
den neuern Lehren paßt, wüßte ich nicht zu sagen".
"Es ist schlimm genug", rief Eduard, "daß man jetzt nichts mehr für
sein ganzes Leben lernen kann.
Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer
Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn
wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen".
"Wir Frauen", sagte Charlotte, "nehmen es nicht so genau; und wenn ich
aufrichtig sein soll, so ist es mir eigentlich nur um den Wortverstand
zu tun; denn es macht in der Gesellschaft nichts lächerlicher, als
wenn man ein fremdes, ein Kunstwort falsch anwendet.
Deshalb möchte ich nur wissen, in welchem Sinne dieser Ausdruck eben
bei diesen Gegenständen gebraucht wird.
Wie es wissenschaftlich damit zusammenhänge, wollen wir den Gelehrten
überlassen, die übrigens, wie ich habe bemerken können, sich wohl
schwerlich jemals vereinigen werden".
"Wo fangen wir aber nun an, um am schnellsten in die Sache zu kommen?"
fragte Eduard nach einer Pause den Hauptmann, der, sich ein wenig
bedenkend, bald darauf erwiderte: "wenn es mir erlaubt ist, dem
Scheine nach weit auszuholen, so sind wir bald am Platze".
"Sein Sie meiner ganzen Aufmerksamkeit versichert", sagte Charlotte,
indem sie ihre Arbeit beseitelegte.
Und so begann der Hauptmann: "an allen Naturwesen, die wir gewahr
werden, bemerken wir zuerst, daß sie einen Bezug auf sich selbst haben.
Es klingt freilich wunderlich, wenn man etwas ausspricht, was sich
ohnehin versteht; doch nur indem man sich über das Bekannte völlig
verständig hat, kann man miteinander zum Unbekannten fortschreiten ".
"Ich dächte", fiel ihm Eduard ein, "wir machten ihr und uns die Sache
durch Beispiele bequem.
Stelle dir nur das Wasser, das öl, das Quicksilber vor, so wirst du
eine Einigkeit, einen Zusammenhang ihrer Teile finden.
Diese Einung verlassen sie nicht, außer durch Gewalt oder sonstige
Bestimmung.
Ist diese beseitigt, so treten sie gleich wieder zusammen". "Ohne
Frage", sagte Charlotte beistimmend.
"Regentropfen vereinigen sich gern zu Strömen.
Und schon als Kinder spielen wir erstaunt mit dem Quecksilber, indem
wir es in Kügelchen trennen und es wieder zusammenlaufen lassen".
"Und so darf ich wohl", fügte der Hauptmann hinzu, "eines bedeutenden
Punktes im flüchtigen Vorbeigehen erwähnen, daß nämlich dieser völlig
reine, durch Flüssigkeit mögliche Bezug sich entschieden und immer
durch die Kugelgestalt auszeichnet.
Der fallende Wassertropfen ist rund; von den Quecksilberkügelchen
haben Sie selbst gesprochen; ja ein fallendes geschmolzenes Blei, wenn
es Zeit hat, völlig zu erstarren, kommt unten in Gestalt einer Kugel
an".
"Lassen Sie mich voreilen", sagte Charlotte, "ob ich treffe, wo Sie
hinwollen.
Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muß es auch gegen
andere ein Verhältnis haben".
"Und das wird nach Verschiedenheit der Wesen verschieden sein", fuhr
Eduard eilig fort.
"Bald werden sie sich als Freunde und alte Bekannte begegnen, die
schnell zusammentreten, sich vereinigen, ohne aneinander etwas zu
verändern, wie sich Wein mit Wasser vermischt.
Dagegen werden andre fremd nebeneinander verharren und selbst durch
mechanisches Mischen und Reiben sich keinesweges verbinden; wie öl und
Wasser, zusammengerüttelt, sich den Augenblick wieder auseinander
sondert".
"Es fehlt nicht viel", sagte Charlotte, "so sieht man in diesen
einfachen Formen die Menschen, die man gekannt hat; besonders aber
erinnert man sich dabei der Sozietäten, in denen man lebte.
Die meiste ähnlichkeit jedoch mit diesen seelenlosen Wesen haben die
Massen, die in der Welt sich einander gegenüberstellen, die Stände,
die Berufsbestimmungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und
der Zivilist".
"Und doch!" versetzte Eduard; "wie diese durch Sitten und Gesetze
vereinbar sind, so gibt es auch in unserer chemischen Welt
Mittelglieder, dasjenige zu verbinden, was sich einander abweist".
"So verbinden wir", fiel der Hauptmann ein, "das öl durch Laugensalz
mit dem Wasser".
"Nur nicht zu geschwind mit Ihrem Vortrag!" sagte Charlotte, "damit
ich zeigen kann, daß ich Schritt halte.
Sind wir nicht hier schon zu den Verwandtschaften gelangt?" "ganz
richtig", erwiderte der Hauptmann; "und wir werden sie gleich in ihrer
vollen Kraft und Bestimmtheit kennenlernen.
Die jenigen Naturen, die sich beim Zusammentreffen einander schnell
ergreifen und wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt.
An den Alkalien und Säuren, die, obgleich einander entgegengesetzt und
vielleicht eben deswegen, weil sie einander entgegengesetzt sind, sich
am entschiedensten suchen und fassen, sich modifizieren und zusammen
einen neuen Körper bilden, ist diese Verwandtschaft auffallend genug.
Gedenken wir nur des Kalks, der zu allen Säuren eine große Neigung,
eine entschiedene Vereinigungslust äußert!
Sobald unser chemisches Kabinett ankommt, wollen wir Sie verschiedene
Versuche sehen lassen, die sehr unterhaltend sind und einen bessern
Begriff geben als Worte, Namen und Kunstausdrücke".
"Lassen Sie mich gestehen", sagte Charlotte, "wenn Sie diese Ihre
wunderlichen Wesen verwandt nennen, so kommen sie mir nicht sowohl als
Blutsverwandte, vielmehr als Geistes—und Seelenverwandte vor. Auf
eben diese Weise können unter Menschen wahrhaft bedeutende
Freundschaften entstehen; denn entgegengesetzte Eigenschaften machen
eine innigere Vereinigung möglich.
Und so will ich denn abwarten, was Sie mir von diesen geheimnisvollen
Wirkungen vor die Augen bringen werden.
"Ich will dich", sagte sie, zu Eduard gewendet, "jetzt im Vorlesen
nicht weiter stören und, um so viel besser unterrichtet, deinen
Vortrag mit Aufmerksamkeit vernehmen".
"Da du uns einmal aufgerufen hast", versetzte Eduard, "so kommst du so
leicht nicht los; denn eigentlich sind die verwickelten Fälle die
interessantesten.
Erst bei diesen lernt man die Grade der Verwandtschaften, die nähern,
stärkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; die
Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen
bewirken". "Kommt das traurige Wort", rief Charlotte, "das man leider
in der Welt jetzt so oft hört, auch in der Naturlehre vor?"
"Allerdings!" erwiderte Eduard.
"Es war sogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemiker, daß man sie
Scheidekünstler nannte".
"Das tut man also nicht mehr", versetzte Charlotte, "und tut sehr wohl
daran.
Das Vereinigen ist eine größere Kunst, ein größeres Verdienst.
Ein Einungskünstler wäre in jedem Fache der ganzen Welt willkommen.
"Nun so laßt mich denn, weil ihr doch einmal im Zug seid, ein paar
solche Fälle wissen!" "So schließen wir uns denn gleich", sagte der
Hauptmann, "an dasjenige wieder an, was wir oben schon benannt und
besprochen haben.
Zum Beispiel was wir Kalkstein nennen, ist eine mehr oder weniger
reine Kalkerde, innig mit einer zarten Säure verbunden, die uns in
Luftform bekannt geworden ist.
Bringt man ein Stück solchen Steines in verdünnte Schwefelsäure, so
ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips; jene zarte,
luftige Säure hingegen entflieht.
Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden, und man
glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft
anzuwenden, weil es wirklich aussieht, als wenn ein Verhältnis dem
andern vorgezogen, eins vor dem andern erwählt würde".
"Verzeihen Sie mir", sagte Charlotte, "wie ich dem Naturforscher
verzeihe; aber ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine
Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende
vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit.
Gelegenheit macht Verhältnisse, wie sie Diebe macht; und wenn von
Ihren Naturkörpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den
Händen des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt.
Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott!
In dem gegenwärtigen Falle dauert mich nur die arme Luftsäure, die
sich wieder im Unendlichen herumtreiben muß".
"Es kommt nur auf sie an", versetzte der Hauptmann, "sich mit dem
Wasser zu verbinden und als Mineralquelle Gesunden und Kranken zur
Erquickung zu dienen".
"Der Gips hat gut reden", sagte Charlotte; "der ist nun fertig, ist
ein Körper, ist versorgt, anstatt daß jenes ausgetriebene Wesen noch
manche Not haben kann, bis es wieder unterkommt".
"Ich müßte sehr irren", sagte Eduard lächelnd, "oder es steckt eine
kleine Tücke hinter deinen Reden.
Gesteh nur deine Schalkheit!
Am Ende bin ich in deinen Augen der Kalk, der vom Hauptmann, als einer
Schwefelsäure, ergriffen, deiner anmutigen Gesellschaft entzogen und
in einen refraktären Gips verwandelt wird".
"Wenn das Gewissen", versetzte Charlotte, "dich solche Betrachtungen
machen heißt, so kann ich ohne Sorge sein.
Diese Gleichnisreden sind artig und unterhaltend, und wer spielt nicht
gern mit ähnlichkeiten!
Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht,
und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft
etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst
zurückzukehren und den Wert solcher Ausdrücke bei diesem Anlaß recht
zu bedenken.
Mir sind leider Fälle genug bekannt, wo eine innige, unauflöslich
scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentlich Zugesellung
eines dritten aufgehoben und eins der erst so schön verbundenen ins
lose Weite hinausgetrieben ward".
"Da sind die Chemiker viel galanter", sagte Eduard; "sie gesellen ein
viertes dazu, damit keines leer ausgehe".
"Jawohl!" versetzte der Hauptmann; "diese Fälle sind allerdings die
bedeutendsten und merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das
Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers
Kreuz wirklich darstellen kann, wo vier bisher je zwei zu zwei
verbundene Wesen, in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung
verlassen und sich aufs neue verbinden.
In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen
glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen
Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu und hält das Kunstwort
'Wahlverwandtschaften' für vollkommen gerechtfertigt".
"Beschreiben Sie mir einen solchen Fall!" sagte Charlotte. "Man
sollte dergleichen", versetzte der Hauptmann, "nicht mit Worten abtun.
Wie schon gesagt: sobald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen kann,
wird alles anschaulicher und angenehmer werden.
Jetzt müßte ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen
doch keine Vorstellung gäben.
Man muß diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer
bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen,
wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören,
verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder
in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten : dann traut man
ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu, weil
wir unsere Sinne kaum genügend fühlen, sie recht zu beobachten, und
unsre Vernunft kaum hinlänglich, sie zu fassen".
"Ich leugne nicht", sagte Eduard, "daß die seltsamen Kunstwörter
demjenigen, der nicht durch sinnliches Anschauen, durch Begriffe mit
ihnen versöhnt ist, beschwerlich, ja lächerlich werden müssen.
Doch könnten wir leicht mit Buchstaben einstweilen das Verhältnis
ausdrücken, wovon hier die Rede war".
"Wenn Sie glauben, daß es nicht pedantisch aussieht", versetzte der
Hauptmann, "so kann ich wohl in der Zeichensprache mich kürzlich
zusammenfassen.
Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch
viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken
Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie nun
die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu C, C zu B werfen, ohne
daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem
andern zuerst wieder verbunden habe".
"Nun denn!" fiel Eduard ein; "bis wir alles dieses mit Augen sehen,
wollen wir diese Formel als Gleichnisrede betrachten, woraus wir uns
eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen.
Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B; denn eigentlich hänge
ich doch nur von dir ab und folge dir wie dem A das B.
Das C ist ganz deutlich der Kapitän, der mich für diesmal dir
einigermaßen entzieht.
Nun ist es billig, daß, wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen
sollst, dir für ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne Frage das
liebenswürdige Dämchen Ottilie, gegen deren Annäherung du dich nicht
länger verteidigen darfst".
"Gut!" versetzte Charlotte.
"Wenn auch das Beispiel, wie mir scheint, nicht ganz auf unsern Fall
paßt, so halte ich es doch für ein Glück, daß wir heute einmal völlig
zusammentreffen und daß diese Natur—und Wahlverwandtschaften unter
uns eine vertrauliche Mitteilung beschleunigen. Ich will es also nur
gestehen, daß ich seit diesem Nachmittage entschlossen bin, Ottilien
zu berufen; denn meine bisherige treue Beschließerin und Haushälterin
wird abziehen, weil sie heiratet.
Dies wäre von meiner Seite und um meinetwillen; was mich um Ottiliens
willen bestimmt, das wirst du uns vorlesen.
Ich will dir nicht ins Blatt sehen, aber freilich ist mir der Inhalt
schon bekannt.
Doch ließ nur, lies!" Mit diesen Worten zog sie einen Brief hervor
und reichte ihn Eduarden.
"Euer Gnaden werden verzeihen, wenn ich mich heute ganz kurz fassen;
denn ich habe nach vollendeter öffentlicher Prüfung dessen, was wir im
vergangenen Jahr an unsern Zöglingen geleistet haben, an die
sämtlichen Eltern und Vorgesetzten den Verlauf zu melden; auch darf
ich wohl kurz sein, weil ich mit wenigem viel sagen kann.
Ihre Fräulein Tochter hat sich in jedem Sinne als die Erste bewiesen.
Die beiliegenden Zeugnisse, ihr eigner Brief, der die Beschreibung der
Preise enthält, die ihr geworden sind, und zugleich das Vergnügen
ausdrückt, das sie über ein so glückliches Gelingen empfindet, wird
Ihnen zur Beruhigung, ja zur Freude gereichen.
Die meinige wird dadurch einigermaßen gemindert, daß ich voraussehe,
wir werden nicht lange mehr Ursache haben, ein so weit
vorgeschrittenes Frauenzimmer bei uns zurückzuhalten.
Ich empfehle mich zu Gnaden und nehme mir die Freiheit, nächstens
meine Gedanken über das, was ich am vorteilhaftesten für sie halte, zu
eröffnen.
Von Ottilien schreibt mein freundlicher Gehülfe".
"Von Ottilien läßt mich unsre ehrwürdige Vorsteherin schreiben, teils
weil es ihr, nach ihrer Art zu denken, peinlich wäre, dasjenige, was
zu melden ist, zu melden, teils auch, weil sie selbst einer
Entschuldigung bedarf, die sie lieber mir in den Mund legen mag.
Da ich nur allzuwohl weiß, wie wenig die gute Ottilie das zu äußern
imstande ist, was in ihr liegt und was sie vermag, so war mir vor der
öffentlichen Prüfung einigermaßen bange, um so mehr, als überhaupt
dabei keine Vorbereitung möglich ist, und auch, wenn es nach der
gewöhnlichen Weise sein könnte, Ottilie auf den Schein nicht
vorzubereiten wäre.
Der Ausgang hat meine Sorge nur zu sehr gerechtfertigt; sie hat keinen
Preis erhalten und ist auch unter denen, die kein Zeugnis empfangen
haben.
Was soll ich viel sagen?
Im Schreiben hatten andere kaum so wohlgeformte Buchstaben, doch viel
freiere Züge; im Rechnen waren alle schneller, und an schwierige
Aufgaben, welche sie besser löst, kam es bei der Untersuchung nicht.
Im Französischen überparlierten und überexponierten sie manche; in der
Geschichte waren ihr Namen und Jahrzahlen nicht gleich bei der Hand;
bei der Geographie vermißte man Aufmerksamkeit auf die politische
Einleitung.
Zum musikalischen Vortrag ihrer wenigen bescheidenen Melodien fand
sich weder Zeit noch Ruhe.
Im Zeichnen hätte sie gewiß den Preis davongetragen; ihre Umrisse
waren rein und die Ausführung bei vieler Sorgfalt geistreich.
Leider hatte sie etwas zu Großes unternommen und war nicht fertig
geworden.
Als die Schülerinnen abgetreten waren, die Prüfenden zusammen Rat
hielten und uns Lehrern wenigstens einiges Wort dabei gönnten, merkte
ich wohl bald, daß von Ottilien gar nicht und, wenn es geschah, wo
nicht mit Mißbilligung, doch mit Gleichgültigkeit gesprochen wurde.
Ich hoffte, durch eine offne Darstellung ihrer Art zu sein einige
Gunst zu erregen, und wagte mich daran mit doppeltem Eifer, einmal,
weil ich nach meiner überzeugung sprechen konnte, und sodann, weil ich
mich in jüngeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden
hatte.
Man hörte mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte,
sagte mir der vorsitzende Prüfende zwar freundlich, aber lakonisch:
'Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden.
Dies ist der Zweck aller Erziehung, dies ist die laute, deutliche
Absicht der Eltern und Vorgesetzten, die stille, nur halb bewußte der
Kinder selbst.
Dies ist auch der Gegenstand der Prüfung, wobei zugleich Lehrer und
Schüler beurteilt werden.
Aus dem, was wir von Ihnen vernehmen, schöpfen wir gute Hoffnung von
dem Kinde, und Sie sind allerdings lobenswürdig, indem Sie auf die
Fähigkeiten der Schülerinnen genau achtgeben.
Verwandeln Sie solche übers Jahr in Fertigkeiten, so wird es Ihnen und
Ihrer begünstigten Schülerin nicht an Beifall mangeln.
' In das, was hierauf folgte, hatte ich mich schon ergeben, aber ein
noch übleres nicht befürchtet, das sich bald darauf zutrug.
Unsere gute Vorsteherin, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von
ihren Schäfchen verloren oder, wie es hier der Fall war, ungeschmückt
sehen möchte, konnte, nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren
Unwillen nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die
andern sich über ihre Preise freuten, am Fenster stand: 'aber sagen
Sie mir, um 's Himmels willen!
Wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht ist?'
Ottilie versetzte ganz gelassen: 'verzeihen Sie, liebe Mutter, ich
habe gerade heute wieder mein Kopfweh, und ziemlich stark'.—'Das
kann niemand wissen!' Versetzte die sonst so teilnehmende Frau und
kehrte sich verdrießlich um.
Nun es ist wahr: niemand kann es wissen; denn Ottilie verändert das
Gesicht nicht, und ich habe auch nicht gesehen, daß sie einmal die
Hand nach dem Schlafe zu bewegt hätte.
Das war noch nicht alles.
Ihre Fräulein Tochter, gnädige Frau, sonst lebhaft und freimütig, war
im Gefühl ihres heutigen Triumphs ausgelassen und übermütig.
Sie sprang mit ihren Preisen und Zeugnissen in den Zimmern herum und
schüttelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht.
"Du bist heute schlecht gefahren!" rief sie aus.
Ganz gelassen antwortete Ottilie: "es ist noch nicht der letzte
Prüfungstag".—"Und doch wirst du immer die Letzte bleiben!" rief das
Fräulein und sprang hinweg.
Ottilie schien gelassen für jeden andern, nur nicht für mich. Eine
innere, unangenehme, lebhafte Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich
durch eine ungleiche Farbe des Gesichts.
Die linke Wange wird auf einen Augenblick rot, indem die rechte bleich
wird.
Ich sah dies Zeichen, und meine Teilnehmung konnte sich nicht
zurückhalten.
Ich führte unsre Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit ihr über
die Sache.
Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler.
Wir berieten, wir besprachen uns lange, und ohne deshalb weitläufiger
zu sein, will ich Euer Gnaden unsern Beschluß und unsre Bitte
vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu sich zu nehmen.
Die Gründe werden Sie sich selbst am besten entfalten.
Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr über die Behandlung des
guten Kindes.
Verläßt uns dann Ihre Fräulein Tochter, wie zu vermuten steht, so
sehen wir Ottilien mit Freuden zurückkehren.
Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen könnte: ich habe
nie gesehen, daß Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend
gebeten hätte.
Dagegen kommen Fälle, wiewohl selten, daß sie etwas abzulehnen sucht,
was man von ihr fordert.
Sie tut das mit einer Gebärde, die für den, der den Sinn davon gefaßt
hat, unwiderstehlich ist.
Sie drückt die flachen Hände, die sie in die Höhe hebt, zusammen und
führt sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigt und
den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, daß er gern
von allem absteht, was er verlangen oder wünschen möchte.
Sehen Sie jemals diese Gebärde, gnädige Frau, wie es bei Ihrer
Behandlung nicht wahrscheinlich ist, so gedenken Sie meiner und
schonen Ottilien".
Eduard hatte diese Briefe vorgelesen, nicht ohne Lächeln und
Kopfschütteln.
Auch konnte es an Bemerkungen über die Personen und über die Lage der
Sache nicht fehlen.
"Genug!" rief Eduard endlich aus; "es ist entschieden, sie kommt!
Für dich wäre gesorgt, meine Liebe, und wir dürfen nun auch mit unserm
Vorschlag hervorrücken.
Es wird höchst nötig, daß ich zu dem Hauptmann auf den rechten Flügel
hinüberziehe.
Sowohl abends als morgens ist erst die rechte Zeit, zusammen zu
arbeiten.
Du erhältst dagegen für dich und Ottilien auf deiner Seite den
schönsten Raum".
Charlotte ließ sichs gefallen, und Eduard schilderte ihre künftige
Lebensart.
Unter andern rief er aus: "es ist doch recht zuvorkommend von der
Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es
manchmal auf der rechten.
Trifft es zusammen und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten
Ellbogen, sie auf den linken gestützt und die Köpfe nach verschiedenen
Seiten in die Hand gelegt, so muß das ein Paar artige Gegenbilder
geben".
Der Hauptmann wollte das gefährlich finden.
Eduard hingegen rief aus: "nehmen Sie sich nur, lieber Freund, vor dem
D in acht!
Was sollte B denn anfangen, wenn ihm C entrissen würde?" "Nun, ich
dächte doch", versetzte Charlotte, "das verstünde sich von selbst".
"Freilich", rief Eduard; "es kehrte zu seinem A zurück, zu seinem A
und O!" rief er, indem er aufsprang und Charlotten fest an seine Brust
drückte.
Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren.
Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr zu nähern,
warf sich ihr zu Füßen und umfaßte ihre Kniee.
"Wozu die Demütigung!" sagte Charlotte, die einigermaßen verlegen war
und sie aufheben wollte.
"Es ist so demütig nicht gemeint", versetzte Ottilie, die in ihrer
vorigen Stellung blieb.
"Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht höher
reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiß war".
Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich.
Sie ward den Männern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als
Gast behandelt.
Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast.
Sie schien aufmerksam auf das Gespräch, ohne daß sie daran
teilgenommen hätte.
Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: "es ist ein angenehmes,
unterhaltendes Mädchen".
"Unterhaltend?" versetzte Charlotte mit Lächeln;" sie hat ja den Mund
noch nicht aufgetan".
"So?" erwiderte Eduard, indem er sich zu besinnen schien, "das wäre
doch wunderbar!" Charlotte gab dem neuen Ankömmling nur wenig Winke,
wie es mit dem Hausgeschäfte zu halten sei.
Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen, ja, was noch mehr
ist, empfunden.
Was sie für alle, für einen jeden insbesondre zu besorgen hatte,
begriff sie leicht.
Alles geschah pünktlich.
Sie wußte anzuordnen, ohne daß sie zu befehlen schien, und wo jemand
säumte, verrichtete sie das Geschäft gleich selbst.
Sobald sie gewahr wurde, wieviel Zeit ihr übrigblieb, bat sie
Charlotten, ihre Stunden einteilen zu dürfen, die nun genau beobachtet
wurden.
Sie arbeitete das Vorgesetzte auf eine Art, von der Charlotte durch
den Gehülfen unterrichtet war.
Man ließ sie gewähren.
Nur zuweilen suchte Charlotte sie anzuregen.
So schob sie ihr manchmal abgeschriebene Federn unter, um sie auf
einen freieren Zug der Handschrift zu leiten; aber auch diese waren
bald wieder scharf geschnitten.
Die Frauenzimmer hatten untereinander festgesetzt, französisch zu
reden, wenn sie allein wären, und Charlotte beharrte um so mehr dabei,
als Ottilie gesprächiger in der fremden Sprache war, indem man ihr die
übung derselben zur Pflicht gemacht hatte.
Hier sagte sie oft mehr, als sie zu wollen schien.
Besonders ergetzte sich Charlotte an einer zufälligen, zwar genauen,
aber doch liebevollen Schilderung der ganzen Pensionsanstalt.
Ottilie ward ihr eine liebe Gesellschafterin, und sie hoffte, dereinst
an ihr eine zuverlässige Freundin zu finden.
Charlotte nahm indes die älteren Papiere wieder vor, die sich auf
Ottilien bezogen, um sich in Erinnerung zu bringen, was die
Vorsteherin, was der Gehülfe über das gute Kind geurteilt, um es mit
ihrer Persönlichkeit selbst zu vergleichen.
Denn Charlotte war der Meinung, man könne nicht geschwind genug mit
dem Charakter der Menschen bekannt werden, mit denen man zu leben hat,
um zu wissen, was sich von ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden
läßt, oder was man ihnen ein für allemal zugestehen und verzeihen muß.
Sie fand zwar bei dieser Untersuchung nichts Neues, aber manches
Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender.
So konnte ihr zum Beispiel Ottiliens Mäßigkeit im Essen und Trinken
wirklich Sorge machen.
Das Nächste, was die Frauen beschäftigte, war der Anzug.
Charlotte verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und
mehr ausgesucht erscheinen.
Sogleich schnitt das gute, tätige Kind die ihr früher geschenkten
Stoffe selbst zu und wußte sie sich mit geringer Beihülfe anderer
schnell und höchst zierlich anzupassen.
Die neuen, modischen Gewänder erhöhten ihre Gestalt; denn indem das
Angenehme einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet, so glaubt
man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre
Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt.
Dadurch ward sie den Männern, wie von Anfang so immer mehr, daß wir es
nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Augentrost.
Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut,
ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausübt, so wirkt die
menschliche Schönheit noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und
innern Sinn.
Wer sie erblickt, den kann nichts übles anwehen; er fühlt sich mit
sich selbst und mit der Welt in übereinstimmung.
Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft
gewonnen.
Die beiden Freunde hielten regelmäßiger die Stunden, ja die Minuten
der Zusammenkünfte.
Sie ließen weder zum Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang länger
als billig auf sich warten.
Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte
bemerkte das wohl und ließ beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu
erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlaß gäbe; aber sie
konnte keinen Unterschied bemerken.
Beide zeigten sich überhaupt geselliger.
Bei ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken, was Ottiliens
Teilnahme zu erregen geeignet sein möchte, was ihren Einsichten, ihren
übrigen Kenntnissen gemäß wäre.
Beim Lesen und Erzählen hielten sie inne, bis sie wiederkam. Sie
wurden milder und im ganzen mitteilender.
In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit
jedem Tage.
Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhältnisse kennenlernte,
desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand sie jeden
Blicke, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut.
Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre
gelassene Regsamkeit.
Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen, Bringen,
Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel,
eine ewige angenehme Bewegung.
Dazu kam, daß man sie nicht gehen hörte; so leise trat sie auf.
Diese anständige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele
Freude.
Ein einziges, was ihr nicht ganz angemessen vorkam, verbarg sie
Ottilien nicht.
"Es gehört", sagte sie eines Tages zu ihr, "unter die lobenswürdigen
Aufmerksamkeiten, daß wir uns schnell bücken, wenn jemand etwas aus
der Hand fallen läßt, und es eilig aufzuheben suchen.
Wir bekennen uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der
größern Welt dabei zu bedenken, wenn man eine solche Ergebenheit
bezeigt.
Gegen Frauen will ich dir darüber keine Gesetze vorschreiben. Du bist
jung.
Gegen Höhere und ältere ist es Schuldigkeit, gegen deinesgleichen
Artigkeit, gegen Jüngere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich
und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich
Männern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen".
"Ich will es mir abzugewöhnen suchen", versetzte Ottilie.
"Indessen werden Sie mir diese Unschicklichkeit vergeben, wenn ich
Ihnen sage, wie ich dazu gekommen bin.
Man hat uns die Geschichte gelehrt; ich habe nicht soviel daraus
behalten, als ich wohl gesollt hätte; denn ich wußte nicht, wozu ichs
brauchen würde.
Nur einzelne Begebenheiten sind mir sehr eindrücklich gewesen, so
folgende: als Karl der Erste von England von seinen sogenannten
Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stöckchens, das er trug,
herunter.
Gewohnt, daß bei solchen Gelegenheiten sich alles für ihn bemühte,
schien er sich umzusehen und zu erwarten, daß ihm jemand auch diesmal
den kleinen Dienst erzeigen sollte.
Es regte sich niemand; er bückte sich selbst, um den Kopf aufzuheben.
Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiß nicht, ob mit Recht, daß ich
von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus den Händen fallen
sehn, ohne mich darnach zu bücken.
Da es aber freilich nicht immer schicklich sein mag und ich", fuhr sie
lächelnd fort, "nicht jederzeit meine Geschichte erzählen kann, so
will ich mich künftig mehr zurückhalten".
Indessen hatten die guten Anstalten, zu denen sich die beiden Freunde
berufen fühlten, ununterbrochenen Fortgang.
Ja täglich fanden sie neuen Anlaß, etwas zu bedenken und zu
unternehmen.
Als sie eines Tages zusammen durch das Dorf gingen, bemerkten sie
mißfällig, wie weit es an Ordnung und Reinlichkeit hinter jenen
Dörfern zurückstehe, wo die Bewohner durch die Kostbarkeit des Raums
auf beides hingewiesen werden.
"Du erinnerst dich", sagte der Hauptmann, "wie wir auf unserer Reise
durch die Schweiz den Wunsch äußerten, eine ländliche sogenannte
Parkanlage recht eigentlich zu verschönern, indem wir ein so gelegnes
Dorf nicht zur Schweizer Bauart, sondern zur Schweizer Ordnung und
Sauberkeit, welche die Benutzung so sehr befördern, einrichteten".
"Hier zum Beispiel", versetzte Eduard, "ginge das wohl an.
Der Schloßberg verläuft sich in einen vorspringenden Winkel herunter;
das Dorf ist ziemlich regelmäßig im Halbzirkel gegenüber gebaut;
dazwischen fließt der Bach, gegen dessen Anschwellen sich der eine mit
Steinen, der andere mit Pfählen, wieder einer mit Balken und der
Nachbar sodann mit Planken verwahren will, keiner aber den andern
fördert, vielmehr sich und den übrigen Schaden und Nachteil bringt.
So geht der Weg auch in ungeschickter Bewegung bald herauf, bald herab,
bald durchs Wasser, bald über Steine.
Wollten die Leute mit Hand anlegen, so würde kein großer Zuschuß nötig
sein, um hier eine Mauer im Halbkreis aufzuführen, den Weg dahinter
bis an die Häuser zu erhöhen, den schönsten Raum herzustellen, der
Reinlichkeit Platz zu geben und durch eine ins Große gehende Anstalt
alle kleine, unzulängliche Sorge auf einmal zu verbannen".
"Laß es uns versuchen!" sagte der Hauptmann, indem er die Lage mit den
Augen überlief und schnell beurteilte.
"Ich mag mit Bürgern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen
nicht geradezu befehlen kann", versetzte Eduard.
"Du hast so unrecht nicht", erwiderte der Hauptmann; "denn auch mir
machten dergleichen Geschäfte im Leben schon viel Verdruß.
Wie schwer ist es, daß der Mensch recht abwäge, was man aufopfern muß
gegen das, was zu gewinnen ist, wie schwer, den Zweck zu wollen und
die Mittel nicht zu verschmähen!
Viele verwechseln gar die Mittel und den Zweck, erfreuen sich an jenen,
ohne diesen im Auge zu behalten.
Jedes übel soll an der Stelle geheilt werden, wo es zum Vorschein
kommt, und man bekümmert sich nicht um jenen Punkt, wo es eigentlich
seinen Ursprung nimmt, woher es wirkt.
Deswegen ist es so schwer, Rat zu pflegen, besonders mit der Menge,
die im Täglichen ganz verständig ist, aber selten weiter sieht als auf
morgen.
Kommt nun gar dazu, daß der eine bei einer gemeinsamen Anstalt
gewinnen, der andre verlieren soll, da ist mit Vergleich nun gar
nichts auszurichten.
Alles eigentlich gemeinsame Gute muß durch das unumschränkte
Mejestätsrecht gefördert werden".
Indem sie standen und sprachen, bettelte sie ein Mensch an, der mehr
frech als bedürftig aussah.
Eduard, ungern unterbrochen und beunruhigt, schalt ihn, nachdem er ihn
einigemal vergebens gelassener abgewiesen hatte.
Als aber der Kerl sich murrend, ja gegenscheltend mit kleinen
Schritten entfernte, auf die Rechte des Bettlers trotzte, dem man wohl
ein Almosen versagen, ihn aber nicht beleidigen dürfe, weil er so gut
wie jeder andere unter dem Schutze Gottes und der Obrigkeit stehe, kam
Eduard ganz aus der Fassung.
Der Hauptmann, ihn zu begütigen, sagte darauf: "laß uns diesen Vorfall
als eine Aufforderung annehmen, unsere ländliche Polizei auch hierüber
zu erstrecken!
Almosen muß man einmal geben; man tut aber besser, wenn man sie nicht
selbst gibt, besonders zu Hause.
Da sollte man mäßig und gleichförmig in allem sein, auch im Wohltun.
Eine allzu reichliche Gabe lockt Bettler herbei, anstatt sie
abzufertigen, dagegen man wohl auf der Reise, im Vorbeifliegen, einem
Armen an der Straße in der Gestalt des zufälligen Glücks erscheinen
und ihm eine überraschende Gabe zuwerfen mag.
Uns macht die Lage des Dorfes, des Schlosses eine solche Anstalt sehr
leicht; ich habe schon früher darüber nachgedacht.
An dem einen Ende des Dorfes liegt das Wirtshaus, an dem andern wohnen
ein Paar alte, gute Leute; an beiden Orten mußt du eine kleine
Geldsumme niederlegen.
Nicht der ins Dorf Hereingehende, sondern der Hinausgehende erhält
etwas; und da die beiden Häuser zugleich an den Wegen stehen, die auf
das Schloß führen, so wird auch alles, was sich hinaufwenden wollte,
an die beiden Stellen gewiesen".
"Komm", sagte Eduard, "wir wollen das gleich abmachen; das Genauere
können wir immer noch nachholen".
Sie gingen zum Wirt und zu dem alten Paare, und die Sache war abgetan.
"Ich weiß recht gut", sagte Eduard, indem sie zusammen den Schloßberg
wieder hinaufstiegen, "daß alles in der Welt ankommt auf einen
gescheiten Einfall und auf einen festen Entschluß.
So hast du die Parkanlagen meiner Frau sehr richtig beurteilt und mir
auch schon einen Wink zum Bessern gegeben, den ich ihr, wie ich gar
nicht leugnen will, sogleich mitgeteilt habe".
"Ich konnte es vermuten", versetzte der Hauptmann, "aber nicht
billigen.
Du hast sie irregemacht; sie läßt alles liegen und trutzt in dieser
einzigen Sache mit uns; denn sie vermeidet davon zu reden und hat uns
nicht wieder zur Mooshütte eingeladen, ob sie gleich mit Ottilien in
den Zwischenstunden hinaufgeht".
"Dadurch müssen wir uns", versetzte Eduard, "nicht abschrecken lassen.
Wenn ich von etwas Gutem überzeugt bin, was geschehen könnte und
sollte, so habe ich keine Ruhe, bis ich es getan sehe.
Sind wir doch sonst klug, etwas einzuleiten!
Laß uns die englischen Parkbeschreibungen mit Kupfern zur
Abendunterhaltung vornehmen, nachher deine Gutskarte!
Man muß es erst problematisch und nur wie zum Scherz behandeln; der
Ernst wird sich schon finden".
Nach dieser Verabredung wurden die Bücher aufgeschlagen, worin man
jedesmal den Grundriß der Gegend und ihre landschaftliche Ansicht in
ihrem ersten, rohen Naturzustande gezeichnet sah, sodann auf andern
Blättern die Veränderung vorgestellt fand, welche die Kunst daran
vorgenommen, um alles das bestehende Gute zu nutzen und zu steigern.
Hievon war der übergang zur eigenen Besitzung, zur eignen Umgebung und
zu dem, was man daran ausbilden könnte, sehr leicht.
Die von dem Hauptmann entworfene Karte zum Grunde zu legen, war
nunmehr eine angenehme Beschäftigung; nur konnte man sich von jener
ersten Vorstellung, nach der Charlotte die Sache einmal angefangen
hatte, nicht ganz losreißen.
Doch erfand man einen leichtern Aufgang auf die Höhe; man wollte
oberwärts am Abhange vor einem angenehmen Hölzchen ein Lustgebäude
aufführen; dieses sollte einen Bezug aufs Schloß haben; aus den
Schloßfenstern sollte man es übersehen, von dorther Schloß und Gärten
wieder bestreichen können.
Der Hauptmann hatte alles wohl überlegt und gemessen und brachte jenen
Dorfweg, jene Mauer am Bache her, jene Ausfüllung wieder zur Sprache.
"Ich gewinne", sagte er, "indem ich einen bequemen Weg zur Anhöhe
hinaufführe, gerade soviel Steine, als ich zu jener Mauer bedarf.
Sobald eins ins andre greift, wird beides wohlfeiler und geschwinder
bewerkstelligt".
"Nun aber", sagte Charlotte, "kommt meine Sorge.
Notwendig muß etwas Bestimmtes ausgesetzt werden; und wenn man weiß,
wieviel zu einer solchen Anlage erforderlich ist, dann teilt man es
ein, wo nicht auf Wochen, doch wenigstens auf Monate.
Die Kasse ist unter meinem Beschluß; ich zahle die Zettel, und die
Rechnung führe ich selbst".
"Du scheinst uns nicht sonderlich viel zu vertrauen", sagte Eduard.
"Nicht viel in willkürlichen Dingen", versetzte Charlotte. "Die
Willkür wissen wir besser zu beherrschen als ihr".
Die Einrichtung war gemacht, die Arbeit rasch angefangen, der
Hauptmann immer gegenwärtig und Charlotte nunmehr fast täglich Zeuge
seines ernsten und bestimmten Sinnes.
Auch er lernte sie näher kennen, und beiden wurde es leicht,
zusammenzuwirken und etwas zustande zu bringen.
Es ist mit den Geschäften wie mit dem Tanze: Personen, die gleichen
Schritt halten, müssen sich unentbehrlich werden, ein wechselseitiges
Wohlwollen muß notwendig daraus entspringen, und daß Charlotte dem
Hauptmann, seitdem sie ihn näher kennengelernt, wirklich wohlwollte,
davon war ein sicherer Beweis, daß sie ihn einen schönen Ruheplatz,
den sie bei ihren ersten Anlagen besonders ausgesucht und verziert
hatte, der aber seinem Plane entgegenstand, ganz gelassen zerstören
ließ, ohne auch nur die mindeste unangenehme Empfindung dabei zu haben.
Indem nun Charlotte mit dem Hauptmann eine gemeinsame Beschäftigung
fand, so war die Folge, daß sich Eduard mehr zu Ottilien gesellte.
Für sie sprach ohnehin seit einiger Zeit eine stille, freundliche
Neigung in seinem Herzen.
Gegen jedermann war sie dienstfertig und zuvorkommend; daß sie es
gegen ihn am meisten sei, das wollte seiner Selbstliebe scheinen.
Nun war keine Frage: was für Speisen und wie er sie liebte, hatte sie
schon genau bemerkt; wieviel er Zucker zum Tee zu nehmen pflegte und
was dergleichen mehr ist, entging ihr nicht.
Besonders war sie sorgfältig, alle Zugluft abzuwehren, gegen die er
eine übertriebene Empfindlichkeit zeigte und deshalb mit seiner Frau,
der es nicht luftig genug sein konnte, manchmal in Widerspruch geriet.
Ebenso wußte sie im Baum—und Blumengarten Bescheid.
Was er wünschte, suchte sie zu befördern, was ihn ungeduldig machen
konnte, zu verhüten, dergestalt daß sie in kurzem wie ein freundlicher
Schutzgeist ihm unentbehrlich ward und er anfing, ihre Abwesenheit
schon peinlich zu empfinden.
Hiezu kam noch, daß sie gesprächtiger und offener schien, sobald sie
sich allein trafen.
Eduard hatte bei zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten,
das der Jugend Ottiliens besonders zusagte.
Sie erinnerten sich gern früherer Zeiten, wo sie einander gesehen; es
stiegen diese Erinnerungen bis in die ersten Epochen der Neigung
Eduards zu Charlotten.
Ottilie wollte sich der beiden noch als des schönsten Hofpaares
erinnern; und wenn Eduard ihr ein solches Gedächtnis aus ganz früher
Jugend absprach, so behauptete sie doch, besonders einen Fall noch
vollkommen gegenwärtig zu haben, wie sie sich einmal bei seinem
Hereintreten in Charlottens Schoß versteckt, nicht aus Furcht, sondern
aus kindischer überraschung.
Sie hätte dazusetzen können: weil er so lebhaften Eindruck auf sie
gemacht, weil er ihr gar so wohl gefallen.
Bei solchen Verhältnissen waren manche Geschäfte, welche die beiden
Freunde zusammen früher vorgenommen, gewissermaßen in Stocken geraten,
sodaß sie für nötig fanden, sich wieder eine übersicht zu verschaffen,
einige Aufsätze zu entwerfen, Briefe zu schreiben.
Sie bestellten sich deshalb auf ihre Kanzlei, wo sie den alten
Kopisten müßig fanden.
Sie gingen an die Arbeit und gaben ihm bald zu tun, ohne zu bemerken,
daß sie ihm manches aufbürdeten, was sie sonst selbst zu verrichten
gewohnt waren.
Gleich der erste Aufsatz wollte dem Hauptmann, gleich der erste Brief
Eduarden nicht gelingen.
Sie quälten sich eine Zeitlang mit Konzipieren und Umschreiben, bis
endlich Eduard, dem es am wenigsten vonstatten ging, nach der Zeit
fragte.
Da zeigte sich denn, daß der Hauptmann vergessen hatte, seine
chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen
Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, daß
die Zeit anfange, ihnen gleichgültig zu werden.
Indem so die Männer einigermaßen in ihrer Geschäftigkeit nachließen,
wuchs vielmehr die Tätigkeit der Frauen.
überhaupt nimmt die gewöhnliche Lebensweise einer Familie, die aus den
gegebenen Personen und aus notwendigen Umständen entspringt, auch wohl
eine außerordentliche Neigung, eine werdende Leidenschaft in sich wie
ein Gefäß auf, und es kann eine ziemliche Zeit vergehen, ehe dieses
neue Ingrediens eine merkliche Gärung verursacht und schäumend über
den Rand schwillt.
Bei unsern Freunden waren die entstehenden wechselseitigen Neigungen
von der angenehmsten Wirkung.
Die Gemüter öffneten sich, und ein allgemeines Wohlwollen entsprang
aus dem besonderen.
Jeder Teil fühlte sich glücklich und gönnte dem andern sein Glück.
Ein solcher Zustand erhebt den Geist, indem er das Herz erweitert, und
alles, was man tut und vornimmt, hat eine Richtung gegen das
Unermeßliche.
So waren auch die Freunde nicht mehr in ihrer Wohnung befangen.
Ihre Spaziergänge dehnten sich weiter aus, und wenn dabei Eduard mit
Ottilien, die Pfade zu wählen, die Wege zu bahnen, vorauseilte, so
folgte der Hauptmann mit Charlotten in bedeutender Unterhaltung,
Teilnehmend an manchem neuentdeckten Plätzchen, an mancher
unerwarteten Aussicht, geruhig der Spur jener rascheren Vorgänger.
Eines Tages leitete sie ihr Spaziergang durch die Schloßpforte des
rechten Flügels hinunter nach dem Gasthofe, über die Brücke gegen die
Teiche zu, an denen sie hingingen, soweit man gewöhnlich das Wasser
verfolgte, dessen Ufer sodann, von einem buschigen Hügel und witerhin
von Felsen eingeschlossen, aufhörte, gangbar zu sein. Aber Eduard,
dem von seinen Jagdwanderungen her die Gegend bekannt war, drang mit
Ottilien auf einem bewachsenen Pfade weiter vor, wohl wissend, daß die
alte, zwischen Felsen versteckte Mühle nicht weit abliegen konnte.
Allein der wenig betretene Pfad verlor sich bald, und sie fanden sich
im dichten Gebüsch zwischen moosigen Gestein verirrt, doch nicht lange;
denn das Rauschen der Räder verkündigte ihnen sogleich die Nähe des
gesuchten Ortes.
Auf eine Klippe vorwärts tretend, sahen sie das alte, schwarze,
wunderliche Holzgebäude im Grunde vor sich, von steilen Felsen sowie
von hohen Bäumen umschattet.
Sie entschlossen sich kurz und gut, über Moos und Felstrümmer
hinabzusteigen, Eduard voran; und wenn er nun in die Höhe sah und
Ottilie leicht schreitend, ohne Furcht und ängstlichkeit, im schönsten
Gleichgewicht von Stein zu Stein ihm folgte, glaubte er ein
himmlisches Wesen zu sehen, das über ihm schwebte.
Und wenn sie nun manchmal an unsicherer Stelle seine ausgestreckte
Hand ergriff, ja sich auf seine Schulter stützte, dann konnte er sich
nicht verleugnen, daß es das zarteste weibliche Wesen sei, das ihn
berührte.
Fast hätte er gewünscht, sie möchte straucheln, gleiten, daß er sie in
seine Arme auffangen, sie an sein Herz drücken könnte.
Doch dies hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer
Ursache: er fürchtete sie zu beleidigen, sie zu beschädigen.
Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich.
Denn als er nun herabgelangt, ihr unter den hohen Bäumen am ländlichen
Tische gegenübersaß, die freundliche Müllerin nach Milch, der
bewillkommende Müller Charlotten und dem Hauptmann entgegen gesandt
war, fing Eduard mit einigem Zaudern zu sprechen an: "ich habe eine
Bitte, liebe Ottilie; verzeihen Sie mir die, wenn Sie mir sie auch
versagen!
Sie machen kein Geheimnis daraus, und es braucht es auch nicht, daß
Sie unter Ihrem Gewand, auf Ihrer Brust ein Miniaturbild tragen.
Es ist das Bild Ihres Vaters, des braven Mannes, den Sie kaum gekannt
und der in jedem Sinne eine Stelle an Ihrem Herzen verdient.
Aber vergeben Sie mir: das Bild ist ungeschickt groß, und dieses
Metall, dieses Glas macht mir tausend ängste, wenn Sie ein Kind in die
Höhe heben, etwas vor sich hintragen, wenn die Kutsche schwankt, wenn
wir durchs Gebüsch dringen, eben jetzt, wie wir vom Felsen
herabstiegen.
Mir ist die Möglichkeit schrecklich, daß irgendein unvorgesehener Stoß,
ein Fall, eine Berührung Ihnen schädlich und verderblich sein könnte.
Tun Sie es mir zuliebe, entfernen Sie das Bild, nicht aus Ihrem
Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer; ja geben Sie ihm den schönsten, den
heiligsten Ort Ihrer Wohnung; nur von Ihrer Brust entfernen Sie etwas,
dessen Nähe mir, vielleicht aus übertriebener ängstlichkeit, so
gefährlich scheint!" Ottilie schwieg und hatte, während er sprach,
vor sich hingesehen; dann, ohne übereilung und ohne Zaudern, mit einem
Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet, löste sie die Kette,
zog das Bild hervor, drückte es gegen ihre Stirn und reichte es dem
Freunde hin mit den Worten: "heben Sie mir es auf, bis wir nach Hause
kommen! Ich vermag Ihnen nicht besser zu bezeugen, wie sehr ich Ihre
freundliche Sorgfalt zu schätzen weiß".
Der Freund wagte nicht, das Bild an seine Lippen zu drücken, aber er
faßte ihre Hand und drückte sie an seine Augen.
Es waren vielleicht die zwei schönsten Hände, die sich jemals
zusammenschlossen.
Ihm war, als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre, als wenn
sich eine Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt hätte.
Vom Müller geführt, langten Charlotte und der Hauptmann auf einem
bequemeren Pfade herunter.
Man begrüßte sich, man erfreute und erquickte sich.
Zurück wollte man denselben Weg nicht kehren, und Eduard schlug einen
Felspfad auf der andern Seite des Baches vor, auf welchem die Teiche
wieder zu Gesicht kamen, indem man ihn mit einiger Anstrengung
zurücklegte.
Nun durchstrich man abwechselndes Gehölz und erblickte nach dem Lande
zu mancherlei Dörfer, Flecken, Meiereien mit ihren grünen und
fruchtbaren Umgebungen; zunächst ein Vorwerk, das an der Höhe mitten
im Holze gar vertraulich lag.
Am schönsten zeigte sich der größte Reichtum der Gegend, vor—und
rückwärts, auf der sanfterstiegenen Höhe, von da man zu einem lustigen
Wäldchen gelangte und beim Heraustreten aus demselben sich auf dem
Felsen dem Schlosse gegenüber befand.
Wie froh waren sie, als sie daselbst gewissermaßen unvermutet ankamen!
Sie hatten eine kleine Welt umgangen; sie standen auf dem Platze, wo
das neue Gebäude hinkommen sollte, und sahen wieder in die Fenster
ihrer Wohnung.
Man stieg zur Mooshütte hinunter und saß zum erstenmal darin zu vieren.
Nichts war natürlicher, als daß einstimmig der Wunsch ausgesprochen
wurde, dieser heutige Weg, den sie langsam und nicht ohne
Beschwerlichkeit gemacht, möchte dergestalt geführt und eingerichtet
werden, daß man ihn gesellig, schlendernd und mit Behaglichkeit
zurücklegen könnte.
Jedes tat Vorschläge, und man berechnete, daß der Weg, zu welchem sie
mehrere Stunden gebraucht hatten, wohlgebahnt in einer Stunde zum
Schloß zurückführen müßte.
Schon legte man in Gedanken unterhalb der Mühle, wo der Bach in die
Teiche fließt, eine wegverkürzende und die Landschaft zierende Brücke
an, als Charlotte der erfindenden Einbildungskraft einigen Stillstand
gebot, indem sie an die Kosten erinnerte, welche zu einem solchen
Unternehmen erforderlich sein würden.
"Hier ist auch zu helfen", versetzte Eduard.
"Jenes Vorwerk im Walde, das so schön zu liegen scheint und so wenig
einträgt, dürfen wir nur veräußern und das daraus Gelöste zu diesen
Anlagen verwenden, so genießen wir vergnüglich auf einem unschätzbaren
Spaziergange die Interessen eines wohlangelegten Kapitals, da wir
jetzt mit Mißmut, bei letzter Berechnung am Schlusse des Jahrs, eine
kümmerliche Einnahme davon ziehen".
Charlotte selbst konnte als gute Haushälterin nicht viel dagegen
erinnern.
Die Sache war schon früher zur Sprache gekommen.
Nun wollte der Hauptmann einen Plan zu Zerschlagung der Grundstücke
unter die Waldbauern machen; Eduard aber wollte kürzer und bequemer
verfahren wissen.
Der gegenwärtige Pachter, der schon Vorschläge getan hatte, sollte es
erhalten, terminweise zahlen, und so terminweise wollte man die
planmäßigen Anlagen von Strecke zu Strecke vornehmen.
So eine vernünftige, gemäßigte Einrichtung mußte durchaus Beifall
finden, und schon sah die ganze Gesellschaft im Geiste die neuen Wege
sich schlängeln, auf denen und in deren Nähe man noch die angenehmsten
Ruhe—und Aussichtsplätze zu entdecken hoffte.
Um sich alles mehr im einzelnen zu vergegenwärtigen, nahm man abends
zu Hause sogleich die neue Karte vor.
Man übersah den zurückgelegten Weg und wie er vielleicht an einigen
Stellen noch vorteilhafter zu führen wäre.
Alle früheren Vorsätze wurden nochmals durchgesprochen und mit den
neuesten Gedanken verbunden, der Platz des neuen Hauses gegen dem
Schloß über nochmals gebilligt und der Kreislauf der Wege bis dahin
abgeschlossen.
Ottilie hatte zu dem allen geschwiegen, als Eduard zuletzt den Plan,
der bisher vor Charlotten gelegen, vor sie hinwandte und sie zugleich
einlud, ihre Meinung zu sagen, und, als sie einen Augenblick anhielt,
sie liebevoll ermunterte, doch ja nicht zu schweigen; alles sei ja
noch gleichgültig, alles noch im Werden.
"Ich würde", sagte Ottilie, indem sie den Finger auf die höchste
Fläche der Anhöhe setzte, "das Haus hieher bauen.
Man sähe zwar das Schloß nicht, denn es wird von dem Wäldchen bedeckt;
aber man befände sich auch dafür wie in einer andern und neuen Welt,
indem zugleich das Dorf und alle Wohnungen verborgen wären.
Die Aussicht auf die Teiche, nach der Mühle, auf die Höhen, in die
Gebirge, nach dem Lande zu ist außerordentlich schön; ich habe es im
Vorbeigehen bemerkt".
"Sie hat recht!" rief Eduard.
"Wie konnte uns das nicht einfallen!
Nicht wahr, so ist es gemeint, Ottilie?"—er nahm einen Bleistift und
strich ein längliches Viereck recht stark und derb auf die Anhöhe.
Dem Hauptmann fuhr das durch die Seele, denn er sah einen sorgfältigen,
reinlich gezeichneten Plan ungern auf diese Weise verunstaltet; doch
faßte er sich nach einer leisen Mißbilligung und ging auf den Gedanken
ein.
"Ottilie hat recht", sagte er; "macht man nicht gern eine entfernte
Spazierfahrt, um einen Kaffee zu trinken, einen Fisch zu genießen, der
uns zu Hause nicht so gut geschmeckt hätte?
Wir verlangen Abwechselung und fremde Gegenstände.
Das Schloß haben die Alten mit Vernunft hieher gebaut, denn es liegt
geschützt vor den Winden und nah an allen täglichen Bedürfnissen; ein
Gebäude hingegen, mehr zum geselligen Aufenthalt als zur Wohnung, wird
sich dorthin recht wohl schicken und in der guten Jahrszeit die
angenehmsten Stunden gewähren".
Je mehr man die Sache durchsprach, desto günstiger erschien sie, und
Eduard konnte seinen Triumph nicht bergen, daß Ottilie den Gedanken
gehabt.
Er war so stolz darauf, als ob die Erfindung sein gewesen wäre.
Der Hauptmann untersuchte gleich am frühsten Morgen den Platz, entwarf
erst einen flüchtigen und, als die Gesellschaft an Ort und Stelle sich
nochmals entschieden hatte, einen genauen Riß nebst Anschlag und allem
Erforderlichen.
Es fehlte nicht an der nötigen Vorbereitung.
Jenes Geschäft wegen Verkauf des Vorwerks ward auch sogleich wieder
angegriffen.
Die Männer fanden zusammen neuen Anlaß zur Tätigkeit.
Der Hauptmann machte Eduarden bemerklich, daß es eine Artigkeit, ja
wohl gar eine Schuldigkeit sei, Charlottens Geburtstag durch Legung
des Grundsteins zu feiern.
Es bedurfte nicht viel, die alte Abneigung Eduards gegen solche Feste
zu überwinden; denn es kam ihm schnell in den Sinn, Ottiliens
Geburtstag, der später fiel, gleichfalls recht feierlich zu begehen.
Charlotte, der die neuen Anlagen, und was deshalb geschehen sollte,
bedeutend, ernstlich, ja fast bedenklich vorkamen, beschäftigte sich
damit, die Anschläge, Zeit—und Geldeinteilungen nochmals für sich
durchzugehen.
Man sah sich des Tages weniger, und mit desto mehr Verlangen suchte
man sich des Abends auf.
Ottilie war indessen schon völlig Herrin des Haushaltes, und wie
konnte es anders sein bei ihrem stillen und sichern Betragen.
Auch war ihre ganze Sinnesweise dem Hause und dem Häuslichen mehr als
der Welt, mehr als dem Leben im Freien zugewendet.
Eduard bemerkte bald, daß sie eigentlich nur aus Gefälligkeit in die
Gegend mitging, daß sie nur aus geselliger Pflicht abends länger
draußen verweilte, auch wohl manchmal einen Vorwand häuslicher
Tätigkeit suchte, um wieder hineinzugehen.
Sehr bald wußte er daher die gemeinschaftlichen Wanderungen so
einzurichten, daß man vor Sonnenuntergang wieder zu Hause war, und
fing an, was er lange unterlassen hatte, Gedichte vorzulesen, solche
besonders, in deren Vortrag der Ausdruck einer reinen, doch
leidenschaftlichen Liebe zu legen war.
Gewöhnlich saßen sie abends um einen kleinen Tisch auf hergebrachten
Plätzen: Charlotte auf dem Sofa, Ottilie auf einem Sessel gegen ihr
über, und die Männer nahmen die beiden andern Seiten ein.
Ottilie saß zu Eduarden zur Rechten, wohin er auch das Licht schob,
wenn er las.
Alsdann auch sie traute ihren eigenen Augen mehr als fremden Lippen;
und Eduard gleichfalls rückte zu, um es ihr auf alle Weise bequem zu
machen, ja er hielt oft längere Pausen als nötig, damit er nur nicht
eher umwendete, bis auch sie zu Ende der Seite gekommen.
Charlotte und der Hauptmann bemerkten es wohl und sahen manchmal
einander lächelnd an; doch wurden beide von einem andern Zeichen
überrascht, in welchem sich Ottiliens stille Neigung gelegentlich
offenbarte.
An einem Abende, welcher der kleinen Gesellschaft durch einen lästigen
Besuch zum Teil verloren gegangen, tat Eduard den Vorschlag, noch
beisammen zu bleiben.
Er fühlte sich aufgelegt, seine Flöte vorzunehmen, welche lange nicht
an die Tagesordnung gekommen war.
Charlotte suchte nach den Sonaten, die sie zusammen gewöhnlich
auszuführen pflegten, und da sie nicht zu finden waren, gestand
Ottilie nach einigem Zaudern, daß sie solche mit auf ihr Zimmer
genommen.
"Und Sie können, Sie wollen mich auf dem Flügel begleiten?" rief
Eduard, dem die Augen vor Freude glänzten.
"Ich glaube wohl", versetzte Ottilie, "daß es gehen wird".
Sie brachte die Noten herbei und setzte sich ans Klavier.
Die Zuhörenden waren aufmerksam und überrascht, wie vollkommen Ottilie
das Musikstück für sich selbst eingelernt hatte, aber noch mehr
überrascht, wie sie es der Spielart Eduards anzupassen wußte.
'Anzupassen wußte' ist nicht der rechte Ausdruck; denn wenn es von
Charlottens Geschicklichkeit und freiem Willen abhing, ihrem bald
zögernden, bald voreilenden Gatten zuliebe hier anzuhalten, dort
mitzugehen, so schien Ottilie, welche die Sonate von jenen enigemal
spielen sie gehört, nur in dem Sinne eingelernt zu haben, wie jener
sie begleitete.
Sie hatte seine Mängel so zu den ihrigen gemacht, daß daraus wieder
eine Art von lebendigem Ganzen entsprang, das sich zwar nicht
taktgemäß bewegte, aber doch höchst angenehm und gefällig lautete.
Der Komponist selbst hätte seine Freude daran gehabt, sein Werk auf
eine so liebevolle Weise entstellt zu sehen.
Auch diesem wundersamen, unerwarteten Begegnis sahen der Hauptmann und
Charlotte stillschweigend mit einer Empfindung zu, wie man oft
kindische Handlungen betrachtet, die man wegen ihrer besorglichen
Folgen gerade nicht billigt und doch nicht schelten kann, ja
vielleicht beneiden muß.
Denn eigentlich war die Neigung dieser beiden ebensogut im Wachsen als
jene, und vielleicht nur noch gefährlicher dadurch, daß beide ernster,
sicherer von sich selbst, sich zu halten fähiger waren.
Schon fing der Hauptmann an zu fühlen, daß eine unwiderstehliche
Gewohnheit ihn an Charlotten zu fesseln drohte.
Er gewann es über sich, den Stunden auszuweichen, in denen Charlotte
nach der Anlagen zu kommen pflegte, indem er schon am frühsten Morgen
aufstand, alles anordnete und sich dann zur Arbeit auf seinen Flügel
ins Schloß zurückzog.
Die ersten Tage hielt es Charlotte für zufällig; sie suchte ihn an
allen wahrscheinlichen Stellen; dann glaubte sie ihn zu verstehen und
achtete ihn nur um desto mehr.
Vermied nun der Hauptmann, mit Charlotten allein zu sein, so war er
desto emsiger, zur glänzenden Feier des herannahenden Geburtsfestes
die Anlagen zu betreiben und zu beschleunigen; denn indem er von unten
hinauf, hinter dem Dorfe her, den bequemen Weg führte, so ließ er,
vorgeblich um Steine zu brechen, auch von oben herunter arbeiten und
hatte alles so eingerichtet und berechnet, daß erst in der letzten
Nacht die beiden Teile des Weges sich begegnen sollten.
Zum neuen Hause oben war auch schon der Keller mehr gebrochen als
gegraben und ein schöner Grundstein mit Fächern und Deckplatten
zugehauen.
Die äußere Tätigkeit, diese kleinen, freundlichen, geheimnisvollen
Absichten bei innern, mehr oder weniger zurückgedrängten Empfindungen
ließen die Unterhaltung der Gesellschaft, wenn sie beisammen war,
nicht lebhaft werden, dergestalt daß Eduard, der etwas Lückenhaftes
empfand, den Hauptmann eines Abends aufrief, seine Violine
hervorzunehmen und Charlotten bei dem Klavier zu begleiten.
Der Hauptmann konnte dem allgemeinen Verlangen nicht widerstehen, und
so führten beide mit Empfindung, Behagen und Freiheit eins der
schwersten Musikstücke zusammen auf, daß es ihnen und dem zuhörenden
Paar zum größten Vergnügen gereichte.
Man versprach sich öftere Wiederholung und mehrere Zusammenübung.
"Sie machen es besser als wir, Ottilie!" sagte Eduard.
"Wir wollen sie bewundern, aber uns doch zusammen freuen".
Der Geburtstag war herbeigekommen und alles fertig geworden: die ganze
Mauer, die den Dorfweg gegen das Wasser zu einfaßte und erhöhte,
ebenso der Weg an der Kirche vorbei, wo er eine Zeitlang in dem von
Charlotten angelegten Pfade fortlief, sich dann die Felsen hinaufwärts
schlang, die Mooshütte links über sich, dann nach einer völligen
Wendung links unter sich ließ und so allmählich auf die Höhe gelangte.
Es hatte sich diesen Tag viel Gesellschaft eingefunden.
Man ging zur Kirche, wo man die Gemeinde im festlichen Schmuck
versammelt antraf.
Nach dem Gottesdienste zogen die Knaben, Jünglinge und Männer, wie es
angeordnet war, voraus; dann kam die Herrschaft mit ihrem Besuch und
Gefolge; Mädchen, Jungfrauen und Frauen machten den Beschluß.
Bei der Wendung des Weges war ein erhöhter Felsenplatz eingerichtet;
dort ließ der Hauptmann Charlotten und die Gäste ausruhen.
Hier übersahen sie den ganzen Weg, die hinaufgeschrittene Männrschar,
die nachwandelnden Frauen, welche nun vorbeizogen.
Es war bei dem herrlichen Wetter ein wunderschöner Anblick.
Charlotte fühlte sich überrascht, gerührt und drückte dem Hauptmann
herzlich die Hand.
Man folgte der sachte fortschreitenden Menge, die nun schon einen
Kreis um den künftigen Hausraum gebildet hatte.
Der Bauherr, die Seinigen und die vornehmsten Gäste wurden eingeladen,
in die Tiefe hinabzusteigen, wo der Grundstein, an einer Seite
unterstützt, eben zum Niederlassen bereit lag.
Ein wohlgeputzter Maurer, die Kelle in der einen, den Hammer in der
andern Hand, hielt in Reimen eine anmutige Rede, die wir in Prosa nur
unvollkommen wiedergeben können.
"Drei Dinge", fing er an, "sind bei einem Gebäude zu beachten: daß es
am rechten Fleck stehe, daß es wohl gegründet, daß es vollkommen
ausgeführt sei.
Das erste ist eigentlich die Sache des Bauherrn; denn wie in der Stadt
nur der Fürst und die Gemeine bestimmen können, wohin gebaut werden
soll, so ist es auf dem Lande das Vorrecht des Grundherrn, daß er sage:
hier soll meine Wohnung stehen und nirgends anders".
Eduard und Ottilie wagten nicht, bei diesen Worten einander anzusehen,
ob sie gleich nahe gegen einander über standen.
"Das dritte, die Vollendung, ist die Sorge gar vieler Gewerke; ja
wenige sind, die nicht dabei beschäftigt wären.
Aber das zweite, die Gründung, ist des Maurers Angelengenheit und, daß
wir es nur heraussagen, die Hauptangelegenheit des ganzen Unternehmens.
Es ist ein ernstes Geschäft, und unsre Einladung ist ernsthaft; denn
diese Feierlichkeit wird in der Tiefe begangen.
Hier innerhalb dieses engen, ausgegrabenen Raums erweisen Sie uns die
Ehre, als Zeugen unseres geheimnisvollen Geschäftes zu erscheinen.
Gleich werden wir diesen wohlzugehauenen Stein niederlegen, und bald
werden diese mit schönen und würdigen Personen gezierten Erdwände
nicht mehr zugänglich, sie werden ausgefüllt sein.
Diesen Grundstein, der mit seiner Ecke die rechte Ecke des Gebäudes,
mit seiner Rechtwinkligkeit die Regelmäßigkeit desselben, mit seiner
wasser—und senkrechten Lage Lot und Waage aller Mauern und Wände
bezeichnet, könnten wir ohne weiteres niederlegen; denn er ruhte wohl
auf seiner eignen Schwere.
Aber auch hier soll es am Kalk, am Bindungsmittel nicht fehlen; denn
so wie Menschen, die einander von Natur geneigt sind, noch besser
zusammenhalten, wenn das Gesetz sie verkittet, so werden auch Steine,
deren Form schon zusammenpaßt, noch besser durch diese bindenden
Kräfte vereinigt; und da es sich nicht ziemen will, unter den Tätigen
müßig zu sein, so werden Sie nicht verschmähen, auch hier Mitarbeiter
zu werden".
Er überreichte hierauf seine Kelle Charlotten, welche damit Kalk unter
den Stein warf.
Mehreren wurde ein Gleiches zu tun angesonnen und der Stein alsobald
niedergesenkt, worauf denn Charlotten und den übrigen sogleich der
Hammer gereicht wurde, um durch ein dreimaliges Pochen die Verbindung
des Steins mit dem Grunde ausdrücklich zu segnen.
"Des Maurers Arbeit", fuhr der Redner fort, "zwar jetzt unter freiem
Himmel, geschieht, wo nicht immer im Verborgnen, doch zum Verborgnen.
Der regelmäßig aufgeführte Grund wird verschüttet, und sogar bei den
Mauern, die wir am Tage aufführen, ist man unser am Ende kaum
eingedenk.
Die Arbeiten des Steinmetzen und Bildhauers fallen mehr in die Augen,
und wir müssen es sogar noch gutheißen, wenn der Tüncher die Spur
unserer Hände völlig auslöscht und sich unser Werk zueignet, indem er
es überzieht, glättet und färbt.
Wem muß also mehr daran gelegen sein, das, was er tut, sich selbst
recht zu machen, indem er es recht macht, als dem Maurer?
Wer hat mehr als er das Selbstbewußtsein zu nähren Ursach?
Wenn das Haus aufgeführt, der Boden geplattet und gepflastert, die
Außenseite mit Zieraten überdeckt ist, so sieht er durch alle Hüllen
immer noch hinein und erkennt noch jene regelmäßigen, sorgfältigen
Fugen, denen das Ganze sein Dasein und seinen Halt zu danken hat.
Aber wie jeder, der eine übeltat begangen, fürchten muß, daß,
ungeachtet alles Abwehrens, sie dennoch ans Licht kommen werde, so muß
derjenige erwarten, der insgeheim das Gute getan, daß auch dieses
wider seinen Willen an den Tag komme.
Deswegen machen wir diesen Grundstein zugleich zum Denkstein. Hier in
diese unterschiedlichen gehauenen Vertiefungen soll verschiedenes
eingesenkt werden zum Zeugnis für eine entfernte Nachwelt.
Diese metallnen zugelöteten Köcher enthalten schriftliche Nachrichten;
auf diese Metallplatten ist allerlei Merkwürdiges eingegraben; in
diesen schönen gläsernen Flaschen versenken wir den besten Wein, mit
Bezeichnung seines Geburtsjahrs; es fehlt nicht an Münzen
verschiedener Art, in diesem Jahre geprägt: alles dieses erhielten wir
durch die Freigebigkeit unseres Bauherrn.
Auch ist hier noch mancher Platz, wenn irgendein Gast und Zuschauer
etwas der Nachwelt zu übergeben Belieben trüge".
Nach einer kleinen Pause sah der Geselle sich um; aber wie es in
solchen Fällen zu gehen pflegt: niemand war vorbereitet, jedermann
überrascht, bis endlich ein junger, munterer Offizier anfing und sagte:
"wenn ich etwas beitragen soll, das in dieser Schatzkammer noch nicht
niedergelegt ist, so muß ich ein paar Knöpfe von der Uniform schneiden,
die doch wohl auch verdienen, auf die Nachwelt zu kommen".
Gesagt, getan!
Und nun hatte mancher einen ähnlichen Einfall.
Die Frauenzimmer säumten nicht, von ihren kleinen Haarkämmen
hineinzulegen; Riechenfläschchen und andre Zierden wurden nicht
geschont; nur Ottilie zauderte, bis Eduard sie durch ein freundliches
Wort aus der Betrachtung aller der beigesteuerten und eingelegten
Dinge herausriß.
Sie löste darauf die goldne Kette vom Halse, an der das Bild ihres
Vaters gehangen hatte, und legte sie mit leiser Hand über die anderen
Kleinode hin, worauf Eduard mit einiger Hast veranstaltete, daß der
wohlgefugte Deckel sogleich aufgestürzt und eingekittet wurde.
Der junge Gesell, der sich dabei am tätigsten erwiesen, nahm seine
Rednermiene wieder an und fuhr fort: "wir gründen diesen Stein für
ewig, zur Sicherung des längsten Genusses der gegenwärtigen und
künftigen Besitzer dieses Hauses.
Allein indem wir hier gleichsam einen Schatz vergraben, so denken wir
zugleich, bei dem gründlichsten aller Geschäfte, an die
Vergänglichkeit der menschlichen Dinge; wir denken uns eine
Möglichkeit, daß dieser festversiegelte Deckel wieder aufgehoben
werden könne, welches nicht anders geschehen dürfte, als wenn das
alles wieder zerstört wäre, was wir noch nicht einmal aufgeführt haben.
Aber eben, damit dieses aufgeführt werde: zurück mit den Gedanken aus
der Zukunft, zurück ins Gegenwärtige!
Laßt und nach begangenem heutigem Feste unsre Arbeit sogleich fördern,
damit keiner von den Gewerken, die auf unserm Grunde fortarbeiten, zu
feiern brauche, daß der Bau eilig in die Höhe steige und vollendet
werde und aus den Fenstern, die noch nicht sind, der Hausherr mit den
Seinigen und seinen Gästen sich fröhlich in der Gegend umschaue, deren
aller sowie sämtlicher Anwesenden Gesundheit hiermit getrunken sei!"
Und so leerte er ein wohlgeschliffenes Kelchglas auf einen Zug aus und
warf es in die Luft; denn es bezeichnet das übermaß einer Freude, das
Gefäß zu zerstören, dessen man sich in der Fröhlichkeit bedient.
Aber diesmal ereignete es sich anders: das Glas kam nicht wieder auf
den Boden, und zwar ohne Wunder.
Man hatte nämlich, um mit dem Bau vorwärtszukommen, bereits an der
entgegengesetzten Ecke den Grund völlig herausgeschlagen, ja schon
angefangen, die Mauern aufzuführen, und zu dem Endzweck das Gerüst
erbaut, so hoch, als es überhaupt nötig war.
Daß man es besonders zu dieser Feierlichkeit mit Brettern belegt und
eine Menge Zuschauer hinaufgelassen hatte, war zum Vorteil der
Arbeitsleute geschehen.
Dort hinauf flog das Glas und wurde von einem aufgefangen, der diesen
Zufall als ein glückliches Zeichen für sich ansah.
Er wies es zuletzt herum, ohne es aus der Hand zu lassen, und man sah
darauf die Buchstaben E und O in sehr zierlicher Verschlingung
eingeschnitten: es war eins der Gläser, die für Eduarden in seiner
Jugend verfertigt worden.
Die Gerüste standen wieder leer, und die leichtesten unter den Gästen
stiegen hinauf, sich umzusehen, und konnten die schöne Aussicht nach
allen Seiten nicht genugsam rühmen; denn was entdeckt der nicht alles,
der auf einem hohen Punkte nur um ein Geschoß höher steht! Nach dem
Innern des Landes zu kamen mehrere neue Dörfer zum Vorschein, den
silbernen Streifen des Flusses erblickte man deutlich, ja selbst die
Türme der Hauptstadt wollte einer gewahr werden.
An der Rückseite, hinter den waldigen Hügeln, erhoben sich die blauen
Gipfel eines fernen Gebirges, und die nächste Gegend übersah man im
ganzen.
"Nun sollten nur noch", rief einer, "die drei Teiche zu einem See
vereinigt werden; dann hätte der Anblick alles, was groß und
wünschenswert ist".
"Das ließe sich wohl machen", sagte der Hauptmann; "denn sie bildeten
schon vorzeiten einen Bergsee".
"Nur bitte ich, meine Platanen—und Pappelgruppe zu schonen", sagte
Eduard, "die so schön am mittelsten Teiche steht".
"Sehen Sie",—wandte er sich zu Ottilien, die er einige Schritte
vorführte, indem er hinabwies—"diese Bäume habe ich selbst gepflanzt".
"Wie lange stehen sie wohl schon?" fragte Ottilie.
"Etwa so lange", versetzte Eduard, "als Sie auf der Welt sind.
Ja, liebes Kind, ich pflanzte schon, da Sie noch in der Wiege lagen".
Die Gesellschaft begab sich wieder in das Schloß zurück.
Nach aufgehobener Tafel wurde sie zu einem Spaziergang durch das Dorf
eingeladen, um auch hier die neuen Anstalten in Augenschein zu nehmen.
Dort hatten sich auf des Hauptmanns Veranlassung die Bewohner vor
ihren Häusern versammelt; sie standen nicht in Reihen, sondern
familienweise natürlich gruppiert, teils, wie es der Abend forderte,
beschäftigt, teils auf neuen Bänken ausruhend.
Es ward ihnen angenehmen Pflicht gemacht, wenigstens jeden Sonntag und
Festtag diese Reinlichkeit, diese Ordnung zu erneuern.
Eine innere Geselligkeit mit Neigung, wie sie sich unter unseren
Freunden erzeugt hatte, wird durch eine größere Gesellschaft immer nur
unangenehm unterbrochen.
Alle vier waren zufrieden, sich wieder im großen Saale allein zu
finden; doch ward dieses häusliche Gefühl einigermaßen gestört, indem
ein Brief, der Eduarden überreicht wurde, neue Gäste auf morgen
ankündigte.
"Wie wir vermuteten", rief Eduard Charlotten zu; "der Graf wird nicht
ausbleiben, er kommt morgen".
"Da ist also auch die Baronesse nicht weit", versetzte Charlotte.
"Gewiß nicht!" antwortete Eduard;" sie wird auch morgen von ihrer
Seite anlangen.
Sie bitten um ein Nachtquartier und wollen übermorgen zusammen wieder
fortreisen".
"Da müssen wir unsere Anstalten beizeiten machen, Ottilie! " sagte
Charlotte.
"Wie befehlen Sie die Einrichtung?" fragte Ottilie.
Charlotte gab es im allgemeinen an, und Ottilie entfernte sich.
Der Hauptmann erkundigte sich nach dem Verhältnis dieser beiden
Personen, das er nur im allgemeinsten kannte.
Sie hatten früher, beide schon anderwärts verheiratet, sich
leidenschaftlich liebgewonnen.
Eine doppelte Ehe war nicht ohne Aufsehn gestört; man dachte an
Scheidung.
Bei der Baronesse war sie möglich geworden, bei dem Grafen nicht.
Sie mußten sich zum Scheine trennen, allein ihr Verhältnis blieb; und
wenn sie Winters in der Residenz nicht zusammen sein konnten, so
entschädigten sie sich Sommers auf Lustreisen und in Bädern.
Sie waren beide um etwas älter als Eduard und Charlotte und sämtlich
genaue Freunde aus früher Hofzeit her.
Man hatte immer ein gutes Verhältnis erhalten, ob man gleich nicht
alles an seinen Freunden billigte.
Nur diesmal war Charlotten ihre Ankunft gewissermaßen ganz ungelegen,
und wenn sie die Ursache genau untersucht hätte: es war eigentlich um
Ottiliens willen.
Das gute, reine Kind sollte ein solches Beispiel so früh nicht gewahr
werden.
"Sie hätten wohl noch ein paar Tage wegbleiben können", sagte Eduard,
als eben Ottilie wieder hereintrat, "bis wir den Vorwerksverkauf in
Ordnung gebracht.
Der Aufsatz ist fertig, die eine Abschrift habe ich hier; nun fehlt es
aber an der zweiten, und unser alter Kanzellist ist recht krank".
Der Hauptmann bot sich an, auch Charlotte; dagegen waren einige
Einwendungen zu machen.
"Geben Sie mirs nur!" rief Ottilie mit einiger Hast.
"Du wirst nicht damit fertig", sagte Charlotte.
"Freilich müßte ich es übermorgen früh haben, und es ist viel", sagte
Eduard.
"Es soll fertig sein", rief Ottilie und hatte das Blatt schon in den
Händen.
Des andern Morgens, als sie sich aus dem obern Stock nach den Gästen
umsahen, denen sie entgegenzugehen nicht verfehlen wollten, sagte
Eduard: "wer reitet denn so langsam dort die Straße her?" Der
Hauptmann beschrieb die Figur des Reiters genauer.
"So ist ers doch", sagte Eduard; "denn das Einzelne, das du besser
siehst als ich, paßt sehr gut zu dem Ganzen, das ich recht wohl sehe.
Es ist Mittler.
Wie kommt er aber dazu, langsam und so langsam zu reiten?" Die Figur
kam näher, und Mittler war es wirklich.
Man empfing ihn freundlich, als er langsam die Treppe heraufstieg.
"Warum sind Sie nicht gestern gekommen?" rief ihm Eduard entgegen.
"Laute Feste lieb ich nicht", versetzte jener.
"Heute komm ich aber, den Geburtstag meiner Freundin mit euch im
stillen nachzufeiern".
"Wie können Sie denn soviel Zeit gewinnen?" fragte Eduard scherzend.
"Meinen Besuch, wenn er euch etwas wert ist, seid ihr einer
Betrachtung schuldig, die ich gestern gemacht habe.
Ich freute mich recht herzlich den halben Tag in einem Hause, wo ich
Frieden gestiftet hatte, und dann hörte ich, daß hier Geburtstag
gefeiert werde.
'Das kann man doch am Ende selbstisch nennen,' dachte ich bei mir,
'daß du dich nur mit denen freuen willst, die du zum Frieden bewogen
hast.
Warum freust du dich nicht auch einmal mit Freunden, die Frieden
halten und hegen?'
Gesagt, getan!
Hier bin ich, wie ich mir vorgenommen hatte".
"Gestern hätten Sie große Gesellschaft gefunden, heute finden Sie nur
kleine", sagte Charlotte.
"Sie finden den Grafen und die Baronesse, die Ihnen auch schon zu
schaffen gemacht haben".
Aus der Mitte der vier Hausgenossen, die den seltsamen, willkommenen
Mann umgeben hatten, fuhr er mit verdrießlicher Lebhaftigkeit heraus,
indem er sogleich nach Hut und Reitgerte suchte: "schwebt doch immer
ein Unstern über mir, sobald ich einmal ruhen und mir wohltun will!
Aber warum gehe ich aus meinem Charakter heraus!
Ich hätte nicht kommen sollen, und nun werd ich vertrieben.
Denn mit jenen will ich nicht unter einem Dache bleiben; und nehmt
euch in acht: sie bringen nichts als Unheil!
Ihr Wesen ist wie ein Sauerteig, der seine Ansteckung fortpflanzt".
Man suchte ihn zu begütigen, aber vergebens.
"Wer mir den Ehstand angreift", rief er aus, "wer mir durch Wort, ja
durch Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der
hat es mit mir zu tun; oder wenn ich sein nicht Herr werden kann, habe
ich nichts mit ihm zu tun.
Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur.
Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere
Gelegenheit, seine Milde zu beweisen.
Unauflöslich muß sie sein; denn sie bringt so vieles Glück, daß alles
einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist.
Und was will man von Unglück reden?
Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann
beliebt er sich unglücklich zu finden.
Lasse man den Augenblick vorübergehen, und man wird sich glücklich
preisen, daß ein so lange Bestandenes noch besteht.
Sich zu trennen gibts gar keinen hinlänglichen Grund.
Der menschliche Zustand ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, daß
gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig
werden.
Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen
werden kann.
Unbequem mag es manchmal sein, das glaub ich wohl, und das ist eben
recht.
Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet, das wir oft gerne
los sein möchten, weil es unbequemer ist, als uns je ein Mann oder
eine Frau werden könnte?" so sprach er lebhaft und hätte wohl noch
lange fortgesprochen, wenn nicht blasende Postillons die Ankunft der
Herrschaften verkündig hätten, welche wie abgemessen von beiden Seiten
zu gleicher Zeit in den Schloßhof hereinfuhren.
Als ihnen die Hausgenossen entgegeneilten, versteckte sich Mittler,
ließ sich das Pferd an den Gasthof bringen und ritt verdrießlich davon.
Die Gäste waren bewillkommt und eingeführt; sie freuten sich, das Haus,
die Zimmer wieder zu betreten, wo sie früher so manchen guten Tag
erlebt und die sie eine lange Zeit nicht gesehn hatten.
Höchst angenehm war auch den Freunden ihre Gegenwart.
Den Grafen sowie die Baronesse konnte man unter jene hohen, schönen
Gestalten zählen, die man in einem mittlern Alter fast lieber als in
der Jugend sieht; denn wenn ihnen auch etwas von der ersten Blüte
abgehn möchte, so erregen sie doch nun mit der Neigung ein
entschiedenes Zutrauen.
Auch dieses Paar zeigte sich höchst bequem in der Gegenwart.
Ihre freie Weise, die Zustände des Lebens zu nehmen und zu behandeln,
ihre Heiterkeit und scheinbare Unbefangenheit teilte sich sogleich mit,
und ein hoher Anstand begrenzte das Ganze, ohne daß man irgendeinen
Zwang bemerkt hätte.
Diese Wirkung ließ sich augenblicks in der Gesellschaft empfinden.
Die Neueintretenden, welche unmittelbar aus der Welt kamen, wie man
sogar an ihren Kleidern, Gerätschaften und allen Umgebungen sehen
konnte, machten gewissermaßen mit unsern Freunden, ihrem ländlichen
und heimlich leidenschaftlichen Zustande eine Art von Gegensatz, der
sich jedoch sehr bald verlor, indem alte Erinnerungen und gegenwärtige
Teilnahme sich vermischten und ein schnelles, lebhaftes Gespräch alle
geschwind zusammenverband.
Es währte indessen nicht lange, als schon eine Sonderung vorging.
Die Frauen zogen sich auf ihren Flügel zurück und fanden daselbst,
indem sie sich mancherlei vertrauten und zugleich die neuesten Formen
und Zuschnitte von Frühkleidern, Hüten und derglichen zu mustern
anfingen, genugsame Unterhaltung, während die Männer sich um die neuen
Reisewagen, mit vorgeführten Pferden, beschäftigten und gleich zu
handeln und zu tauschen anfingen.
Erst zu Tische kam man wieder zusammen.
Die Umkleidung war geschehen, und auch hier zeigte sich das
angekommene Paar zu seinem Vorteile.
Alles, was sie an sich trugen, war neu und gleichsam ungesehen und
doch schon durch den Gebrauch zur Gewohnheit und Bequemlichkeit
eingeweiht.
Das Gespräch war lebhaft und abwechselnd, wie denn in Gegenwart
solcher Personen alles und nichts zu interessieren scheint.
Man bediente sich der französischen Sprache, um die Aufwartenden von
dem Mitverständnis auszuschließen, und schweifte mit mutwilligem
Behagen über hohe und mittlere Weltverhältnisse hin.
Auf einem einzigen Punkt blieb die Unterhaltung länger als billig
haften, indem Charlotte nach einer Jugendfreundin sich erkundigte und
mit einiger Befremdung vernahm, daß sie ehstens geschieden werden
sollte.
"Es ist unerfreulich", sagte Charlotte, "wenn man seine abwesenden
Freunde irgend einmal geborgen, eine Freundin, die man liebt, versorgt
glaubt; eh man sichs versieht, muß man wieder hören, daß ihr Schicksal
im Schwanken ist, und daß sie erst wieder neue und vielleicht abermals
unsichre Pfade des Lebens betreten soll".
"Eigentlich, meine Beste", versetzte der Graf, "sind wir selbst schuld,
wenn wir auf solche Weise überrascht werden.
Wir mögen uns die irdischen Dinge und besonders auch die ehlichen
Verbindungen gern so recht dauerhaft vorstellen, und was den letzten
Punkt betrifft, so verführen uns die Lustspiele, die wir immer
wiederholen sehen, zu solchen Einbildungen, die mit dem Gange der Welt
nicht zusammentreffen.
In der Komödie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch
die Hindernisse mehrerer Akte verschobenen Wunsches, und im Augenblick,
da er erreicht ist, fällt der Vorhang, und die momentane Befriedigung
klingt bei uns nach.
In der Welt ist es anders; da wird hinten immer fortgespielt, und wenn
der Vorhang wieder aufgeht, mag man gern nichts weiter davon sehen
noch hören".
"Es muß doch so schlimm nicht sein", sagte Charlotte lächelnd, "da man
sieht, daß auch Personen, die von diesem Theater abgetreten sind, wohl
gern darauf wieder eine Rolle spielen mögen".
"Dagegen ist nichts einzuwenden", sagte der Graf.
"Eine neue Rolle mag man gern wieder übernehmen, und wenn man die Welt
kennt, so sieht man wohl: auch bei dem Ehestande ist es nur diese
entschiedene, ewige Dauer zwischen soviel Beweglichem in der Welt, die
etwas Ungeschicktes an sich trägt.
Einer von meinen Freunden, dessen gute Laune sich meist in Vorschlägen
zu neuen Gesetzen hervortat, behauptet: eine jede Ehe solle nur auf
fünf Jahre geschlossen werden.
Es sei, sagte er, dies eine schöne, ungrade, heilige Zahl und ein
solcher Zeitraum eben hinreichend, um sich kennenzulernen, einige
Kinder heranzubringen, sich zu entzweien und, was das Schönste sei,
sich wieder zu versöhnen.
Gewöhnlich rief er aus: ' wie glücklich würde die erste Zeit
verstreichen!
Zwei, drei Jahre wenigstens gingen vergnüglich hin.
Dann würde doch wohl dem einen Teil daran gelegen sein, das Verhältnis
länger dauern zu sehen, die Gefälligkeit würde wachsen, je mehr man
sich dem Termin der Aufkündigung näherte.
Der gleichgültige, ja selbst der unzufriedene Teil würde durch ein
solches Betragen begütigt und eingenommen.
Man vergäße, wie man in guter Gesellschaft die Stunden vergißt, daß
die Zeit verfließe, und fände sich aufs angenehmste überrascht, wenn
man nach verlaufenem Termin erst bemerkte, daß er schon
stillschweigend verlängert sei".
So artig und lustig dies klang und so gut man, wie Charlotte wohl
empfand, diesem Scherz eine tiefe moralische Deutung geben konnte, so
waren ihr dergleichen äußerungen, besonders um Ottiliens willen, nicht
angenehm.
Sie wußte recht gut, daß nichts gefährlicher sei als ein allzufreies
Gespräch, das einen strafbaren oder halbstrafbaren Zustand als einen
gewöhnlichen, gemeinen, ja löblichen bahandelt; und dahin gehört doch
gewiß alles, was die eheliche Verbindung antastet.
Sie suchte daher nach ihrer gewandten Weise das Gespräch abzulenken;
da sie es nicht vermochte, tat es ihr leid, daß Ottilie alles so gut
eingerichtet hatte, um nicht aufstehen zu dürfen.
Das ruhig aufmerksame Kind verstand sich mit dem Haushofmeister durch
Blick und Wink, daß alles auf das trefflichste geriet, obgleich ein
paar neue, ungeschickte Bedienten in der livree staken.
Und so fuhr der Graf, Charlottens Ablenken nicht empfindend, über
diesen Gegenstand sich zu äußern fort.
Ihm, der sonst nicht gewohnt war, im Gespräch irgend lästig zu sein,
lastete diese Sache zu sehr auf dem Herzen, und die Schwierigkeiten,
sich von seiner Gemahlin getrennt zu sehen, machten ihn bitter gegen
alles, was eheliche Verbindung betraf, die er doch selbst mit der
Baronesse so eifrig wünschte.
"Jener Freund", so fuhr er fort, "tat noch einen andern
Gesetzvorschlag: eine Ehe sollte nur alsdann für unauflöslich gehalten
werden, wenn entweder beide Teile oder wenigstens der eine Teil zum
drittenmal verheiratet wäre.
Denn was eine solche Person betreffe, so bekenne sie unwidersprechlich,
daß sie die Ehe für etwas Unentbehrliches halte.
Nun sei auch schon bekannt geworden, wie sie sich in ihren frühern
Verbindungen betragen, ob sie Eigenheiten habe, die oft mehr zur
Trennung Anlaß geben als üble Eigenschaften.
Man habe sich also wechselseitig zu erkundigen; man habe ebensogut auf
Verheiratete wie auf Unverheiratete achtzugeben, weil man nicht wisse,
wie die Fälle kommen können".
"Das würde freilich das Interesse der Gesellschaft sehr vermehren",
sagte Eduard; "denn in der Tat jetzt, wenn wir verheiratet sind, fragt
niemand weiter mehr nach unsern Tugenden noch unsern Mängeln".
"Bei einer solchen Einrichtung", fiel die Baronesse lächelnd ein,
"hätten unsere lieben Wirte schon zwei Stufen glücklich überstiegen
und könnten sich zu der dritten vorbereiten".
"Ihnen ists wohl geraten", sagte der Graf; "hier hat der Tod willig
getan, was die Konsistorien sonst nur ungern zu tun pflegen". "Lassen
wir die Toten ruhen", versetzte Charlotte mit einem halb ernsten
Blicke.
"Warum?" versetzte der Graf, "da man ihrer in Ehren gedenken kann.
Sie waren bescheiden genug, sich mit einigen Jahren zu begnügen für
mannigfaltiges Gute, das sie zurückließen".
"Wenn nur nicht gerade", sagte die Baronesse mit einem verhaltenen
Seufzer, "in solchen Fällen das Opfer der besten Jahre gebracht werden
müßte!" "Jawohl", versetzte der Graf, "man müßte darüber verzweifeln,
wenn nicht überhaupt in der Welt so weniges eine gehoffte Folge zeigte.
Kinder halten nicht, was sie versprechen, junge Leute sehr selten, und
wenn sie Wort halten, hält es ihnen die Welt nicht".
Charlotte, welche froh war, daß das Gespräch sich wendete, versetzte
heiter:" nun!
Wir müssen uns ja ohnehin bald genug gewöhnen, das Gute stück—und
teilweise zu genießen".
"Gewiß", versetzte der Graf, "Sie haben beide sehr schöner Zeiten
genossen.
Wenn ich mir die Jahre zurückerinnere, da Sie und Eduard das schönste
Paar bei Hof waren; weder von so glänzenden Zeiten noch von so
hervorleuchtenden Gestalten ist jetzt die Rede mehr.
Wenn Sie beide zusammen tanzten, aller Augen waren auf Sie gerichtet,
und wie umworben beide, indem Sie sich nur ineinander bespiegelten!"
"Da sich so manches verändert hat", sagte Charlotte, "können wir wohl
soviel Schönes mit Bescheidenheit anhören".
"Eduarden habe ich doch oft im stillen getadelt", sagte der Graf, "daß
er nicht beharrlicher war; denn am Ende hätten seine wunderlichen
Eltern wohl nachgegeben; und zehn frühe Jahre gewinnen ist keine
Kleinigkeit".
"Ich muß mich seiner anehmen", fiel die Baronesse ein.
"Charlotte war nicht ganz ohne Schuld, nicht ganz rein von allem
Umhersehen, und ob sie gleich Eduarden von Herzen liebte und sich ihn
auch heimlich zum Gatten bestimmte, so war ich doch Zeuge, wie sehr
sie ihn manchmal quälte, sodaß man ihn leicht zu dem unglücklichen
Entschluß drängen konnte, zu reisen, sich zu entfernen, sich von ihr
zu entwöhnen".
Eduard nickte der Baronesse zu und schien dankbar für ihre Fürsprache.
"Und dann muß ich eins", fuhr sie fort, "zu Charlottens Entschuldigung
beifügen: der Mann, der zu jener Zeit um sie warb, hatte sich schon
lange durch Neigung zu ihr ausgezeichnet und war, wenn man ihn näher
kannte, gewiß liebenswürdiger, als ihr andern gern zugestehen mögt".
"Liebe Freundin", versetzte der Graf etwas lebhaft, "bekennen wir nur,
daß er Ihnen nicht ganz gleichgültig war, und daß Charlotte von Ihnen
mehr zu befürchten hatte als von einer andern.
Ich finde das einen sehr hübschen Zug an den Frauen, daß sie ihre
Anhänglichkeit an irgendeinen Mann solange noch fortsetzen, ja durch
keine Art von Trennung stören oder aufheben lassen".
"Diese gute Eigenschaft besitzen vielleicht die Männer noch mehr",
versetzte die Baronesse; "wenigstens an Ihnen lieber Graf, habe ich
bemerkt, daß niemand mehr Gewalt über Sie hat als ein Frauenzimmer,
dem Sie früher geneigt waren.
So habe ich gesehen, daß Sie auf die Fürsprache einer solchen sich
mehr Mühe gaben, um etwas auszuwirken, als vielleicht die Freundin des
Augenblicks von Ihnen erlangt hätte".
"Einen solchen Vorwurf darf man sich wohl gefallen lassen", versetzte
der Graf; "doch was Charlottens ersten Gemahl betrifft, so konnte ich
ihn deshalb nicht leiden, weil er mir das schöne Paar
auseinandersprengte, ein wahrhaft prädestiniertes Paar, das, einmal
zusammengegeben, weder fünf Jahre zu scheuen, noch auf eine zweite
oder gar dritte Verbindung hinzusehen brauchte".
"Wir wollen versuchen", sagte Charlotte, "wieder einzubringen, was wir
versäumt haben".
"Da müssen Sie sich dazuhalten", sagte der Graf.
"Ihre ersten Heiraten", fuhr er mit einiger Heftigkeit fort, "waren
doch so eigentlich rechte Heiraten von der verhaßten Art, und leider
haben überhaupt die Heiraten—verzeihen Sie mir einen lebhafteren
Ausdruck—etwas Tölpelhaftes; sie verderben die zartesten Verhältnisse,
und es liegt doch eigentlich nur an der plumpen Sicherheit, auf die
sich wenigstens ein Teil etwas zugute tut.
Alles versteht sich von selbst, und man scheint sich nur verbunden zu
haben, damit eins wie das andere nunmehr seiner Wege gehe". In diesem
Augenblick machte Charlotte, die ein für allemal dies Gespräch
abbrechen wollte, von einer kühnen Wendung Gebrauch; es gelang ihr.
Die Unterhaltung ward allgemeiner, die beiden Gatten und der Hauptmann
konnten daran teilnehmen; selbst Ottilie ward veranlaßt sich zu äußern,
und der Nachtisch ward mit der besten Stimmung genossen, woran der in
zierlichen Fruchtkörben aufgestellte Obstreichtum, die bunteste, in
Prachtgefäßen schön verteilte Blumenfülle den vorzüglichsten Anteil
hatte.
Auch die neuen Parkanlagen kamen zur Sprache, die man sogleich nach
Tische besuchte.
Ottilie zog sich unter dem Vorwande häuslicher Beschäftigung zurück;
eigentlich aber setzte sie sich nieder zur Abschrift.
Der Graf wurde von dem Hauptmann unterhalten; später gesellte sich
Charlotte zu ihm.
Als sie oben auf die Höhe gelangt waren und der Hauptmann gefällig
hinuntereilte, um den Plan zu holen, sagte der Graf zu Charlotten:
"dieser Mann gefällt mir außerordentlich.
Er ist sehr wohl und im Zusammenhang unterrichtet.
Ebenso scheint seine Tätigkeit sehr ernst und folgerecht.
Was er hier leistet, würde in einem höhern Kreise von viel Bedeutung
sein".
Charlotte vernahm des Hauptmanns Lob mit innigem Behagen.
Sie faßte sich jedoch und bekräftigte das Gesagte mit Ruhe und
Klarheit.
Wie überrascht war sie aber, als der Graf fortfuhr: "diese
Bekanntschaft kommt mir sehr zu gelegener Zeit.
Ich weiß eine Stelle, an die der Mann vollkommen paßt, und ich kann
mir durch eine solche Empfehlung, indem ich ihn glücklich mache, einen
hohen Freund auf das allerbeste verbinden".
Es war wie ein Donnerschlag, der auf Charlotten herabfiel.
Der Graf bemerkte nichts; denn die Frauen, gewohnt, sich jederzeit zu
bändigen, behalten in den außerordentlichsten Fällen immer noch eine
Art von scheinbarer Fassung.
Doch hörte sie schon nicht mehr, was der Graf sagte, indem er fortfuhr:
"wenn ich von etwas überzeugt bin, geht es bei mir geschwind her.
Ich habe schon meinen Brief im Kopfe zusammengestellt, und mich
drängts, ihn zu schreiben.
Sie verschaffen mir einen reitenden Boten, den ich noch heute abend
wegschicken kann".
Charlotte war innerlich zerrissen.
Von diesen Vorschlägen sowie von sich selbst überrascht, konnte sie
kein Wort hervorbringen.
Der Graf fuhr glücklicherweise fort, von seinen Planen für den
Hauptmann zu sprechen, deren Günstiges Charlotten nur allzusehr in die
Augen fiel.
Es war Zeit, daß der Hauptmann herauftrat und seine Rolle vor dem
Grafen entfaltete.
Aber mit wie andern Augen sah sie den Freund an, den sie verlieren
sollte!
Mit einer notdürftigen Verbeugung wandte sie sich weg und eilte
hinunter nach der Mooshütte.
Schon auf halbem Wege stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und nun
warf sie sich in den engen Raum der kleinen Einsiedelei und überließ
sich ganz einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung, von
deren Möglichkeit sie wenig Augenblicke vorher auch nicht die leiseste
Ahnung gehabt hatte.
Auf der andern Seite war Eduard mit der Baronesse an den Teichen
hergegangen.
Die kluge Frau, die gern von allem unterrichtet sein mochte, bemerkte
bald in einem tastenden Gespräch, daß Eduard sich zu Ottiliens Lobe
weitläufig herausließ, und wußte ihn auf eine so natürliche Weise nach
und nach in den Gang zu bringen, daß ihr zuletzt kein Zweifel
übrigblieb, hier sei eine Leidenschaft nicht auf dem Wege, sondern
wirklich angelangt.
Verheiratete Frauen, wenn sie sich auch untereinander nicht lieben,
stehen doch stillschweigend miteinander, besonders gegen junge Mädchen,
im Bündnis.
Die Folgen einer solchen Zuneigung stellten sich ihrem weltgewandten
Geiste nur allzugeschwind dar.
Dazu kam noch, daß sie schon heute früh mit Charlotten über Ottilien
gesprochen und den Aufenthalt dieses Kindes auf dem Lande, besonders
bei seiner stillen Gemütsart, nicht gebilligt und den Vorschlag getan
hatte, Ottilien in die Stadt zu einer Freundin zu bringen, die sehr
viel an die Erziehung ihrer einzigen Tochter wende und sich nur nach
einer gutartigen Gespielin umsehe, die an die zweite Kindesstatt
eintreten und alle Vorteile mitgenießen solle.
Charlotte hatte sichs zur überlegung genommen.
Nun aber brachte der Blick in Eduards Gemüt diesen Vorschlag bei der
Baronesse ganz zur vorsätzlichen Festigkeit, und um so schneller
dieses in ihr vorging, um desto mehr schmeichelte sie äußerlich
Eduards Wünschen.
Denn niemand besaß sich mehr als diese Frau, und diese
Selbstbeherrschung in außerordentlichen Fällen gewöhnt uns, sogar
einen gemeinen Fall mit Verstellung zu behandeln, macht uns geneigt,
indem wir soviel Gewalt über uns selbst üben, unsre Herrschaft auch
über die andern zu verbreiten, um uns durch das, was wir äußerlich
gewinnen, für dasjenige, was wir innerlich entbehren, gewissermaßen
schadlos zu halten. An diese Gesinnung schließt sich meist eine Art
heimlicher Schadenfreude über die Dunkelheit der andern, über das
Bewußtlose, womit sie in eine Falle gehen.
Wir freuen uns nicht allein über das gegenwärtige Gelingen, sondern
zugleich auch auf die künftig überraschende Beschämung.
Und so war die Baronesse boshaft genug, Eduarden zur Weinlese auf ihre
Güter mit Charlotten einzuladen und die Frage Eduards, ob sie Ottilien
mitbringen dürften, auf eine Weise, die er beliebig zu seinen Gunsten
auslegen konnte, zu beantworten.
Eduard sprach schon mit Entzücken von der herrlichen Gegend, dem
großen Flusse, den Hügeln, Felsen und Weinbergen, von alen Schlössern,
von Wasserfahrten, von dem Jubel der Weinlese, des Kelterns und so
weiter, wobei er in der Unschuld seines Herzens sich schon zum voraus
laut über den Eindruck freute, den dergleichen Szenen auf das frische
Gemüt Ottiliens machen würden.
In diesem Augenblick sah man Ottilien herankommen, und die Baronesse
sagte schnell zu Eduard, er möchte von dieser vorhabenden Herbstreise
ja nichts reden; denn gewöhnlich geschähe das nicht, worauf man sich
so lange voraus freue.
Eduard versprach, nötigte sie aber, Ottilien entgegen geschwinder zu
gehen, und eilte ihr endlich, dem lieben Kinde zu, mehrere Schritte
voran.
Eine herzliche Freude drückte sich in seinem ganzen Wesen aus. Er
küßte ihr die Hand, in die er einen Strauß Feldblumen drückte, die er
unterwegs zusammengepflückt hatte.
Die Baronesse fühlte sich bei diesem Anblick in ihrem Innern fast
erbittert.
Denn wenn sie auch das, was an dieser Neigung strafbar sein mochte,
nicht billigen durfte, so konnte sie das, was daran liebenswürdig und
angenehm war, jenem unbedeutenden Neuling von Mädchen keineswegs
gönnen.
Als man sich zum Abendessen zusammengesetzt hatte, war eine völlig
andre Stimmung in der Gesellschaft verbreitet.
Der Graf, der schon vor Tische geschrieben und den Boten fortgeschickt
hatte, unterhielt sich mit dem Hauptmann, den er auf eine verständige
und bescheidene Weise immer mehr ausforschte, indem er ihn diesen
Abend an seine Seite gebracht hatte.
Die zur Rechten des Grafen sitzende Baronesse fand von daher wenig
Unterhaltung, ebensowenig an Eduard, der, erst durstig, dann aufgeregt,
des Weines nicht schonte und sich sehr lebhaft mit Ottilien
unterhielt, die er an sich gezogen hatte, wie von der andern Seite
neben dem Hauptmann Charlotte saß, der es schwer, ja beinahe unmöglich
ward, die Bewegungen ihres Innern zu verbergen.
Die Baronesse hatte Zeit genug, Beobachtungen anzustellen.
Sie bemerkte Charlottens Unbehagen, und weil sie nur Eduards
Verhältnis zu Ottilien im Sinn hatte, so überzeugte sie sich leicht,
auch Charlotte sei bedenklich und verdrießlich über ihres Gemahls
Benehmen, und überlegte, wie sie nunmehr am besten zu ihren Zwecken
gelangen könne.
Auch nach Tische fand sich ein Zwiespalt in der Gesellschaft. Der
Graf, der den Hauptmann recht ergründen wollte, brauchte bei einem so
ruhigen, keineswegs eitlen und überhaupt lakonischen Manne
verschiedene Wendungen, um zu erfahren, was er wünschte.
Sie gingen miteinander an der einen Seite des Saals auf und ab, indes
Eduard, aufgeregt von Wein und Hoffnung, mit Ottilien an einem Fenster
scherzte, Charlotte und die Baronesse aber stillschweigend an der
andern Seite des Saals nebeneinander hin und wider gingen.
Ihr Schweigen und müßiges Umherstehen brachte denn auch zuletzt eine
Stockung in die übrige Gesellschaft.
Die Frauen zogen sich zurück auf ihren Flügel, die Männer auf den
andern, und so schien dieser Tag abgeschlossen.
Eduard begleitete den Grafen auf sein Zimmer und ließ sich recht gern
durchs Gespräch verführen, noch eine Zeitlang bei ihm zu bleiben.
Der Graf verlor sich in vorige Zeiten, gedachte mit Lebhaftigkeit an
die Schönheit Charlottens, die er als ein Kenner mit vielem Feuer
entwickelte:" ein schöner Fuß ist eine große Gabe der Natur. Diese
Anmut ist unverwünstlich.
Ich habe sie heute im Gehen Beobachtet; noch immer möchte man ihren
Schuh küssen und die zwar etwas barbarische, aber doch tief gefühlte
Ehrenbezeugung der Aarmaten wiederholen, die sich nichts Besseres
kennen, als aus dem Schuh einer geliebten und verehrten Person ihre
Gesundheit zu trinken".
Die Spitze des Fußes blieb nicht allein der Gegenstand des Lobes unter
zwei vertrauten Männern.
Sie gingen von der Person auf alte Geschichten und Abenteuer zurück
und kamen auf die Hindernisse, die man ehemals den Zusammenkünften
dieser beiden Liebenden entgegengesetzt, welche Mühe sie sich gegeben,
welche Kunstgriffe sie erfunden, nur um sich sagen zu können, daß sie
sich liebten.
"Erinnerst du dich", fuhr der Graf fort, "welch Abenteuer ich dir
recht freundschaftlich und uneigennützig bestehen helfen, als unsre
höchsten Herrschaften ihren Oheim besuchten und auf dem weitläufigen
Schlosse zusammenkamen?
Der Tag war in Feierlichkeiten und Feierkleidern hingegangen; ein Teil
der Nacht sollte wenigstens unter freiem, liebevollem Gespräch
verstreichen".
"Den Hinweg zu dem Quartier der Hofdamen hatten Sie sich wohl gemerkt",
sagte Eduard.
"Wir gelangten glücklich zu meiner Geliebten".
"Die", versetzte der Graf, "mehr an den Anstand als an meine
Zufriedenheit gedacht und eine sehr häßliche Ehrenwächterin bei sich
behalten hatte; da mir denn, indessen ihr euch mit Blicken und Worten
sehr gut unterhieltet, ein höchst unerfreuliches Los zuteil ward".
"Ich habe mich noch gestern", versetzte Eduard, "als Sie sich anmelden
ließen, mit meiner Frau an die Geschichte erinnert, besonders an
unsern Rückzug.
Wir verfehlten den Weg und kamen an den Vorsaal der Garden.
Weil wir uns nun von da recht gut zu finden wußten, so glaubten wir
auch hier ganz ohne Bedenken hindurch und an dem Posten, wie an den
übrigen, vorbei gehen zu können.
Aber wie groß war beim Eröffnen der Türe unsere Verwunderung!
Der Weg war mit Matratzen verlegt, auf denen die Riesen in mehreren
Reihen ausgestreckt lagen und schliefen.
Der einzige Wachende auf dem Posten sah uns verwundert an; wir aber,
im jugendlichen Mut und Mutwillen, stiegen ganz gelassen über die
ausgestreckten Stiefel weg, ohne daß auch nur einer von diesen
schnarchenden Enakskindern erwacht wäre".
"Ich hatte große Lust zu stolpern", sagte der Graf, "damit es Lärm
gegeben hätte; denn welch eine seltsame Auferstehung würden wir
gesehen haben!" In diesem Augenblick schlug die Schloßglocke zwölf.
"Es ist hoch Mitternacht", sagte der Graf lächelnd, "und eben gerechte
Zeit.
Ich muß Sie, lieber Baron, um eine Gefälligkeit bitten: führen Sie
mich heute, wie ich Sie damals führte; ich habe der Baronesse das
Versprechen gegeben, sie noch zu besuchen.
Wir haben uns den ganzen Tag nicht allein gesprochen, wir haben uns
solange nicht gesehen, und nichts ist natürlicher, als daß man sich
nach einer vertraulichen Stunde sehnt.
Zeigen Sie mir den Hinweg, den Rückweg will ich schon finden, und auf
alle Fälle werde ich über keine Stiefel wegzustolpern haben".
"Ich will Ihnen recht gern diese gastliche Gefälligkeit erzeigen",
versetzte Eduard; "nur sind die drei Frauenzimmer drüben zusammen auf
dem Flügel.
Wer weiß, ob wir sie nicht noch beieinander finden, oder was wir sonst
für Händel anrichten, die irgendein wunderliches Ansehn gewinnen".
"Nur ohne Sorge!" sagte der Graf; "die Baronesse erwartet mich.
Sie ist um diese Zeit gewiß auf ihrem Zimmer und allein".
"Die Sache ist übringens leicht", versetzte Eduard und nahm ein Licht,
dem Grafen vorleuchtend eine geheime Treppe hinunter, die zu einem
langen Gang führte.
Am Ende desselben öffnete Eduard eine kleine Türe.
Sie erstiegen eine Wendeltreppe; oben auf einem engen Ruheplatz
deutete Eduard dem Grafen, dem er das Licht in die Hand gab, nach
einer Tapetentüre rechts, die beim ersten Versuch sogleich sich
öffnete, den Grafen aufnahm und Eduarden in dem dunklen Raum
zurückließ.
Eine andre Türe links ging in Charlottens Schlafzimmer.
Er hörte reden und horchte.
Charlotte sprach zu ihrem Kammermädchen: "ist Ottilie schon zu
Bette?"—"Nein", versetzte jene, "sie sitzt noch unten und schreibt".
-"So zünde Sie das Nachtlicht an", sagte Charlotte, "und gehe Sie nur
hin: es ist spät.
Die Kerze will ich selbst auslöschen und für mich zu Bette gehen".
Eduard hörte mit Entzücken, daß Ottilie noch schreibe.
'Sie beschäftigt sich für mich!' dachte er triumphierend.
Durch die Finsternis ganz in sich selbst geengt, sah er sie sitzen,
schreiben; er glaubte zu ihr zu treten, sie zu sehen, wie sie sich
nach ihm umkehrte; er fühlte ein unüberwindliches Verlangen, ihr noch
einmal nahe zu sein.
Von hier aber war kein Weg in das Halbgeschoß, wo sie wohnte. Nun
fand er sich unmittelbar an seiner Frauen Türe, eine sonderbare
Verwechselung ging in seiner Seele vor; er suchte die Türe aufzudrehen,
er fand sie verschlossen, er pochte leise an, Charlotte hörte nicht.
Sie ging in dem größeren Nebenzimmer lebhaft auf und ab.
Sie wiederholte sich aber—und abermals, was sie seit jenem
unerwarteten Vorschlag des Grafen oft genug bei sich um und um
gewendet hatte.
Der Hauptmann schien vor ihr zu stehen.
Er füllte noch das Haus, er belebte noch die Spaziergänge, und er
sollte fort, das alles sollte leer werden!
Sie sagte sich alles, was man sich sagen kann, ja sie antizipierte,
wie man gewöhnlich pflegt, den leidigen Trost, daß auch solche
Schmerzen durch die Zeit gelindert werden.
Sie verwünschte die Zeit, die es braucht, um sie zu lindern; sie
verwünschte die totenhafte Zeit, wo sie würden gelindert sein.
Da war denn zuletzt die Zuflucht zu den Tränen um so willkommner, als
sie bei ihr selten stattfand.
Sie warf sich auf den Sofa und überließ sich ganz ihrem Schmerz.
Eduard seinerseits konnte von der Türe nicht weg; er pochte nochmals,
und zum drittenmal etwas stärker, sodaß Charlotte durch die
Nachtstille es ganz deutlich vernahm und erschreckt auffuhr.
Der erste Gedanke war, es könne, es müsse der Hauptmann sein; der
zweite, das sei unmöglich.
Sie hielt es für Täuschung, aber sie hatte es gehört, sie wünschte,
sie fürchtete es gehört zu haben.
Sie ging ins Schlafzimmer, trat leise zu der verriegelten Tapetentür.
Sie schalt sich über ihre Furcht.
Wie leicht kann die Gräfin etwas bedürfen! sagte sie zu sich selbst
und rief gefaßt und gesetzt: "ist jemand da?" Eine leise Stimme
antwortete: "ich bins".
-"Wer?" entgegnete Charlotte, die den Ton nicht unterscheiden konnte.
Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Tür.
Etwas lauter klang es ihr entgegen:" Eduard!" Sie öffnete, und ihr
Gemahl stand vor ihr.
Er begrüßte sie mit einem Scherz.
Es ward ihr möglich, in diesem Tone fortzufahren.
Er verwickelte den rätselhaften Besuch in rätselhafte Erklärungen.
"Warum ich denn aber eigentlich komme", sagte er zuletzt, "muß ich dir
nur gestehen.
Ich habe ein Gelübde getan, heute abend noch deinen Schuh zu küssen".
"Das ist dir lange nicht eingefallen", sagte Charlotte.
"Desto schlimmer", versetzte Eduard," und desto besser!" Sie hatte
sich in einen Sessel gesetzt, um ihre leichte Nachtkleidung seinen
Blicken zu entziehen.
Er warf sich vor ihr nieder, und sie konnte sich nicht erwehren, daß
er nicht ihren Schuh küßte, und daß, als dieser ihm in der Hand blieb,
er den Fuß ergriff und ihn zärtlich an seine Brust drückte.
Charlotte war eine von den Frauen, die, von Natur mäßig, im Ehestande
ohne Vorsatz und Anstrengung die Art und Weise der Liebhaberinnen
fortführen.
Niemals reizte sie den Mann, ja seinem Verlangen kam sie kaum entgegen;
aber ohne Kälte und abstoßende Strenge glich sie immer einer
liebevollen Braut, die selbst vor dem Erlaubten noch innige Scheu
trägt.
Und so fand sie Eduard diesen Abend in doppeltem Sinne.
Wie sehnlich wünschte sie den Gatten weg; denn die Luftgestalt des
Freundes schien ihr Vorwürfe zu machen.
Aber das, was Eduarden hätte entfernen sollen, zog ihn nur mehr an.
Eine gewisse Bewegung war an ihr sichtbar.
Sie hatte geweint, und wenn weiche Personen dadurch meist an Anmut
verlieren, so gewinnen diejenigen dadurch unendlich, die wir
gewöhnlich als stark und gefaßt kennen.
Eduard war so liebenswürdig, so freundlich, so dringend; er bat sie,
bei ihr bleiben zu dürfen, er forderte nicht, bald ernst bald
scherzhaft suchte er sie zu bereden, er dachte nicht daran, daß er
Rechte habe, und löschte zuletzt mutwillig die Kerze aus.
In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung,
behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard
hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann
näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug,
sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander.
Und doch läßt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben.
Sie brachten einen Teil der Nacht unter allerlei Gesprächen und
Scherzen zu, die um desto freier waren, als das Herz leider keinen
Teil daran nahm.
Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau erwachte,
schien ihm der Tag ahnungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm
ein Verbrechen zu beleuchten; er schlich sich leise von ihrer Seite,
und sie fand sich, seltsam genug, allein, als sie erwachte.
Als die Gesellschaft zum Frühstück wieder zusammenkam, hätte ein
aufmerksamer Beobachter an dem Betragen der einzelnen die
Verschiedenheit der innern Gesinnungen und Empfindungen abnehmen
können.
Der Graf und die Baronesse begegneten sich mit dem heitern Behagen,
das ein Paar Liebende empfinden, die sich nach erduldeter Trennung
ihrer wechselseitigen Neigung abermals versichert halten, dagegen
Charlotte und Eduard gleichsam beschämt und ruhig dem Hauptmann und
Ottilien entgegentraten.
Denn so ist die Liebe beschaffen, daß sie allein recht zu haben glaubt
und alle anderen Rechte vor ihr verschwinden.
Ottilie war kindlich heiter, nach ihrer Weise konnte man sie offen
nennen.
Ernst erschien der Hauptmann; ihm war bei der Unterredung mit dem
Grafen, indem dieser alles in ihm aufregte, was einige Zeit geruht und
geschlafen hatte, nur zu fühlbar geworden, daß er eigentlich hier
seine Bestimmung nicht erfülle und im Grunde bloß in einem halbtätigen
Müßiggang hinschlendere.
Kaum hatten sich die beiden Gäste entfernt, als schon wieder neuer
Besuch eintraf, Charlotten willkommen, die aus sich selbst
herauszugehen, sich zu zerstreuen wünschte; Eduarden ungelegen, der
eine doppelte Neigung fühlte, sich mit Ottilien zu beschäftigen;
Ottilien gleichfalls unerwünscht, die mit ihrer auf morgen früh so
nötigen Abschrift noch nicht fertig war.
Und so eilte sie auch, als die Fremden sich spät entfernten, sogleich
auf ihr Zimmer.
Es war Abend geworden.
Eduard, Charlotte und der Hauptmann, welche die Fremden, ehe sie sich
in den Wagen setzten, eine Strecke zu Fuß begleitet hatten, wurden
einig, noch einen Spaziergang nach den Teichen zu machen.
Ein Kahn war angekommen, den Eduard mit ansehnlichen Kosten aus der
Ferne verschrieben hatte.
Man wollte versuchen, ob er sich leicht bewegen und lenken lasse.
Er war am Ufer des mittelsten Teiches nicht weit von einigen alten
Eichbäumen angebunden, auf die man schon bei künftigen Anlagen
gerechnet hatte.
Hier sollte ein Landungsplatz angebracht, unter den Bäumen ein
architektonischer Ruhesitz aufgeführt werden, wonach diejenigen, die
über den See fahren, zu steuern hätten.
"Wo wird man denn nun drüben die Landung am besten anlegen?" fragte
Eduard.
"Ich sollte denken, bei meinen Platanen".
"Sie stehen ein wenig zu weit rechts", sagte der Hauptmann. "Landet
man weiter unten, so ist man dem Schlosse näher; doch muß man es
überlegen".
Der Hauptmann stand schon im Hinterteile des Kahns und hatte ein Ruder
ergriffen.
Charlotte stieg ein, Eduard gleichfalls und faßte das andre Ruder;
aber als er eben im Abstoßen begriffen war, gedachte er Ottiliens,
gedachte, daß ihn diese Wasserfahrt verspäten, wer weiß erst wann
zurückführen würde.
Er entschloß sich kurz und gut, sprang wieder ans Land, reichte dem
Hauptmann das andre Ruder und eilte, sich flüchtig entschuldigend,
nach Hause.
Dort vernahm er, Ottilie habe sich eingeschlossen, sie schreibe.
Bei dem angenehmen Gefühle, daß sie für ihn etwas tue, empfand er das
lebhafteste Mißbehagen, sie nicht gegenwärtig zu sehen.
Seine Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke.
Er ging in dem großen Saale auf und ab, versuchte allerlei, und nichts
vermochte seine Aufmerksamkeit zu fesseln.
Sie wünschte er zu sehen, allein zu sehen, ehe noch Charlotte mit dem
Hauptmann zurückkäme.
Es ward Nacht, die Kerzen wurden angezündet.
Endlich trat sie herein, glänzend von Liebenswürdigkeit.
Das Gefühl, etwas für den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes
Wesen über sich selbst gehoben.
Sie legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf den Tisch.
"Wollen wir kollationieren?" sagte sie lächelnd.
Eduard wußte nicht, was er erwidern sollte.
Er sah sie an, er besah die Abschrift.
Die ersten Blätter waren mit der größten Sorgfalt, mit einer zarten
weiblichen Hand geschrieben, dann schienen sich die Züge zu verändern,
leichter und freier zu werden; aber wie erstaunt war er, als er die
letzten Seiten mit den Augen überlief!
"Um Gottes willen!" rief er aus, "was ist das?
Das ist meine Hand!" Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter,
besonders der Schluß war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben
hätte.
Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der größten Zufriedenheit in
die Augen.
Eduard hob seine Arme empor: "du liebst mich!" rief er aus, "Ottilie,
du liebst mich" und sie hielten einander umfaßte.
Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen.
Von diesem Augenblick an war die Welt für Eduarden umgewendet, er
nicht mehr, was er gewesen, die Welt nicht mehr, was sie gewesen.
Sie standen voreinander, er hielt ihre Hände, sie sahen einander in
die Augen, im Begriff, sich wieder zu umarmen.
Charlotte mit dem Hauptmann trat herein.
Zu den Entschuldigungen eines längeren Außenbleibens lächelte Eduard
heimlich.
'O wie viel zu früh kommt ihr!' sagte er zu sich selbst.
Sie setzten sich zum Abendessen.
Die Personen des heutigen Besuchs wurden beurteilt.
Eduard, liebevoll aufgeregt, sprach gut von einem jeden, immer
schonend, oft billigend.
Charlotte, die nicht durchaus seiner Meinung war, bemerkte diese
Stimmung und scherzte mit ihm, daß er, der sonst über die scheidende
Gesellschaft immer das strengste Zungengericht ergehen lasse, heute so
mild und nachsichtig sei.
Mit Feuer und herzlicher überzeugung rief Eduard: "man muß nur Ein
Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen einem die übrigen alle
liebenswürdig vor!" Ottilie schlug die Augen nieder, und Charlotte
sah vor sich hin.
Der Hauptmann nahm das Wort und sagte:" mit den Gefühlen der
Hochachtung, der Verehrung ist es doch auch etwas ähnliches.
Man erkennt nur erst das Schätzenswerte in der Welt, wenn man solche
Gesinnungen an Einem Gegenstande zu üben Gelegenheit findet".
Charlotte suchte bald in ihr Schlafzimmer zu gelangen, um sich der
Erinnerung dessen zu überlassen, was diesen Abend zwischen ihr und dem
Hauptmann vorgegangen war.
Als Eduard ans Ufer springend den Kahn vom Lande stieß, Gattin und
Freund dem schwankenden Element selbst überantwortete, sah nunmehr
Charlotte den Mann, um den sie im stillen schon soviel gelitten hatte,
in der Dämmerung vor sich sitzen und durch die Führung zweier Ruder
das Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen.
Sie empfand eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit.
Das Kreisen des Kahns, das Plätschern der Ruder, der über den
Wasserspiegel hinschauernde Wildhauch, das Säuseln der Rohre, das
letzte Schweben der Vögel, das Blinken und Widerblinken der ersten
Sterne: alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille.
Es schien ihr, der Freund führe sie weit weg, um sie auszusetzen, sie
allein zu lassen.
Eine wunderbare Bewegung war in ihrem Innern, und sie konnte nicht
weinen.
Der Hauptmann beschrieb ihr unterdessen, wie nach seiner Absicht die
Anlagen werden sollten.
Er rühmte die guten Eigenschaften des Kahns, daß er sich leicht mit
zwei Rudern von einer Person bewegen und regieren lasse.
Sie werde das selbst lernen, es sei eine angenehme Empfindung,
manchmal allein auf dem Wasser hinzuschwimmen und sein eigner
Fähr—und Steuermann zu sein.
Bei diesen Worten fiel der Freundin die bevorstehende Trennung aufs
Herz.
'Sagt er das mit Vorsatz?' dachte sie bei sich selbst.
'Weiß er schon davon?
Vermutet ers?
Oder sagt er es zufällig, so daß er mir bewußtlos mein Schicksal
vorausverkündigt?' Es ergriff sie eine große Wehmut, eine Ungeduld;
sie bat ihn, baldmöglichst zu landen und mit ihr nach dem Schlosse
zurückzukehren. Es war das erstemal, daß der Hauptmann die Teiche
befuhr, und ob er gleich im allgemeinen ihre Tiefe untersucht hatte,
so waren ihm doch die einzelnen Stellen unbekannt.
Dunkel fing es an zu werden; er richtete seinen Lauf dahin, wo er
einen bequemen Ort zum Aussteigen vermutete und den Fußpfad nicht
entfernt wußte, der nach dem Schlosse führte.
Aber auch von dieser Bahn wurde er einigermaßen abgelenkt, als
Scharlotte mit einer Art von Angstlichkeit den Wunsch wiederholte,
bald am Lande zu sein.
Er näherte sich mit erneuten Anstrengungen dem Ufer, aber leider
fühlte er sich in einiger Entfernung davon angehalten; er hatte sich
festgefahren, und seine Bemühungen, wieder loszukommen, waren
vergebens.
Was war zu tun?
Ihm blieb nichts übrig, als in das Wasser zu steigen, das seicht
genug war, und die Freundin an das Land zu tragen.
Glücklich brachte er die liebe Bürde hinüber, stark genug, um nicht zu
schwanken oder ihr einige Sorgen zu geben; aber doch hatte sie
ängstlich ihre Arme um seinen Hals geschlungen.
Er hielt sie fest und drückte sie an sich.
Erst auf einem Rasenabhang ließ er sie nieder, nicht ohne Bewegung und
Verwirrung.
Sie lag noch an seinem Halse; er schloß sie aufs neue in seine Arme
und drückte einen lebhaften Kuß auf ihre Lippen; aber auch im
Augenblick lag er zu ihrem Füßen, drückte seinen Mund auf ihre Hand
und rief: "Charlotte, werden Sie mir vergeben?" Der Kuß, den der
Freund gewagt, den sie ihm beinahe zurückgegeben, brachte Charlotten
wieder zu sich selbst.
Sie drückte seine Hand, aber sie hob ihn nicht auf.
Doch indem sie sich zu ihm hinunterneigte und eine Hand auf seine
Schultern legte, rief sie aus: "daß dieser Augenblick in unserm Leben
Epoche mache, können wir nicht verhindern; aber daß sie unser wert sei,
hängt von uns ab.
Sie müssen scheiden, lieber Freund, und Sie werden scheiden. Der Graf
macht Anstalt, Ihr Schicksal zu verbessern; es freut und schmerzt mich.
Ich wollte es verschweigen, bis es gewiß wäre; der Augenblick nötigt
mich, dies Geheimnis zu entdecken.
Nur insofern kann ich Ihnen, kann ich mir verzeihen, wenn wir den Mut
haben, unsre Lage zu ändern, da es von uns nicht abhängt, unsre
Gesinnung zu ändern".
Sie hub ihn auf und ergriff seinen Arm, um sich darauf zu stützen, und
so kamen sie stillschweigend nach dem Schlosse.
Nun aber stand sie in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich als Gattin
Eduards empfinden und betrachten mußte.
Ihr kam bei diesen Widersprüchen ihr tüchtiger und durchs Leben
mannigfaltig geübter Charakter zu Hülfe.
Immer gewohnt, sich ihrer selbst bewußt zu sein, sich selbst zu
gebieten, ward es ihr auch jetzt nicht schwer, durch ernste
Betrachtung sich dem erwünschten Gleichgewichte zu nähern; ja sie
mußte über sich selbst lächeln, indem sie des wunderlichen
Nachtbesuches gedachte.
Doch schnell ergriff sie eine seltsame Ahnung, ein freudig bängliches
Erzittern, das in fromme Wünsche und Hoffnungen sich auflöste.
Gerührt kniete sie nieder, sie wiederholte den Schwur, den sie
Eduarden vor dem Altar getan.
Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern
vorüber.
Sie fühlte sich innerlich wiederhergestellt.
Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig schläft sie ein.
Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung.
Zu schlafen denkt er so wenig, daß es ihm nicht einmal einfällt, sich
auszuziehen.
Die Abschrift des Dokuments küßte er tausendmal, den Anfang von
Ottiliens kindlich schüchterner Hand; das Ende wagt er kaum zu küssen,
weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt.
'O, daß es ein andres Dokument wäre!' sagt er sich im stillen; und
doch ist es ihm auch schon die schönste Versicherung, daß sein
höchster Wunsch erfüllt sei.
Bleibt es ja doch in seinen Händen!
Und wird er es nicht immerfort an sein Herz drücken, obgleich
entstellt durch die Unterschrift eines Dritten?
Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor.
Die warme Nacht lockt ins Freie; er schweift umher, er ist der
unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen.
Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das
Feld, und es wird ihm zu weit.
Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Ottiliens
Fenstern.
Dort setzt er sich auf eine Terrassentreppe.
'Mauern und Riegel', sagt er zu sich selbst, 'trennen uns jetzt, aber
unsre Herzen sind nicht getrennt.
Stünde sie vor mir, in meine Arme würde sie fallen, ich in die ihrigen,
und was bedarf es weiter als diese Gewißheit!'
Alles war still um ihn her, kein Lüftchen regte sich; so still wars,
daß er das wühlende Arbeiten emsiger Tiere unter der Erde vernehmen
konnte, denen Tag und Nacht gleich sind.
Er hing ganz seinen glücklichen Träumen nach, schlief endlich ein und
erwachte nicht eher wieder, als bis die Sonne mit herrlichem Blick
heraufstieg und die frühsten Nebel gewältigte.
Nun fand er sich den ersten Wachenden in seinen Besitzungen.
Die Arbeiter schienen ihm zu lange auszubleiben.
Sie kamen; es schienen ihm ihrer zu wenig und die vorgesetzte
Tagesarbeit für seine Wünsche zu gering.
Er fragte nach mehreren Arbeitern; man versprach sie und stellte sie
im Laufe des Tages.
Aber auch diese sind ihm nicht genug, um seine Vorsätze schleunig
ausgeführt zu sehen.
Das Schaffen macht ihm keine Freude mehr; es soll schon alles fertig
sein, und für wen?
Die Wege sollen gebahnt sein, damit Ottilie bequem sie gehen, die
Sitze schon an Ort und Stelle, damit Ottilie dort ruhen könne.
Auch an dem neuen Hause treibt er, was er kann; es soll an Ottiliens
Geburtstage gerichtet werden.
In Eduards Gesinnungen wie in seinen Handlungen ist kein Maß mehr.
Das Bewußtsein, zu lieben und geliebt zu werden, treibt ihn ins
Unendliche.
Wie verändert ist ihm die Ansicht von allen Zimmern, von allen
Umgebungen!
Er findet sich in seinem eigenen Hause nicht mehr.
Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles; er ist ganz in ihr
versunken, keine andre Betrachtung steigt vor ihm auf, kein Gewissen
spricht ihm zu; alles, was in seiner Natur gebändigt war, bricht los,
sein ganzes Wesen strömt gegen Ottilien.
Der Hauptmann beobachtet dieses leidenschaftliche Treiben und wünscht
den traurigen Folgen zuvorzukommen.
Alle diese Anlagen, die jetzt mit einem einseitigen Triebe, übermäßig
gefördert werden, hatte er auf ein ruhig freundliches Zusammenleben
berechnet.
Der Verkauf des Vorwerks war durch ihn zustande gebracht, die erste
Zahlung geschehen, Charlotte hatte sie der Abrede nach in ihre Kasse
genommen.
Aber sie muß gleich in der ersten Woche Ernst und Geduld und Ordnung
mehr als sonst üben und im Auge haben; denn nach der übereilten Weise
wird das Ausgesetzte nicht lange reichen.
Es war viel angefangen und viel zu tun.
Wie soll er Charlotten in dieser Lage lassen!
Sie beraten sich und kommen überein, man wolle die planmäßigen
Arbeiten lieber selbst beschleunigen, zu dem Ende Gelder aufnehmen und
zu deren Abtragung die Zahlungstermine anweisen, die vom
Vorwerksverkauf zurückgeblieben waren.
Es ließ sich fast ohne Verlust durch Zession der Gerechtsame tun; man
hatte freiere Hand; man leistete, da alles im Gange, Arbeiter genug
vorhanden waren, mehr auf einmal und gelangte gewiß und bald zum Zweck.
Eduard stimmte gern bei, weil es mit seinen Absichten übereintraf.
Im innern Herzen beharrt indessen Charlotte bei dem, was sie bedacht
und sich vorgesetzt, und männlich steht ihr der Freund mit gleichem
Sinn zur Seite.
Aber eben dadurch wird ihre Vertraulichkeit nur vermehrt.
Sie erklären sich wechselseitig über Eduards Leidenschaft, sie beraten
sich darüber.
Charotte schließt Ottilien näher an sich, beobachtet sie strenger, und
je mehr sie ihr eigen Herz gewahr worden, desto tiefer blickt sie in
das Herz des Mädchens.
Sie sieht keine Rettung, als sie muß das Kind entfernen.
Nun scheint es ihr eine glückliche Fügung, daß Luciane ein so
ausgezeichnetes Lob in der Pension erhalten; denn die Großtante, davon
unterrichtet, will sie nun ein für allemal zu sich nehmen, sie um sich
haben, sie in die Welt einführen.
Ottilie konnte in die Pension zurückkehren, der Hauptmann entfernte
sich wohlversorgt; und alles stand wie vor wenigen Monaten, ja um so
viel besser.
Ihr eigenes Verhältnis hoffte Charlotte zu Eduard bald
wiederherzustellen, und sie legte das alles so verständig bei sich
zurecht, daß sie sich nur immer mehr in dem Wahn bestärkte: in einen
frühern, beschränktern Zustand könne man zurückkehren, ein gewaltsam
Entbundenes lasse sich wieder ins Enge bringen.
Eduard empfand indessen die Hindernisse sehr hoch, die man ihm in den
Weg legte.
Er bemerkte gar bald, daß man ihn und Ottilien auseinanderhielt, daß
man ihm erschwerte, sie allein zu sprechen, ja sich ihr zu nähern,
außer in Gegenwart von mehreren; und indem er hierüber verdrießlich
war, ward er es über manches andere.
Konnte er Ottilien flüchtig sprechen, so war es nicht nur, sie seiner
Liebe zu versichern, sondern sich auch über seine Gattin, über den
Hauptmann zu beschweren.
Er fühlte nicht, daß er selbst durch sein heftiges Treiben die Kasse
zu erschöpfen auf dem Wege war; er tadelte bitter Charlotten und den
Hauptmann, daß sie bei dem Geschäft gegen die erste Abrede handelten,
und doch hatte er in die zweite Abrede gewilligt, ja er hatte sie
selbst veranlaßt und notwendig gemacht.
Der Haß ist parteiisch, aber die Liebe ist es noch mehr.
Auch Ottilie entfremdete sich einigermaßen von Charlotten und dem
Hauptmann.
Als Eduard sich einst gegen Ottilien über den letztern beklagte, daß
er als Freund und in einem solchen Verhältnisse nicht ganz aufrichtig
handle, versetzte Ottilie unbedachtsam: "es hat mir schon früher
mißfallen, daß er nicht ganz redlich gegen Sie ist.
Ich hörte ihn einmal zu Charlotten sagen: 'wenn uns nur Eduard mit
seiner Flötendudelei verschonte!
Es kann daraus nichts werden und ist für die Zuhörer so lästig.'
Sie können denken, wie mich das geschmerzt hat, da ich Sie so gern
akkompagniere".
Kaum hatte sie es gesagt, als ihr schon der Geist zuflüsterte, daß sie
hätte schweigen sollen; aber es war heraus.
Eduards Gesichtszüge verwandelten sich.
Nie hatte ihn etwas mehr verdrossen; er war in seinen liebsten
Forderungen angegriffen, er war sich eines kindlichen Strebens ohne
die mindeste Anmaßung bewußt.
Was ihn unterhielt, was ihn erfreute, sollte doch mit Schonung von
Freuden behandelt werden.
Er dachte nicht, wie schrecklich es für einen Dritten sei, sich die
Ohren durch ein unzulängliches Talent verletzen zu lassen.
Er war beleidigt, wütend, um nicht wieder zu vergeben.
Er fühlte sich von allen Pflichten losgesprochen.
Die Notwendigkeit, mit Ottilien zu sein, sie zu sehen, ihr etwas
zuzuflüstern, ihr zu vertrauen, wuchs mit jedem Tage.
Er entschloß sich, ihr zu schreiben, sie um einen geheimen
Briefwechsel zu bitten.
Das Streifchen Papier, worauf er dies lakonisch genug getan hatte, lag
auf dem Schreibtisch und ward vom Zugwind heruntergeführt, als der
Kammerdiener hereintrat, ihm die Haare zu kräuseln.
Gewöhnlich, um die Hitze des Eisens zu versuchen, bückte sich dieser
nach Papierschnitzeln auf der Erde; diesmal ergriff er das Billet,
zwickte es eilig, und es war versengt.
Eduard, den Mißgriff bemerkend, riß es ihm aus der Hand.
Bald darauf setzte er sich hin, es noch einmal zu schreiben; es wollte
nicht ganz so zum zweitenmal aus der Feder.
Er fühlte einiges Bedenken, einige Besorgnis, die er jedoch überwand.
Ottilien wurde das Blättchen in die Hand gedrückt, den ersten
Augenblick, wo er sich ihr nähern konnte.
Ottilie versäumte nicht, ihm zu antworten.
Ungelesen steckte er das Zettelchen in die Weste, die, modisch kurz,
es nicht gut verwahrte.
Es schob sich heraus und fiel, ohne von ihm bemerkt zu werden, auf den
Boden.
Charlotte sah es und hob es auf und reichte es ihm mit einem
flüchtigen überblick.
"Hier ist etwas von deiner Hand", sagte sie, "das du vielleicht ungern
verlörest".
Er war betroffen.
'Verstellt sie sich?' dachte er.
'Ist sie den Inhalt des Blättchens gewahr worden, oder irrt sie sich
an der ähnlichkeit der Hände?' Er hoffte, er dachte das letztre.
Er war gewarnt, doppelt gewarnt; aber diese sonderbaren, zufälligen
Zeichen, durch die ein höheres Wesen mit uns zu sprechen scheint,
waren seiner Leidenschaft unverständlich; vielmehr, indem sie ihn
immer weiter führte, empfand er die Beschränkung, in der man ihn zu
halten schien, immer unangenehmer.
Die freundliche Geselligkeit verlor sich.
Sein Herz war verschlossen, und wenn er mit Eduard und Frau
zusammenzusein genötigt war, so gelang es ihm nicht, seine frühere
Neigung zu ihnen in seinem Busen wieder aufzufinden, zu beleben.
Der stille Vorwurf, den er sich selbst hierüber machen mußte, war ihm
unbequem, und er suchte sich durch eine Art von Humor zu helfen, der
aber, weil er ohne Liebe war, auch der gewohnten Anmut ermangelte.
über alle diese Prüfungen half Charlotten ihr inneres Gefühl hinweg.
Sie war sich ihres ernsten Vorsatzes bewußt, auf eine so schöne, edle
Neigung Verzicht zu tun.
Wie sehr wünschte sie, jenen beiden auch zu Hülfe zu kommen!
Entfernung, fühlte sie wohl, wird nicht allein hinreichend sein, ein
solches übel zu heilen.
Sie nimmt sich vor, die Sache gegen das gute Kind zur Sprache zu
bringen; aber sie vermag es nicht; die Erinnerung ihres eignen
Schwankens steht ihr im Wege.
Sie sucht sich darüber im allgemeinen auszudrücken; das Allgemeine
paßt auch auf ihren eignen Zustand, den sie auszusprechen scheut.
Ein jeder Wink, den sie Ottilien geben will, deutet zurück in ihr
eignes Herz.
Sie will warnen und fühlt, daß sie wohl selbst noch einer Warnung
bedürfen könnte.
Schweigend hält sie daher die Liebenden noch immer auseinander, und
die Sache wird dadurch nicht besser.
Leise Andeutungen, die ihr manchmal entschlüpfen, wirken auf Ottilien
nicht; denn Eduard hatte diese von Charlottens Neigung zum Hauptmann
überzeugt, sie überzeugt, daß Charlotte selbst eine Scheidung wünsche,
die er nun auf eine anständige Weise zu bewirken denke.
Ottilie, getragen durch das Gefühl ihrer Unschuld, auf dem Wege zu dem
erwünschtesten Glück, lebt nur für Eduard.
Durch die Liebe zu ihm in allem Guten gestärkt, um seinetwillen
freudiger in ihrem Tun, aufgeschlossener gegen andre, findet sie sich
in einem Himmel auf Erden.
So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben
fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang
zu gehen, wie man auch in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele
steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede wäre.
Von dem Grafen war indessen ein Brief an den Hauptmann angekommen, und
zwar ein doppelter, einer zum Vorzeigen, der sehr schöne Aussichten in
die Ferne darwies; der andre hingegen, der ein entschiedenes
Anerbieten für die Gegenwart enthielt, eine bedeutende Hof—und
Geschäftsstelle, den Charakter als Major, ansehnlichen Gehalt und
andre Vorteile, sollte wegen verschiedener Nebenumstände noch
geheimgehalten werden.
Auch unterrichtete der Hauptmann seine Freunde nur von jenen
Hoffnungen und verbarg, was so nahe bevorstand.
Indessen setzte er die gegenwärtigen Geschäfte lebhaft fort und machte
in der Stille Einrichtungen, wie alles in seiner Abwesenheit
ungehinderten Fortgang haben könnte.
Es ist ihm nun selbst daran gelegen, daß für manches ein Termin
bestimmt werde, daß Ottiliens Geburtstag manches beschleunige.
Nun wirken die beiden Freunde, obschon ohne ausdrückliches
Einverständnis, gern zusammen.
Eduard ist nun recht zufrieden, daß man durch das Vorauserheben der
Gelder die Kasse verstärkt hat; die ganze Anstalt rückt auf das
rascheste vorwärts.
Die drei Teiche in einen See zu verwandeln, hätte jetzt der Hauptmann
am liebsten ganz widerraten.
Der untere Damm war zu verstärken, die mittlern abzutragen und die
ganze Sache in mehr als einem Sinne wichtig und bedenklich.
Beide Arbeiten aber, wie sie ineinanderwirken konnten, waren schon
angefangen, und hier kam ein junger Architekt, ein ehemaliger Zögling
des Hauptmanns, sehr erwünscht, der teils mit Anstellung tüchtiger
Meister, teils mit Verdingen der Arbeit, wo sichs tun ließ, die Sache
förderte und dem Werke Sicherheit und Dauer versprach; wobei sich der
Hauptmann im stillen freute, daß man seine Entfernung nicht fühlen
würde.
Denn er hatte den Grundsatz, aus einem übernommenen unvollendeten
Geschäft nicht zu scheiden, bis er seine Stelle genugsam ersetzt sähe.
Ja er verachtete diejenigen, die, um ihren Abgang fühlbar zu machen,
erst noch Verwirrung in ihrem Kreise anrichten, indem sie als
ungebildete Selbstler das zu zerstören wünschen, wobei sie nicht mehr
fortwirken sollen.
So arbeitete man immer mit Anstrengung, um Ottiliens Geburtstag zu
verherrlichen, ohne daß man es aussprach oder sichs recht aufrichtig
bekannte.
Nach Charlottens obgleich neidlosen Gesinnungen konnte es doch kein
entschiedenes Fest werden.
Die Jugend Ottiliens, ihre Glücksumstände, das Verhältnis zur Familie
berechtigten sie nicht, als Königin eines Tages zu erscheinen. Und
Eduard wollte nicht davon gesprochen haben, weil alles wie von selbst
entspringen, überraschen und natürlich erfreuen sollte.
Alle kamen daher stillschweigend in dem Vorwande überein, als wenn an
diesem Tage, ohne weitere Beziehung, jenes Lusthaus gerichtet werden
sollte, und bei diesem Anlaß konnte man dem Volke sowie den Freunden
ein Fest ankündigen.
Eduards Neigung war aber grenzenlos.
Wie er sich Ottilien zuzueignen begehrte, so kannte er auch kein Maß
des Hingebens, Schenkens, Versprechens.
Zu einigen Gaben, die er Ottilien an diesem Tage verehren wollte,
hatte ihm Charlotte viel zu ärmliche Vorschläge getan.
Er sprach mit seinem Kammerdiener, der seine Garderobe besorgte und
mit Handelsleuten und Modehändlern in beständigem Verhältnis blieb;
dieser, nicht unbekannt sowohl mit den angenehmsten Gaben selbst als
mit der besten Art, sie zu überreichen, bestellte sogleich in der
Stadt den niedlichsten Koffer, mit rotem Saffian überzogen, mit
Stahlnägeln beschlagen und angefüllt mit Geschenken, einer solchen
Schale würdig.
Noch einen andern Vorschlag tat er Eduarden.
Es war ein kleines Feuerwerk vorhanden, das man immer abzubrennen
versäumt hatte.
Dies konnte man leicht verstärken und erweitern.
Eduard ergriff den Gedanken, und jener versprach, für die Ausführung
zu sorgen.
Die Sache sollte ein Geheimnis bleiben.
Der Hauptmann hatte unterdessen, je näher der Tag heranrückte, seine
polizeilichen Einrichtungen getroffen, die er für so nötig hielt, wenn
eine Masse Menschen zusammenberufen oder -gelockt wird. Ja sogar
hatte er wegen des Bettelns und andrer Unbequemlichkeiten, wodurch die
Anmut eines Festes gestört wird, durchaus Vorsorge genommen.
Eduard und sein Vertrauter dagegen beschäftigten sich vorzüglich mit
dem Feuerwerk.
Am mittelsten Teiche vor jenen großen Eichbäumen sollte es abgebrannt
werden; gegenüber unter den Platanen sollte die Gesellschaft sich
aufhalten, um die Wirkung aus gehöriger Ferne, die Abspiegelung im
Wasser, und was auf dem Wasser selbst brennend zu schwimmen bestimmt
war, mit Sicherheit und Bequemlichkeit anzuschauen.
Unter einem andern Vorwand ließ daher Eduard den Raum unter den
Platanen von Gesträuch, Gras und Moos säubern, und nun erschien erst
die Herrlichkeit des Baumwuchses sowohl an Höhe als Breite auf dem
gereinigten Boden.
Eduard empfand darüber die größte Freude.
'Es war ungefähr um diese Jahrszeit, als ich sie pflanzte.
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