Wie lange
mag es her sein?' sagte er zu sich selbst.
Sobald er nach Hause kam, schlug er in alten Tagebüchern nach, die
sein Vater, besonders auf dem Lande, sehr ordentlich geführt hatte.
Zwar diese Pflanzung konnte nicht darin erwähnt sein, aber eine andre
häuslich wichtige Begebenheit an demselben Tage, deren sich Eduard
noch wohl erinnerte, mußte notwendig darin angemerkt stehen.
Er durchblättert einige Bände, der Umstand findet sich.
Aber wie erstaunt, wie erfreut ist Eduard, als er das wunderbarste
Zusammentreffen bemerkt!
Der Tag, das Jahr jener Baumpflanzung ist zugleich der Tag, das Jahr
von Ottiliens Geburt.
Endlich leuchtete Eduarden der sehnlich erwartete Morgen, und nach und
nach stellten viele Gäste sich ein; denn man hatte die Einladungen
weit umhergeschickt, und manche, die das Legen des Grundsteins
versäumt hatten, wovon man soviel Artiges erzählte, wollten diese
zweite Feierlichkeit um so weniger verfehlen.
Vor Tafel erschienen die Zimmerleute mit Musik im Schloßhofe, ihren
reichen Kranz tragend, der aus vielen stufenweise übereinander
schwankenden Laub—und Blumenreifen zusammengesetzt war.
Sie sprachen ihren Gruß und erbaten sich zur gewöhnlichen
Ausschmückung seidene Tücher und Bänder von dem schönen Geschlecht.
Indes die Herrschaft speiste, setzten sie ihren jauchzenden Zug weiter
fort, und nachdem sie sich eine Zeitlang im Dorfe aufgehalten und
daselbst Frauen und Mädchen gleichfalls um manches Band gebracht, so
kamen sie endlich, begleitet und erwartet von einer großen Menge, auf
die Höhe, wo das gerichtete Haus stand.
Charlotte hielt nach der Tafel die Gesellschaft einigermaßen zurück.
Sie wollte keinen feierlichen, förmlichen Zug, und man fand Sich daher
in einzelnen Partieen, ohne Rang und Ordnung, auf dem Platz gemächlich
ein.
Charlotte zögerte mit Ottilien und machte dadurch die Sache nicht
besser; denn weil Ottilie wirklich die letzte war, die herantrat, so
schien es, als wenn Trompeten und Pauken nur auf sie gewartet hätten,
als wenn die Feierlichkeit bei ihrer Ankunft nun gleich beginnen müßte.
Dem Hause das rohe Ansehn zu nehmen, hatte man es mit grünem Reisig
und Blumen, nach Angabe des Hauptmanns, architektonisch ausgeschmückt;
allein ohne dessen Mitwissen hatte Eduard den Architekten veranlaßt,
in dem Gesims das Datum mit Blumen zu bezeichnen.
Das mochte noch hingehen; allein zeitig genug langte der Hauptmann an,
um zu verhindern, daß nicht auch der Name Ottiliens im Giebelfelde
glänzte.
Er wußte dieses Beginnen auf eine geschickte Weise abzulehnen und die
schon fertigen Blumenbuchstaben beiseitezubringen.
Der Kranz war aufgesteckt und weit umher in der Gegend sichtbar.
Bunt flatterten die Bänder und Tücher in der Luft, und eine kurze Rede
verscholl zum größten Teil im Winde.
Die Feierlichkeit war zu Ende, der Tanz auf dem geebneten und mit
Lauben umkreiseten Platze vor dem Gebäude sollte nun angehen.
Ein schmucker Zimmergeselle führte Eduarden ein flinkes Bauermädchen
zu und forderte Ottilien auf, welche danebenstand.
Die beiden Paare fanden sogleich ihre Nachfolger, und bald genug
wechselte Eduard, indem er Ottilien ergriff und mit ihr die Runde
machte.
Die jüngere Gesellschaft mischte sich fröhlich in den Tanz des Volks,
indes die ältern beobachteten.
Sodann, ehe man sich auf den Spaziergängen zerstreute, ward abgeredet,
daß man sich mit Untergang der Sonne bei den Platanen wieder
versammeln wollte.
Eduard fand sich zuerst ein, ordnete alles und nahm Abrede mit dem
Kammerdiener, der auf der andern Seite in Gesellschaft des
Feuerwerkers die Lusterscheinungen zu besorgen hatte.
Der Hauptmann bemerkte die dazu getroffenen Vorrichtungen nicht mit
Vergnügen; er wollte wegen des zu erwartenden Andrangs der Zuschauer
mit Eduard sprechen, als ihn derselbe etwas hastig bat, er möge ihm
diesen Teil der Feierlichkeit doch allein überlassen.
Schon hatte sich das Volk auf die oberwärts abgestochenen und vom
Rasen entblößten Dämme gedrängt, wo das Erdreich uneben und unsicher
war.
Die Sonne ging unter, die Dämmerung trat ein, und in Erwartung
größerer Dunkelheit wurde die Gesellschaft unter den Platanen mit
Erfrischungen bedient.
Man fand den Ort unvergleichlich und freute sich in Gedanken, künftig
von hier die Aussicht auf einen weiten und so mannigfaltig begrenzten
See zu genießen.
Ein ruhiger Abend, eine vollkommene Windstille versprachen das
nächtliche Fest zu begünstigen, als auf einmal ein entsetzliches
Geschrei entstand.
Große Schollen hatten sich vom Damme losgetrennt, man sah mehrere
Menschen ins Wasser stürzen.
Das Erdreich hatte nachgegeben unter dem Drängen und Treten der immer
zunehmenden Menge.
Jeder wollte den besten Platz haben, und nun konnte niemand vorwärts
noch zurück.
Jedermann sprang auf und hinzu, mehr um zu schauen als zu tun; denn
was war da zu tun, wo niemand hinreichen konnte.
Nebst einigen Entschlossenen eilte der Hauptmann herbei, trieb
sogleich die Menge von dem Damm herunter nach den Ufern, um den
Hülfreichen freie Hand zu geben, welche die Versinkenden
herauszuziehen suchten.
Schon waren alle teils durch eignes, teils durch fremdes Bestreben
wieder auf dem Trochnen, bis auf einen Knaben, der durch allzu
ängstliches Bemühen, statt sich dem Damm zu nähern, sich davon
entfernt hatte.
Die Kräfte schienen ihn zu verlassen, nur einigemal kam noch eine Hand,
ein Fuß in die Höhe.
Unglücklicherweise war der Kahn auf der andern Seite, mit Feuerwerk
gefüllt, nur langsam konnte man ihn ausladen, und die Hülfe verzögerte
sich.
Des Hauptmanns Entschluß war gefaßt, er warf die Oberkleider weg,
aller Augen richteten sich auf ihn, und seine tüchtige, kräftige
Gestalt flößte jedermann Zutrauen ein; aber ein Schrei der
überraschung drang aus der Menge hervor, als er sich ins Wasser
stürzte, jedes Auge begleitete ihn, der als geschickter Schwimmer den
Knaben bald erreichte und ihn, jedoch für tot, an den Damm brachte.
Indessen ruderte der Kahn herbei, der Hauptmann bestieg ihn und
forschte genau von den Anwesenden, ob denn auch wirklich alle gerettet
seien.
Der Chirurgus kommt und übernimmt den totgeglaubten Knaben; Charlotte
tritt hinzu, sie bittet den Hauptmann, nur für sich zu sorgen, nach
dem Schlosse zurückzukehren und die Kleider zu wechseln.
Er zaudert, bis ihm gesetzte, verständige Leute, die ganz nahe
gegenwärtig gewesen, die selbst zur Rettung der einzelnen beigetragen,
auf das heiligste versichern, daß alle gerettet seien.
Charlotte sieht ihn nach Hause gehen, sie denkt, daß Wein und Tee und
was sonst nötig wäre, verschlossen ist, daß ein solchen Fällen die
Menschen gewöhnlich verkehrt handeln; sie eilt durch die zerstreute
Gesellschaft, die sich noch unter den Platanen befindet.
Eduard ist beschäftigt, jedermann zuzureden: man soll bleiben; in
kurzem gedenkt er das Zeichen zu geben, und das Feuerwerk soll
beginnen.
Charlotte tritt hinzu und bittet ihn, ein Vergnügen zu verschieben,
das jetzt nicht am Platze sei, das in dem gegenwärtigen Augenblick
nicht genossen werden könne; sie erinnert ihn, was man dem Geretteten
und dem Retter schuldig sei.
"Der Chirurgus wird schon seine Pflicht tun", versetzte Eduard.
"Er ist mit allem versehen, und unser Zudringen wäre nur eine
hinderliche Teilnahme".
Charlotte bestand auf ihrem Sinne und winkte Ottilien, die sich
sogleich zum Weggehen anschickte.
Eduard ergriff ihre Hand und rief: "wir wollen diesen Tag nicht im
Lazarett endigen!
Zur barmherzigen Schwester ist sie zu gut.
Auch ohne uns werden die Scheintoten erwachen und die Lebendigen sich
abtrocknen".
Charlotte schwieg und ging.
Einige folgten ihr, andere diesen; endlich wollte niemand der Letzte
sein, und so folgten alle.
Eduard und Ottilie fanden sich allein unter den Platanen.
Er bestand darauf, zu bleiben, so dringend, so ängstlich sie ihn auch
bat, mit ihr nach dem Schlosse zurückzukehren.
"Nein, Ottilie!" rief er, "das Außerordentliche geschieht nicht auf
glattem, gewöhnlichem Wege.
Dieser überraschende Vorfall von heute abend bringt uns schneller
zusammen.
Du bist die Meine!
Ich habe dirs schon so oft gesagt und geschworen; wir wollen es nicht
mehr sagen und schwören, nun soll es werden".
Der Kahn von der andern Seite schwamm herüber.
Es war der Kammerdiener, der verlegen anfragte, was nunmehr mit dem
Feuerwerk werden sollte.
"Brennt es ab!" rief er ihm entgegen.
"Für dich allein war es bestellt, Ottilie, und nun sollst du es auch
allein sehen!
Erlaube mir, an deiner Seite sitzend, es mitzugenießen".
Zärtlich bescheiden setzte er sich neben sie, ohne sie zu berühren.
Raketen rauschten auf, Kanonenschläge donnerten, Leuchtkugeln stiegen,
Schwärmer schlängelten und platzten, Räder gischten, jedes erst
einzeln, dann gepaart, dann alle zusammen und immer gewaltsamer
hintereinander und zusammen.
Eduard, dessen Busen brannte, verfolgte mit lebhaft zufriedenem Blick
diese feurigen Erscheinungen.
Ottiliens zartem, aufgeregtem Gemüt war dieses rauschende, blitzende
Entstehen und Verschwinden eher ängstlich als angenehm.
Sie lehnte sich schüchtern an Eduard, dem diese Annäherung, dieses
Zutrauen das volle Gefühl gab, daß sie ihm ganz angehöre.
Die Nacht war kaum in ihre Rechte wieder eingetreten, als der Mond
aufging und die Pfade der beiden Rückkehrenden beleuchtete.
Eine Figur, den Hut in der Hand, vertrat ihnen den Weg und sprach sie
um ein Almosen an, da er an diesem Festlichen Tage versäumt worden sei.
Der Mond schien ihm ins Gesicht, und Eduard erkannte die Züge jenes
zudringlichen Bettlers.
Aber so glücklich wie er war, konnte er nicht ungehalten sein, konnte
es ihm nicht einfallen, daß besonders für heute das Betteln höchlich
verpönt worden.
Er forschte nicht lange in der Tasche und gab ein Goldstück hin.
Er hätte jeden gern glücklich gemacht, da sein Glück ohne Grenzen
schien.
Zu Hause war indes alles erwünscht gelungen.
Die Tätigkeit des Chirurgen, die Bereitschaft alles Nötigen, der
Beistand Charlottens, alles wirkte zusammen, und der Knabe ward wieder
zum Leben hergestellt.
Die Gäste zerstreuten sich, sowohl um noch etwas vom Feuerwerk aus der
Ferne zu sehen, als auch um nach solchen verworrnen Szenen ihre ruhige
Heimat wieder zu betreten.
Auch hatte der Hauptmann, geschwind umgekleidet, an der nötigen
Vorsorge tätigen Anteil genommen; alles war beruhigt, und er fand sich
mit Charlotten allein.
Mit zutraulicher Freundlichkeit erklärte er nun, daß seine Abreise
nahe bevorstehe.
Sie hatte diesen Abend so viel erlebt, daß diese Entdeckung wenig
Eindruck auf sie machte; sie hatte gesehen, wie der Freund sich
aufopferte, wie er rettete und selbst gerettet war.
Diese wunderbaren Ereignisse schienen ihr eine bedeutende Zukunft,
aber keine unglückliche zu weissagen.
Eduarden, der mit Ottilien hereintrat, wurde die bevorstehende Abreise
des Hauptmanns gleichfalls angekündigt.
Er argwohnte, daß Charlotte früher um das Nähere gewußt habe, war aber
viel zu sehr mit sich und seinen Absichten beschäftigt, als daß er es
hätte übel empfinden sollen.
Im Gegenteil vernahm er aufmerksam und zufrieden die gute und
ehrenvolle Lage, in die der Hauptmann versetzt werden sollte.
Unbändig drangen seine geheimen Wünsche den Begebenheiten vor. Schon
sah er jenen mit Charlotten verbunden, sich mit Ottilien.
Man hätte ihm zu diesem Fest kein größeres Geschenk machen können.
Aber wie erstaunt war Ottilie, als sie auf ihr Zimmer trat und den
köstlichen kleinen Koffer auf ihrem Tische fand!
Sie säumte nicht, ihn zu eröffnen.
Da zeigte sich alles so schön gepackt und geordnet, daß sie es nicht
auseinanderzunehmen, ja kaum zu lüften wagte.
Musselin, Batist, Seide, Schals und Spitzen wetteiferten an Feinheit,
Zierlichkeit und Kostbarkeit.
Auch war der Schmuck nicht vergessen.
Sie begriff wohl die Absicht, sie mehr als einmal vom Kopf bis auf den
Fuß zu kleiden; es war aber alles so kostbar und fremd, daß sie sichs
in Gedanken nicht zuzueignen getraute.
Des andern Morgens war der Hauptmann verschwunden und ein dankbar
gefühltes Blatt an die Freunde von ihm zurückgeblieben.
Er und Charlotte hatten abends vorher schon halben und einsilbigen
Abschied genommen.
Sie empfand eine ewige Trennung und ergab sich darein; denn in dem
zweiten Briefe des Grafen, den ihr der Hauptmann zuletzt mitteilte,
war auch von einer Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat die Rede, und
obgleich er diesem Punkt keine Aufmerksamkeit schenkte, so hielt sie
doch die Sache schon für gewiß und entsagte ihm rein und völlig.
Dagegen glaubte sie nun auch die Gewalt, die sie über sich selbst
ausgeübt, von andern fordern zu können.
Ihr war es nicht unmöglich gewesen, andern sollte das gleiche möglich
sein.
In diesem Sinne begann sie das Gespräch mit ihrem Gemahl, um so mehr
offen und zuversichtlich, als sie empfand, daß die Sache ein für
allemal abgetan werden müsse.
"Unser Freund hat uns verlassen", sagte sie; "wir sind nun wieder
gegeneinander über wie vormals, und es käme nun wohl auf uns an, ob
wir wieder völlig in den alten Zustand zurückkehren wollten".
Eduard, der nichts vernahm, als was seiner Leidenschaft schmeichelte,
glaubte, daß Charlotte durch diese Worte den früheren Witwenstand
bezeichnen und, obgleich auf unbestimmte Weise, zu einer Scheidung
Hoffnung machen wolle.
Er antwortete deshalb mit Lächeln: "warum nicht?
Es käme nur darauf an, daß man sich verständigte".
Er fand sich daher gar sehr betrogen, als Charlotte versetzte: "auch
Ottilien in eine andere Lage zu bringen, haben wir gegenwärtig nur zu
wählen; denn es findet sich eine doppelte Gelegenheit, ihr
Verhältnisse zu geben, die für sie wünschenswert sind.
Sie kann in die Pension zurückkehren, da meine Tochter zur Großtante
gezogen ist; sie kann in ein angesehenes Haus aufgenommen werden, um
mit einer einzigen Tochter alle Vorteile einer standesmäßigen
Erziehung zu genießen".
"Indessen", versetzte Eduard ziemlich gefaßt, "hat Ottilie sich in
unserer freundlichen Gesellschaft so verwöhnt, daß ihr eine andere
wohl schwerlich willkommen sein möchte".
"Wir haben uns alle verwöhnt", sagte Charlotte, "und du nicht zum
letzten.
Indessen ist es eine Epoche, die uns zur Besinnung auffordert, die uns
ernstlich ermahnt, an das Beste sämtlicher Mitglieder unseres kleinen
Zirkels zu denken und auch irgendeine Aufopferung nicht zu versagen".
"Wenigstens finde ich es nicht billig", versetzte Eduard, "daß Ottilie
aufgeopfert werde, und das geschähe doch, wenn man sie gegenwärtig
unter fremde Menschen hinunterstieße.
Den Hauptmann hat sein gutes Geschick hier aufgesucht; wir dürfen ihn
mit Ruhe, ja mit Behagen von uns wegscheiden lassen.
Wer weiß, was Ottilien bevorsteht; warum sollten wir uns übereilen?"
"Was uns bevorsteht, ist ziemlich klar", versetzte Charlotte mit
einiger Bewegung, und da sie die Absicht hatte, ein für allemal sich
auszusprechen, fuhr sie fort: "du liebst Ottilien, du gewöhnst dich an
sie.
Neigung und Leidenschaft entspringt und nährt sich auch von ihrer
Seite.
Warum sollen wir nicht mit Worten aussprechen, was uns jede Stunde
gesteht und bekennt?
Sollen wir nicht soviel Vorsicht haben, uns zu fragen, was das werden
wird?" "Wenn man auch sogleich nicht darauf antworten kann",
versetzte Eduard, der sich zusammennahm, "so läßt sich doch soviel
sagen, daß man eben alsdann sich am ersten entschließt abzuwarten, was
uns die Zukunft lehren wird, wenn man gerade nicht sagen kann, was aus
einer Sache werden soll".
"Hier vorauszusehen", versetzte Charlotte, "bedarf es wohl keiner
großen Weisheit, und soviel läßt sich auf alle Fälle gleich sagen, daß
wir beide nicht mehr jung genug sind, um blindlings dahin zu gehen,
wohin man nicht möchte oder nicht sollte.
Niemand kann mehr für uns sorgen; wir müssen unsre eigenen Freunde
sein, unsre eigenen Hofmeister.
Niemand erwartet von uns, daß wir uns in ein äußerstes verlieren
werden, niemand erwartet, uns tadelnswert oder gar lächerlich zu
finden".
"Kannst du mirs verdenken", versetzte Eduard, der die offne, reine
Sprache seiner Gattin nicht zu erwidern vermochte, "kannst du mich
schelten, wenn mir Ottiliens Glück am Herzen liegt?
Und nicht etwa ein künftiges, das immer nicht zu berechnen ist,
sondern ein gegenwärtiges?
Denke dir aufrichtig und ohne Selbstbetrug Ottilien aus unserer
Gesellschaft gerissen und fremden Menschen untergeben—ich wenigstens
fühle mich nicht grausam genug, ihr eine solche Veränderung zuzumuten".
Charlotte ward gar wohl die Entschlossenheit ihres Gemahls hinter
seiner Verstellung gewahr.
Erst jetzt fühlte sie, wie weit er sich von ihr entfernt hatte.
Mit einiger Bewegung rief sie aus: "kann Ottilie glücklich sein, wenn
sie uns entzweit, wenn sie mir einen Gatten, seinen Kindern einen
Vater entreißt?" "Für unsere Kinder, dächte ich, wäre gesorgt", sagte
Eduard lächelnd und kalt; etwas freundlicher aber fügte er hinzu: "wer
wird auch gleich das äußerste denken!" "Das äußerste liegt der
Leidenschaft zu allernächst", bemerkte Charlotte.
"Lehne, solange es noch Zeit ist, den guten Rat nicht ab, nicht die
Hülfe, die ich uns biete.
In trüben Fällen muß derjenige wirken und helfen, der am klarsten
sieht.
Diesmal bin ichs.
Lieber, liebster Eduard, laß mich gewähren!
Kannst du mir zumuten, daß ich auf mein wohlerworbenes Glück, auf die
schönsten Rechte, auf dich so geradehin Verzicht leisten soll?" "Wer
sagt das?" versetzte Eduard mit einiger Verlegenheit.
"Du selbst", versetzte Charlotte; "indem du Ottilien in der Nähe
behalten willst, gestehst du nicht alles zu, was daraus entspringen
muß?
Ich will nicht in dich dringen; aber wenn du dich nicht überwinden
kannst, so wirst du wenigstens dich nicht lange mehr betriegen können".
Eduard fühlte, wie recht sie hatte.
Ein ausgesprochenes Wort ist fürchterlich, wenn es das auf einmal
ausspricht, was das Herz lange sich erlaubt hat; und um nur für den
Augenblick auszuweichen, erwiderte Eduard: "es ist mir ja noch nicht
einmal klar, was du vorhast".
"Meine Absicht war", versetzte Charlotte, "mit dir die beiden
Vorschläge zu überlegen.
Beide haben viel Gutes.
Die Pension würde Ottilien am gemäßesten sein, wenn ich betrachte, wie
das Kind jetzt ist.
Jene größere und weitere Lage verspricht aber mehr, wenn ich bedenke,
was sie werden soll".
Sie legte darauf umständlich ihrem Gemahl die beiden Verhältnisse dar
und schloß mit den Worten: "was meine Meinung betrifft, so würde ich
das Haus jener Dame der Pension vorziehen aus mehreren Ursachen,
besonders aber auch, weil ich die Neigung, ja die Leidenschaft des
jungen Mannes, den Ottilie dort für sich gewonnen, nicht vermehren
will".
Eduard schien ihr Beifall zu geben, nur aber, um einigen Aufschub zu
suchen.
Charlotte, die darauf ausging, etwas Entscheidendes zu tun, ergriff
sogleich die Gelegenheit, als Eduard nicht unmittelbar widersprach,
die Abreise Ottiliens, zu der sie schon alles im stillen vorbereitet
hatte, auf die nächsten Tage festzusetzen.
Eduard schauderte, er hielt sich für verraten und die liebevolle
Sprache seiner Frau für ausgedacht, künstlich und planmäßig, um ihn
auf ewig von seinem Glücke zu trennen.
Er schien ihr die Sache ganz zu überlassen; allein schon war innerlich
sein Entschluß gefaßt.
Um nur zu Atem zu kommen, um das bevorstehende unabsehliche Unheil der
Entfernung Ottiliens abzuwenden, entschied er sich, sein Haus zu
verlassen, und zwar nicht ganz ohne Vorbewußt Charlottens, die er
jedoch durch die Einleitung zu täuschen verstand, daß er bei Ottiliens
Abreise nicht gegenwärtig sein, ja sie von diesem Augenblick an nicht
mehr sehen wolle.
Charlotte, die gewonnen zu haben glaubte, tat ihm allen Vorschub.
Er befahl seine Pferde, gab dem Kammerdiener die nötige Anweisung, was
er einpacken und wie er ihm folgen solle, und so, wie schon im
Stegreife, setzte er sich hin und schrieb.
"Das übel, meine Liebe, das uns befallen hat, mag heilbar sein oder
nicht, dies nur fühle ich: wenn ich im Augenblicke nicht verzweifeln
soll, so muß ich Aufschub finden für mich, für uns alle.
Indem ich mich aufopfre, kann ich fordern.
Ich verlasse mein Haus und kehre nur unter günstigern, ruhigern
Aussichten zurück.
Du sollst es indessen besitzen, aber mit Ottilien.
Bei dir will ich sie wissen, nicht unter fremden Menschen.
Sorge für sie, behandle sie wie sonst, wie bisher, ja nur immer
liebevoller, freundlicher und zarter.
Ich verspreche, kein heimliches Verhältnis zu Ottilien zu suchen.
Laßt mich lieber eine Zeitlang ganz unwissend, wie ihr lebt; ich will
mir das Beste denken.
Denkt auch so von mir.
Nur, was ich dich bitte, auf das innigste, auf das lebhafteste: mache
keinen Versuch, Ottilien sonst irgendwo unterzugeben, in neue
Verhältnisse zu bringen!
Außer dem Bezirk deines Schlosses, deines Parks, fremden Menschen
anvertraut, gehört sie mir, und ich werde mich ihrer bemächtigen.
Ehrst du aber meine Neigung, meine Wünsche, meine Schmerzen,
schmeichelst du meinem Wahn, meinen Hoffnungen, so will ich auch der
Genesung nicht widerstreben, wenn sie sich mir anbietet".
Diese letzte Wendung floß ihm aus der Feder, nicht aus dem Herzen.
Ja, wie er sie auf dem Papier sah, fing er bitterlich an zu weinen.
Er sollte auf irgendeine Weise dem Glück, ja dem Unglück, Ottilien zu
lieben, entsagen!
Jetzt fühlte er, was er tat.
Er entfernte sich, ohne zu wissen, was daraus entstehen konnte.
Er sollte sie wenigstens jetzt nicht wiedersehen; ob er sie je
widersähe, welche Sicherheit konnte er sich darüber versprechen?
Aber der Brief war geschrieben; die Pferde standen vor der Tür; jeden
Augenblick mußte er fürchten, Ottilien irgendwo zu erblicken und
zugleich seinen Entschluß vereitelt zu sehen.
Er faßte sich; er dachte, daß es ihm doch möglich sei, jeden
Augenblick zurückzukehren und durch die Entfernung gerade seinen
Wünschen näher zu kommen.
Im Gegenteil stellte er sich Ottilien vor, aus dem Hause gedrängt,
wenn er bliebe.
Er siegelte den Brief, eilte die Treppe hinab und schwang sich aufs
Pferd.
Als er beim Wirtshause vorbeitritt, sah er den Bettler in der Laube
sitzen, den er gestern nacht so reichlich beschenkt hatte.
Dieser saß behaglich an seinem Mittagsmahle, stand auf und neigte
sich ehrerbietig, ja anbetend vor Eduarden.
Eben diese Gestalt war ihm gestern erschienen, als er Ottilien am Arm
führte; nun erinnerte sie ihn schmerzlich an die glücklichste Stunde
seines Lebens.
Seine Leiden vermehrten sich; das Gefühl dessen, was er zurückließ,
war ihm unerträglich; nochmals blickte er nach dem Bettler: "o du
Beneidenswerter!" rief er aus; "du kannst noch am gestrigen Almosen
zehren und ich nicht mehr am gestrigen Glücke!" Ottilie trat ans
Fenster, als sie jemanden wegreiten hörte, und sah Eduarden noch im
Rücken.
Es kam ihr wunderbar vor, daß er das Haus verließ, ohne sie gesehen,
ohne ihr einen Morgengruß geboten zu haben.
Sie ward unruhig und immer nachdenklicher, als Charlotte sie auf einen
weiten Spaziergang mit sich zog und von mancherlei Gegenständen sprach,
aber des Gemahls, und wie es schien vorsätzlich, nicht erwähnte.
Doppelt betroffen war sie daher, bei ihrer Zurückkunft den Tisch nur
mit zwei Gedecken besetzt zu finden.
Wir vermissen ungern gering scheinende Gewohnheiten, aber schmerzlich
empfinden wir erst ein solches Entbehren in bedeutenden Fällen.
Eduard und der Hauptmann fehlten, Charlotte hatte seit langer Zeit zum
erstenmal den Tisch selbst angeordnet, und es wollte Ottilien scheinen,
als wenn sie abgesetzt wäre.
Die beiden Frauen saßen gegeneinander über; Charlotte sprach ganz
unbefangen von der Anstellung des Hauptmanns und von der wenigen
Hoffnung, ihn bald wiederzusehen.
Das einzige tröstete Ottilien in ihrer Lage, daß sie glauben konnte,
Eduard sei, um den Freund noch eine Strecke zu begleiten, ihm
nachgeritten.
Allein da sie von Tische aufstanden, sahen sie Eduards Reisewagen
unter dem Fenster, und als Charlotte einigermaßen unwillig fragte, wer
ihn hieher bestellt habe, so antwortete man ihr, es sei der
Kammerdiener, der hier noch einiges aufpacken wolle.
Ottilie brauchte ihre ganze Fassung, um ihre Verwunderung und ihren
Schmerz zu verbergen.
Der Kammerdiener trat herein und verlangte noch einiges.
Es war eine Mundtasse des Herrn, ein paar silberne Löffel und
mancherlei, was Ottilien auf eine weitere Reise, auf ein längeres
Außenbleiben zu deuten schien.
Charlotte verwies ihm sein Begehren ganz trocken: sie verstehe nicht,
was er damit sagen wolle; denn er habe ja alles, was sich auf den
Herrn beziehe, selbst im Beschluß.
Der gewandte Mann, dem es freilich nur darum zu tun war, Ottilien zu
sprechen und sie deswegen unter irgendeinem Vorwande aus dem Zimmer zu
locken, wußte sich zu entschuldigen und auf seinem Verlangen zu
beharren, das ihm Ottilie auch zu gewähren wünschte; allein Charlotte
lehnte es ab, der Kammerdiener mußte sich entfernen, und der Wagen
rollte fort.
Es war für Ottilien ein schrecklicher Augenblick.
Sie verstand es nicht, sie begriff es nicht; aber daß ihr Eduard auf
geraume Zeit entrissen war, konnte sie fühlen.
Charlotte fühlte den Zustand mit und ließ sie allein.
Wir wagen nicht, ihren Schmerz, ihre Tränen zu schildern.
Sie litt unendlich.
Sie bat nur Gott, daß er ihr nur über diesen Tag weghelfen möchte; sie
überstand den Tag und die Nacht, und als sie sich wiedergefunden,
glaubte sie, ein anderes Wesen anzutreffen.
Sie hatte sich nicht gefaßt, sich nicht ergeben, aber sie war nach so
großem Verluste noch da und hatte noch mehr zu befürchten.
Ihre nächste Sorge, nachdem das Bewußtsein wiedergekehrt, war sogleich,
sie möchte nun, nach Entfernung der Männer, gleichfalls entfernt
werden.
Sie ahnte nichts von Eduards Drohungen, wodurch ihr der Aufenthalt
neben Charlotten gesichert war; doch diente ihr das Betragen
Charlottens zu einiger Beruhigung.
Diese suchte das gute Kind zu beschäftigen und ließ sie nur selten,
nur ungern von sich; und ob sie gleich wohl wußte, daß man mit Worten
nicht viel gegen eine entschiedene Leidenschaft zu wirken vermag, so
kannte sie doch die Macht der Besonnenheit, des Bewußtseins, und
brachte daher manches zwischen sich und Ottilien zur Sprache.
So war es für diese ein großer Trost, als jene gelegentlich mit
Bedacht und Vorsatz die weise Betrachtung anstellte: "wie lebhaft ist",
sagte sie, "die Dankbarkeit derjenigen, denen wir mit Ruhe über
leidenschaftliche Verlegenheiten hinaushelfen!
Laß uns freudig und munter in das eingreifen, was die Männer
unvollendet zurückgelassen haben; so bereiten wir uns die schönste
Aussicht auf ihre Rückkehr, indem wir das, was ihr stürmendes,
ungeduldiges Wesen zerstören möchte, durch unsre Mäßigung erhalten und
fördern".
"Da Sie von Mäßigung sprechen, liebe Tante", versetzte Ottilie, "so
kann ich nicht bergen, daß mir dabei die Unmäßigkeit der Männer,
besonders was den Wein betrifft, einfällt.
Wie oft hat es mich betrübt und geängstigt, wenn ich bemerken mußte,
daß reiner Verstand, Klugheit, Schonung anderer, Anmut und
Liebenswürdigkeit selbst für mehrere Stunden verlorengingen und oft
statt alles des Guten, was ein trefflicher Mann hervorzubringen und zu
gewähren vermag, Unheil und Verwirrung hereinzubrechen drohte!
Wie oft mögen dadurch gewaltsame Entschließungen veranlaßt werden!"
Charlotte gab ihr recht, doch setzte sie das Gespräch nicht fort; denn
sie fühlte nur zu wohl, daß auch hier Ottilie bloß Eduarden wieder im
Sinne hatte, der zwar nicht gewöhnlich, aber doch öfter, als es
wünschenswert war, sein Vergnügen, seine Gesprächigkeit, seine
Tätigkeit durch einen gelegentlichen Weingenuß zu steigern pflegte.
Hatte bei jener äußerung Charlottens sich Ottilie die Männer,
besonders Eduarden, wieder herandenken können, so war es ihr um desto
auffallender, als Charlotte von einer bevorstehenden Heirat des
Hauptmanns wie von einer ganz bekannten und gewissen Sache sprach,
wodurch denn alles ein andres Ansehn gewann, als sie nach Eduards
frühern Versicherungen sich vorstellen mochte.
Durch alles dies vermehrte sich die Aufmerksamkeit Ottiliens auf jede
äußerung, jeden Wink, jede Handlung, jeden Schritt Charlottens.
Ottilie war klug, scharfsinnig, argwöhnisch geworden, ohne es zu
wissen.
Charlotte durchdrang indessen das einzelne ihrer ganzen Umgebung mit
scharfem Blick und wirkte darin mit ihrer klaren Gewandtheit, wobei
sie Ottilien beständig teilzunehmen nötigte.
Sie zog ihren Haushalt ohne Bänglichkeit ins Enge; ja, wenn sie alles
genau betrachtete, so hielt sie den leidenschaftlichen Vorfall für
eine Art von glücklicher Schickung.
Denn auf den bisherigen Wege wäre man leicht ins Grenzenlose geraten
und hätte den schönen Zustand reichlicher Glücksgüter, ohne sich
zeitig genug zu besinnen, durch ein vordringliches Leben und Treiben,
wo nicht zerstört, doch erschüttert.
Was von Parkanlagen im Gange war, störte sie nicht.
Sie ließ vielmehr dasjenige fortsetzen, was zum Grunde künftiger
Ausbildung liegen mußte; aber dabei hatte es auch sein Bewenden. Ihr
zurückkehrender Gemahl sollte noch genug erfreuliche Beschäftigung
finden.
Bei diesen Arbeiten und Vorsätzen konnte sie nicht genug das
Verfahren des Architekten loben.
Der See lag in kurzer Zeit ausgebreitet vor ihren Augen und die
neuentstandenen Ufer zierlich und mannigfaltig bepflanzt und beraset.
An dem neuen Hause ward alle rauhe Arbeit vollbracht, was zur
Erhaltung nötig war, besorgt, und dann machte sie einen Abschluß da,
wo man mit Vergnügen wieder von vorn anfangen konnte.
Dabei war sie ruhig und heiter; Ottilie schien es nur; denn in allem
beobachtete sie nichts als Symptome, ob Eduard wohl bald erwartet
werde oder nicht.
Nichts interessierte sie an allem als diese Betrachtung.
Willkommen war ihr daher eine Anstalt, zu der man die Bauerknaben
versammelte und die darauf abzielte, den weitläufig gewordenen Park
immer rein zu erhalten.
Eduard hatte schon den Gedanken gehegt.
Man ließ den Knaben eine Art von heiterer Montierung machen, die sie
in den Abendstunden anzogen, nachdem sie sich durchaus gereinigt und
gesäubert hatten.
Die Garderobe war im Schloß; dem verständigsten, genausten Knaben
vertraute man die Aufsicht an; der Architekt leitete das Ganze, und
ehe man sichs versah, so hatten die Knaben alle ein gewisses Geschick.
Man fand an ihnen eine bequeme Dressur, und sie verrichteten ihr
Geschäft nicht ohne eine Art von Manöver.
Gewiß, wenn sie mit ihren Scharreisen, gestielten Messerklingen,
Rechen, kleinen Spaten und Hacken und wedelartigen Besen einherzogen,
wenn andre mit Körben hinterdrein kamen, um Unkraut und Steine
beiseitezuschaffen, andre das hohe, große, eiserne Walzenrad hinter
sich herzogen, so gab es einen hübschen, erfreulichen Aufzug, in
welchem der Architekt eine artige Folge von Stellungen und Tätigkeiten
für den Fries eines Gartenhauses sich anmerkte; Ottilie hingegen sah
darin nur eine Art von Parade, welche den rückkehrenden Hausherrn bald
begrüßen sollte.
Dies gab ihr Mut und Lust, ihn mit etwas ähnlichem zu empfangen.
Man hatte zeither die Mädchen des Dorfes im Nähen, Stricken, Spinnen
und andern weiblichen Arbeiten zu ermuntern gesucht.
Auch diese Tugenden hatten zugenommen seit jenen Anstalten zu
Reinlichkeit und Schönheit des Dorfes.
Ottilie wirkte stets mit ein, aber mehr zufällig, nach Gelegenheit und
Neigung.
Nun gedachte sie es vollständiger und folgerechter zu machen. Aber
aus einer Anzahl Mädchen läßt sich kein Chor bilden wie aus einer
Anzahl Knaben.
Sie folgte ihrem guten Sinne, und ohne sichs ganz deutlich zu machen,
suchte sie nichts, als einem jeden Mädchen Anhänglichkeit an sein Haus,
seine Eltern und seine Geschwister einzuflößen.
Das gelang ihr mit vielen.
Nur über ein kleines, lebhaftes Mädchen wurde immer geklagt, daß sie
ohne Geschick sei und im Hause nun ein für allemal nichts tun wolle.
Ottilie konnte dem Mädchen nicht feind sein, denn ihr war es besonders
freundlich.
Zu ihr zog es sich, mit ihr ging und lief es, wenn sie es erlaubte.
Da war es tätig, munter und unermüdet.
Die Anhänglichkeit an eine schöne Herrin schien dem Kinde Bedürfnis zu
sein.
Anfänglich duldete Ottilie die Begleitung des Kindes; dann faßte sie
selbst Neigung zu ihm; endlich trennten sie sich nicht mehr, und Nanny
begleitete ihre Herrin überallhin.
Diese nahm öfters den Weg nach dem Garten und freute sich über das
schöne Gedeihen.
Die Beeren—und Kirschenzeit ging zu Ende, deren Spätlinge jedoch
Nanny sich besonders schmecken ließ.
Bei dem übrigen Obste, das für den Herbst eine so reichliche Ernte
versprach, gedachte der Gärtner beständig des Herrn und niemals, ohne
ihn herbeizuwünschen.
Ottilie hörte dem guten alten Manne so gern zu.
Er verstand sein Handwerk vollkommen und hörte nicht auf, ihr von
Eduard vorzusprechen.
Als Ottilie sich freute, daß die Pfropfreiser dieses Frühjahrs alle so
gar schön gekommen, erwiderte der Gärtner bedenklich: "ich wünsche nur,
daß der gute Herr viel Freude daran erleben möge.
Wäre er diesen Herbst hier, so würde er sehen, was für köstliche
Sorten noch von seinem Herrn Vater her im alten Schloßgarten stehen.
Die jetzigen Herren Obstgärtner sind nicht so zuverlässig, als sonst
die Kartäuser waren.
In den Katalogen findet man wohl lauter honette Namen.
Man pfropft und erzieht und endlich, wenn sie Fürchte tragen, so ist
es nicht der Mühe wert, daß solche Bäume im Garten stehen".
Am wiederholtesten aber fragte der treue Diener, fast so oft er
Ottilien sah, nach der Rückkunft des Herrn und nach dem Termin
derselben.
Und wenn Ottilie ihn nicht angeben konnte, so ließ ihr der gute Mann
nicht ohne stille Betrübnis merken, daß er glaube, sie vertraue ihm
nicht, und peinlich war ihr das Gefühl der Unwissenheit, das ihr auf
diese Weise recht aufgedrungen ward.
Doch konnte sie sich von diesen Rabatten und Beeten nicht trennen.
Was sie zusammen zum Teil gesäet, alles gepflanzt hatten, stand nur im
völligen Flor; kaum bedurfte es noch einer Pflege, außer daß Nanny
immer zum Gießen bereit war.
Mit welchen Empfindungen betrachtete Ottilie die späteren Blumen, die
sich erst anzeigten, deren Glanz und Fülle dereinst an Eduards
Geburtstag, dessen Feier sie sich manchmal versprach, prangen, ihre
Neigung und Dankbarkeit ausdrücken sollten!
Doch war die Hoffnung, dieses Fest zu sehen, nicht immer gleich
lebendig.
Zweifel und Sorgen umflüsterten stets die Seele des guten Mädchens.
Zu einer eigentlichen, offnen übereinstimmung mit Charlotten konnte es
auch wohl nicht wieder gebracht werden.
Denn freilich war der Zustand beider Frauen sehr verschieden. Wenn
alles beim alten blieb, wenn man in das Gleis des gesetzmäßigen Lebens
zurückkehrte, gewann Charlotte an gegenwärtigem Glück, und eine frohe
Aussicht in die Zukunft öffnete sich ihr; Ottilie hingegen verlor
alles, man kann wohl sagen alles; denn sie hatte zuerst Leben und
Freude in Eduard gefunden, und in dem gegenwärtigen Zustande fühlte
sie eine unendliche Leere, wovon sie früher kaum etwas geahnet hatte.
Denn ein Herz, das sucht, fühlt wohl, daß ihm etwas mangle; ein Herz,
das verloren hat, fühlt, daß es entbehre.
Sehnsucht verwandelt sich in Unmut und Ungeduld, und ein weibliches
Gemüt, zum Erwarten und Abwarten gewöhnt, möchte nun aus seinem Kreise
herausschreiten, tätig werden, unternehmen und auch etwas für sein
Glück tun.
Ottilie hatte Eduarden nicht entsagt.
Wie konnte sie es auch, obgleich Charlotte klug genug, gegen ihre
eigne überzeugung die Sache für bekannt annahm und als entschieden
voraussetzte, daß ein freundschaftliches, ruhiges Verhältnis zwischen
ihrem Gatten und Ottilien möglich sei.
Wie oft aber lag diese nachts, wenn sie sich eingeschlossen, auf den
Knieen vor dem eröffneten Koffer und betrachtete die
Geburtstagsgeschenke, von denen sie noch nichts gebraucht, nichts
zerschnitten, nichts gefertigt.
Wie oft eilte das gute Mädchen mit Sonnenaufgang aus dem Hause, in dem
sie sonst alle ihre Glückseligkeit gefunden hatte, ins Freie hinaus,
in die Gegend, die sie sonst nicht ansprach.
Auch auf dem Boden mochte sie nicht verweilen.
Sie sprang in den Kahn und ruderte sich bis mitten in den See; dann
zog sie eine Reisebeschreibung hervor, ließ sich von den bewegten
Wellen schaukeln, las, träumte sich in die Fremde, und immer fand sie
dort ihren Freund; seinem Herzen war sie noch immer nahe geblieben, er
dem ihrigen.
Daß jener wunderlich tätige Mann, den wir bereits kennengelernt, daß
Mittler, nachdem er von dem Unheil, das unter diesen Freunden
ausgebrochen, Nachricht erhalten, obgleich kein Teil noch seine Hülfe
angerufen, in diesem Falle seine Freundschaft, seine Geschicklichkeit
zu beweisen, zu üben geneigt war, läßt sich denken.
Doch schien es ihm rätlich, erst eine Weile zu zaudern; denn er wußte
nur zu wohl, daß es schwerer sei, gebildeten Menschen bei sittlichen
Verworrenheiten zu Hülfe zu kommen als ungebildeten.
Er überließ sie deshalb eine Zeitlang sich selbst; allein zuletzt
konnte er es nicht mehr aushalten und eilte, Eduarden aufzusuchen, dem
er schon auf die Spur gekommen war.
Sein Weg führte ihn zu einem angenehmen Tal, dessen anmutig grünen,
baumreichen Wiesengrund die Wasserfülle eines immer lebendigen Baches
bald durchschlängelte, bald durchrauschte.
Auf den sanften Anhöhen zogen sich fruchtbare Felder und
wohlbestandene Obstpflanzungen hin.
Die Dörfer lagen nicht zu nah aneinander, das Ganze hatte einen
friedlichen Charakter, und die einzelnen Partieen, wenn auch nicht zum
Malen, schienen doch zum Leben vorzüglich geeignet zu sein.
Ein wohlerhaltenes Vorwerk mit einem reinlichen, bescheidenen
Wohnhause, von Gärten umgeben, fiel ihm endlich in die Augen.
Er vermutete, hier sei Eduards gegenwärtiger Aufenthalt, und er irrte
nicht.
Von diesem einsamen Freunde können wir soviel sagen, daß er sich im
stillen dem Gefühl seiner Leidenschaft ganz überließ und dabei
mancherlei Plane sich ausdachte, mancherlei Hoffnungen nährte.
Er konnte sich nicht leugnen, daß er Ottilien hier zu sehen wünsche,
daß er wünsche, sie hieher zu führen, zu locken, und was er sich sonst
noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte.
Dann schwankte seine Einbildungskraft in allen Möglichkeiten herum.
Sollte er sie hier nicht besitzen, nicht rechtmäßig besitzen können,
so wollte er ihr den Besitz des Gutes zueignen.
Hier sollte sie still für sich, unabhängig leben; sie sollte glücklich
sein und, wenn ihn eine selbstquälerische Einbildungskraft noch weiter
führte, vielleicht mit einem andern glücklich sein.
So verflossen ihm seine Tage in einem ewigen Schwanken zwischen
Hoffnung und Schmerz, zwischen Tränen und Heiterkeit, zwischen
Vorsätzen, Vorbereitungen und Verzweiflung.
Der Anblick Mittlers überraschte ihn nicht.
Er hatte dessen Ankunft längst erwartet, und so war er ihm auch halb
willkommen.
Glaubte er ihn von Charlotten gesendet, so hatte er sich schon auf
allerlei Entschuldigungen und Verzögerungen und sodann auf
entscheidendere Vorschläge bereitet; hoffte er nun aber von Ottilien
wieder etwas zu vernehmen, so war ihm Mittler so lieb als ein
himmlischer Bote.
Verdrießlich daher und verstimmt war Eduard, als er vernahm, Mittler
komme nicht von dorther, sondern aus eignem Antriebe.
Sein Herz verschloß sich, und das Gespräch wollte sich anfangs nicht
einleiten.
Doch wußte Mittler nur zu gut, daß ein liebevoll beschäftigtes Gemüt
das dringende Bedürfnis hat, sich zu äußern, das, was in ihm vorgeht,
vor einem Freunde auszuschütten, und ließ sich daher gefallen, nach
einigem Hin—und Widerreden diesmal aus seiner Rolle herauszugehen und
statt des Vermittlers den Vertrauten zu spielen.
Als er hiernach auf eine freundliche Weise Eduarden wegen seines
einsamen Lebens tadelte, erwiderte dieser: "o, ich wüßte nicht, wie
ich meine Zeit angenehmer zubringen sollte!
Immer bin ich mit ihr beschäftigt, immer in ihrer Nähe.
Ich habe den unschätzbaren Vorteil, mir denken zu können, wo sich
Ottilie befindet, wo sie geht, wo sie steht, wo sie ausruht.
Ich sehe sie vor mir tun und handeln wie gewöhnlich, schaffen und
vornehmen, freilich immer das, was mir am meisten schmeichelt.
Dabei bleibt es aber nicht; denn wie kann ich fern von ihr glücklich
sein!
Nun arbeitet meine Phantasie durch, was Ottilie tun sollte, sich mir
zu nähern.
Ich schreibe süße, zutrauliche Briefe in ihrem Namen an mich, ich
antworte ihr und verwahre die Blätter zusammen.
Ich habe versprochen, keinen Schritt gegen sie zu tun, und das will
ich halten.
Aber was bindet sie, daß sie sich nicht zu mir wendet?
Hat etwa Charlotte die Grausamkeit gehabt, Versprechen und Schwur von
ihr zu fordern, daß sie mir nicht schreiben, keine Nachricht von sich
geben wolle?
Es ist natürlich, es ist wahrscheinlich, und doch finde ich es
unerhört, unerträglich.
Wenn sie mich liebt, wie ich glaube, wie ich weiß, warum entschließt
sie sich nicht, warum wagt sie es nicht, zu fliehen und sich in meine
Arme zu werfen?
Sie sollte das, denke ich manchmal, sie könnte das.
Wenn sich etwas auf dem Vorsaale regt, sehe ich gegen die Türe.
Sie soll hereintreten!
Denk ich, hoff ich.
Ach!
Und da das Mögliche unmöglich ist, bilde ich mir ein, das Unmögliche
müsse möglich werden.
Nachts, wenn ich aufwache, die Lampe einen unsichern Schein durch das
Schlafzimmer wirft, da sollte ihre Gestalt, ihr Geist, eine Ahnung von
ihr vorüberschweben, herantreten, mich ergreifen, nur einen Augenblick,
daß ich eine Art von Versicherung hätte, sie denke mein, sie sei mein.
Eine einzige Freude bleibt mir noch.
Da ich ihr nahe war, träumte ich nie von ihr; jetzt aber, in der Ferne,
sind wir im Traume zusammen, und sonderbar genug: seit ich andre
liebenswürdige Personen hier in der Nachbarschaft kennengelernt, jetzt
erst erscheint mir ihr Bild im Traum, als wenn sie mir sagen wollte:
'siehe nur hin und her! Du findest doch nichts Schöneres und Lieberes
als mich.'
Und so mischt sich ihr Bild in jeden meiner Träume.
Alles, was mir mit ihr begegnet, schiebt sich durch—und übereinander.
Bald unterschreiben wir einen Kontrakt; da ist ihre Hand und die
meinige, ihr Name und der meinige; beide löschen einander aus, beide
verschlingen sich.
Auch nicht ohne Schmerz sind diese wonnevollen Gaukeleien der
Phantasie.
Manchmal tut sie etwas, das die reine Idee beleidigt, die ich von ihr
habe, dann füh ich erst, wie sehr ich sie liebe, indem ich über alle
Beschreibung geängstet bin.
Manchmal neckt sie mich ganz gegen ihre Art und quält mich; aber
sogleich verändert sich ihr Bild, ihr schönes, rundes, himmlisches
Gesichtchen verlängert sich: es ist eine andre.
Aber ich bin doch gequält, unbefriedigt und zerrüttet.
Lächeln Sie nicht, lieber Mittler, oder lächeln Sie auch! O ich
schäme mich nicht dieser Anhänglichkeit, dieser, wenn Sie wollen,
törigen, rasenden Neigung.
Nein, ich habe noch nie geliebt; jetzt erfahre ich erst, was das heißt.
Bisher war alles in meinem Leben nur ein Vorspiel, nur Hinhalten, nur
Zeitvertreib, nur Zeitverderb, bis ich sie kennenlernte, bis ich sie
liebte und ganz und eigentlich liebte.
Man hat mir mir nicht gerade ins Gesicht, aber doch wohl im Rücken den
Vorwurf gemacht: ich pfusche, ich stümpere nur in den meisten Dingen.
Es mag sein; aber ich hatte das noch nicht gefunden, worin ich mich
als Meister zeigen kann.
Ich will den sehen, der mich im Talent des Liebens übertrifft.
Zwar ist es ein jammervolles, ein schmerzen-, ein tränenreiches; aber
ich finde es mir so natürlich, so eigen, daß ich es wohl schwerlich je
wieder aufgebe".
Durch diese lebhaften, herzlichen äußerungen hatte sich Eduard wohl
erleichtert; aber es war ihm auch auf einmal jeder einzelne Zug seines
wunderlichen Zustandes deutlich vor die Augen getreten, daß er, vom
schmerzlichen Widerstreit überwältigt, in Tränen ausbrach, die um so
reichlicher flossen, als sein Herz durch Mitteilung weich geworden war.
Mittler, der sein rasches Naturell, seinen unerbittlichen Verstand
um so weniger verleugnen konnte, als er sich durch diesen
schmerzlichen Ausbruch der Leidenschaft Eduards weit von dem Ziel
seiner Reise verschlagen sah, äußerte aufrichtig und derb seine
Mibilligung.
Eduard—hieß es—solle sich ermannen, solle bedenken, was er seiner
Manneswürde schuldig sei, solle nicht vergessen, daß dem Menschen zur
höchsten Ehre gereiche, im Unglück sich zu fassen, den Schmerz mit
Gleichmut und Anstand zu ertragen, um höchlich geschätzt, verehrt und
als Muster aufgestellt zu werden.
Aufgeregt, durchdrungen von den peinlichsten Gefühlen, wie Eduard war,
mußten ihm diese Worte hohl und nichtig vorkommen.
"Der Glückliche, der Behagliche hat gut reden", fuhr Eduard auf; "aber
schämen würde er sich, wenn er einsähe, wie unerträglich er dem
Leidenden wird.
Eine unendliche Geduld soll es geben, einen unendlichen Schmerz will
der starre Behagliche nicht anerkennen.
Es gibt Fälle, ja, es gibt deren!
Wo jeder Trost niederträchtig und Verzweiflung Pflicht ist.
Verschmäht doch ein edler Grieche, der auch Helden zu schildern weiß,
keineswegs, die seinigen bei schmerzlichem Drange weinen zu lassen.
Selbst im Sprüchwort sagt er: 'tränenreiche Männer sind gut.' Verlasse
mich jeder, der trocknen Herzens, trockner Augen ist!
Ich verwünsche die Glücklichen, denen der Unglückliche nur zum
Spektakel dienen soll.
Er soll sich in der grausamsten Lage körperlicher und geistiger
Bedrängnis noch edel gebärden, um ihren Beifall zu erhalten, und,
damit sie ihm beim Verscheiden noch applaudieren, wie ein Gladiator
mit Anstand vor ihren Augen umkommen.
Lieber Mittler, ich danke Ihnen für Ihren Besuch; aber Sie erzeigten
mir eine große Liebe, wenn Sie sich im Garten, in der Gegend umsähen.
Wir kommen wieder zusammen.
Ich suche gefaßter und Ihnen ähnlicher zu werden".
Mittler mochte lieber einlenken als die Unterhaltung abbrechen, die er
so leicht nicht wieder anknüpfen konnte.
Auch Eduarden war es ganz gemäß, das Gespräch weiter fortzusetzen, das
ohnehin zu seinem Ziele abzulaufen strebte.
"Freilich", sagte Eduard, "hilft das Hin—und Widerdenken, das
Hin—und Widerreden zu nichts; doch unter diesem Reden bin ich mich
selbst erst gewahr worden, habe ich erst entschieden gefühlt, wozu ich
mich entschließen sollte, wozu ich entschlossen bin.
Ich sehe mein gegenwärtiges, mein zukünftiges Leben vor mir; nur
zwischen Elend und Genuß habe ich zu wählen.
Bewirken Sie, bester Mann, eine Scheidung, die so notwendig, die schon
geschehen ist; schaffen Sie mir Charlottens Einwilligung!
Ich will nicht weiter ausführen, warum ich glaube, daß sie zu erlangen
sein wird.
Gehen Sie hin, lieber Mann, beruhigen Sie uns alle, machen Sie uns
glücklich!" Mittler stockte.
Eduard fuhr fort: "mein Schicksal und Ottiliens ist nicht zu trennen,
und wir werden nicht zugrunde gehen.
Sehen Sie dieses Glas!
Unsere Namenszüge sind dareingeschnitten.
Ein fröhlich Jubelnder warf es in die Luft; niemand sollte mehr daraus
trinken, auf dem felsigen Boden sollte es zerschellen; aber es ward
aufgefangen.
Um hohen Preis habe ich es wieder eingehandelt, und ich trinke nun
täglich daraus, um mich täglich zu überzeugen, daß alle Verhältnisse
unzerstörlich sind, die das Schicksal beschlossen hat".
"O wehe mir", rief Mittler, "was muß ich nicht mit meinen Freunden für
Geduld haben!
Nun begegnet mir noch gar der Aberglaube, der mir als das Schädlichste,
was bei den Menschen einkehren kann, verhaßt bleibt.
Wir spielen mit Voraussagungen und Träumen und machen dadurch das
alltägliche Leben bedeutend.
Aber wenn das Leben nun selbst bedeutend wird, wenn alles um uns sich
bewegt und braust, dann wird das Gewitter durch jene Gespenster nur
noch fürchterlicher".
"Lassen Sie in dieser Ungewißheit des Lebens", rief Eduard, "zwischen
diesem Hoffen und Bangen dem bedürftigen Herzen doch nur eine Art von
Leitstern, nach welchem es hinblicke, wenn es auch nicht darnach
steuern kann".
"Ich ließe mirs wohl gefallen", versetzte Mittler, "wenn dabei nur
einige Konsequenz zu hoffen wäre, aber ich habe immer gefunden: auf
die warnenden Symptome achtet kein Mensch, auf die schmeichelnden und
versprechenden allein ist die Aufmerksamkeit gerichtet und der Glaube
für sie ganz allein lebendig".
Da sich nun Mittler sogar in die dunklen Regionen geführt sah, in
denen er sich immer unbehaglicher fühlte, je länger er darin verweilte,
so nahm er den dringenden Wunsch Eduards, der ihn zu Charlotten gehen
hieß, etwas williger auf.
Denn was wollte er überhaupt Eduarden in diesem Augenblicke noch
entgegensetzen?
Zeit zu gewinnen, zu erforschen, wie es um die Frauen stehe, das war
es, was ihm selbst nach seinen eignen Gesinnungen zu tun übrigblieb.
Er eilte zu Charlotten, die er wie sonst gefaßt und heiter fand.
Sie unterrichtete ihn gern von allem, was vorgefallen war; denn aus
Eduards Reden konnte er nur die Wirkung abnehmen.
Er trat von seiner Seite behutsam heran, konnte es aber nicht über
sich gewinnen, das Wort Scheidung auch nur im Vorbeigehn auszusprechen.
Wie verwundert, erstaunt und, nach seiner Gesinnung, erheitert war er
daher, als Charlotte ihm in Gefolg so manches Unerfreulichen endlich
sagte: "ich muß glauben, ich muß hoffen, daß alles sich wieder geben,
daß Eduard sich wieder nähern werde.
Wie kann es auch wohl anders sein, da Sie mich guter Hoffnung finden".
"Versteh ich Sie recht?" fiel Mittler ein.
"Vollkommen", versetzte Charlotte.
"Tausendmal gesegnet sei mir diese Nachricht!" rief er, die Hände
zusammenschlagend.
"Ich kenne die Stärke dieses Arguments auf ein männliches Gemüt.
Wie viele Heiraten sah ich dadurch beschleunigt, befestigt,
wiederhergestellt!
Mehr als tausend Worte wirkt eine solche gute Hoffnung, die fürwahr
die beste Hoffnung ist, die wir haben können.
Doch", fuhr er fort, "was mich betrifft, so hätte ich alle Ursache,
verdrießlich zu sein.
In diesem Falle, sehe ich wohl, wird meiner Eigenliebe nicht
geschmeichelt.
Bei euch kann meine Tätigkeit keinen Dank verdienen.
Ich komme mir vor wie jener Arzt, mein Freund, dem alle Kuren gelangen,
die er um Gottes willen an Armen tat, der aber selten einen Reichen
heilen konnte, der es gut bezahlen wollte.
Glücklicherweise hilft sich hier die Sache von selbst, da meine
Bemühungen, mein Zureden fruchtlos geblieben wären".
Charlotte verlangte nun von ihm, er solle die Nachricht Eduarden
bringen, einen Brief von ihr mitnehmen und sehen, was zu tun, was
herzustellen sei.
Er wollte das nicht eingehen.
"Alles ist schon getan", rief er aus.
"Schreiben Sie!
Ein jeder Bote ist so gut als ich.
Muß ich doch meine Schritte hinwenden, wo ich nötiger bin.
Ich komme nur wieder, um Glück zu wünschen; ich komme zur Taufe".
Charlotte war diesmal, wie schon öfters, über Mittlern unzufrieden.
Sein rasches Wesen brachte manches Gute hervor, aber seine übereilung
war schuld an manchem Mißlingen.
Niemand war abhängiger von augenblicklich vorgefaßten Meinungen als er.
Charlottens Bote kam zu Eduarden, der ihn mit halbem Schrecken empfing.
Der Brief konnte ebensogut für Nein als für Ja entscheiden.
Er wagte lange nicht, ihn aufzubrechen, und wie stand er betroffen,
als er das Blatt gelesen, versteinert bei folgender Stelle, womit es
sich endigte: "gedenke jener nächtlichen Stunden, in denen du deine
Gattin abenteuerlich als Liebender besuchtest, sie unwiderstehlich an
dich zogst, sie als eine Geliebte, als eine Braut in die Arme
schlossest.
Laß uns in dieser seltsamen Zufälligkeit eine Fügung des Himmels
verehren, die für ein neues Band unserer Verhältnisse gesorgt hat in
dem Augenblick, da das Glück unseres Lebens auseinanderzufallen und zu
verschwinden droht".
Was von dem Augenblick an in der Seele Eduards vorging, würde schwer
zu schildern sein.
In einem solchen Gedränge treten zuletzt alte Gewohnheiten, alte
Neigungen wieder hervor, um die Zeit zu töten und den Lebensraum
auszufüllen.
Jagd und Krieg sind eine solche für den Edelmann immer bereite
Aushülfe.
Eduard sehnte sich nach äußerer Gefahr, um der innerlichen das
Gleichgewicht zu halten.
Er sehnte sich nach dem Untergang, weil ihm das Dasein unerträglich
zu werden drohte; ja es war ihm ein Trost zu denken, daß er nicht mehr
sein werde und eben dadurch seine Geliebten, seine Freunde glücklich
machen könne.
Niemand stellte seinem Willen ein Hindernis entgegen, da er seinen
Entschluß verheimlichte.
Mit allen Förmlichkeiten setzte er sein Testament auf; es war ihm eine
süße Empfindung, Ottilien das Gut vermachen zu können.
Für Charlotten, für das Ungeborne, für den Hauptmann, für seine
Dienerschaft war gesorgt.
Der wieder ausgebrochene Krieg begünstigte sein Vorhaben.
Militärische Halbheiten hatten ihm in seiner Jugend viel zu schaffen
gemacht; er hatte deswegen den Dienst verlassen.
Nun war es ihm eine herrliche Empfindung, mit einem Feldherrn zu
ziehen, von dem er sich sagen konnte: unter seiner Anführung ist der
Tod wahrscheinlich und der Sieg gewiß.
Ottilie, nachdem auch ihr Charlottens Geheimnis bekannt geworden,
betroffen wie Eduard, und mehr, ging in sich zurück.
Sie hatte nichts weiter zu sagen.
Hoffen konnte sie nicht, und wünschen durfte sie nicht.
Einen Blick jedoch in ihr Inneres gewährt uns ihr Tagebuch, aus dem
wir einiges mitzuteilen gedenken.
Im gemeinen Leben begegnet uns oft, was wir in der Epopöe als
Kunstgriff des Dichters zu rühmen pflegen, daß nämlich, wenn die
Hauptfiguren sich entfernen, verbergen, sich der Untätigkeit hingeben,
gleich sodann schon ein Zweiter, Dritter, bisher kaum Bemerkter den
Platz füllt und, indem er seine ganze Tätigkeit äußert, uns
gleichfalls der Aufmerksamkeit, der Teilnahme, ja des Lobes und
Preises würdig erscheint.
So zeigte sich gleich nach der Entfernung des Hauptmanns und Eduards
jener Architekt täglich bedeutender, von welchem die Anordnung und
Ausführung so manches Unternehmens allein abhing, wobei er sich genau,
verständig und tätig erwies und zugleich den Damen auf mancherlei Art
beistand und in stillen, langwierigen Stunden sie zu unterhalten wußte.
Schon sein äußeres war von der Art, daß es Zutrauen einflößte und
Neigung erweckte.
Ein Jüngling im vollen Sinne des Wortes, wohlgebaut, schlank, eher ein
wenig zu groß, bescheiden ohne ängstlich, zutraulich ohne zudringend
zu sein.
Freudig übernahm er jede Sorge und Bemühung, und weil er mit großer
Leichtigkeit rechnete, so war ihm bald das ganze Hauswesen kein
Geheimnis, und überallhin verbreitete sich sein günstiger Einfluß.
Die Fremden ließ man ihn gewöhnlich empfangen, und er wußte einen
unerwarteten Besuch entweder abzulehnen oder die Frauen wenigstens
dergestalt darauf vorzubereiten, daß ihnen keine Unbequemlichkeit
daraus entsprang.
Unter andern gab ihm eines Tages ein junger Rechtsgelehrter viel zu
schaffen, der, von einem benachbarten Edelmann gesendet, eine Sache
zur Sprache brachte, die, zwar von keiner sonderlichen Bedeutung,
Charlotten dennoch innig berührte.
Wir müssen dieses Vorfalls gedenken, weil er verschiedenen Dingen
einen Anstoß gab, die sonst vielleicht lange geruht hätten.
Wir erinnern uns jener Veränderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe
vorgenommen hatte.
Die sämtlichen Monumente waren von ihrer Stelle gerückt und hatten an
der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden.
Der übrige Raum war geebnet.
Außer einem breiten Wege, der zur Kirche und an derselben vorbei zu
dem jenseitigen Pförtchen führte, war das übrige alles mit
verschiedenen Arten Klee besäet, der auf das schönste grünte und
blühte.
Nach einer gewissen Ordnung sollten vom Ende heran die neuen Gräber
bestellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls
besäet werden.
Niemand konnte leugnen, daß diese Anstalt beim sonn—und festtätigen
Kirchgang eine heitere und würdige Ansicht gewährte.
Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geistliche, der
anfänglich mit der Einrichtung nicht sonderlich zufrieden gewesen,
hatte nunmehr seine Freude daran, wenn er unter den alten Linden,
gleich Philomon, mit seiner Baucis vor der Hintertüre ruhend, statt
der holprigen Grabstätten einen schönen, bunten Teppich vor sich sah,
der noch überdies seinem Haushalt zugute kommen sollte, indem
Charlotte die Nutzung dieses Fleckes der Pfarre zusichern lassen.
Allein desungeachtet hatten schon manche Gemeindeglieder früher
gemißbilligt, daß man die Bezeichnung der Stelle, wo ihre Vorfahren
ruhten, aufgehoben und das Andenken dadurch gleichsam ausgelöscht;
denn die wohlerhaltenden Monumente zeigen zwar an, wer begraben sei,
aber nicht, wo er begraben sei, und auf das Wo komme es eigentlich an,
wie viele behaupteten.
Von ebensolcher Gesinnung war eine benachbarte Familie, die sich und
den Ihrigen einen Raum auf dieser allgemeinen Ruhestätte vor mehreren
Jahren ausbedungen und dafür der Kirche eine kleine Stiftung
zugewendet hatte.
Nun war der junge Rechtsgelehrte abgesendet, um die Stiftung zu
widerrufen und anzuzeigen, daß man nicht weiterzahlen werde, weil die
Bedingung, unter welcher dieses bisher geschehen, einseitig aufgehoben
und auf alle Vorstellungen und Widerreden nicht geachtet worden.
Charlotte, die Urheberin dieser Veränderung, wollte den jungen Mann
selbst sprechen, der zwar lebhaft, aber nicht allzu vorlaut seine und
seines Prinzipals Gründe darlegte und der Gesellschaft manches zu
denken gab.
"Sie sehen", sprach er nach einem kurzen Eingang, in welchem er seine
Zudringlichkeit zu rechtfertigen wußte, "Sie sehen, daß dem Geringsten
wie dem Höchsten daran gelegen ist, den Ort zu bezeichnen, der die
Seinigen aufbewahrt.
Dem ärmsten Landmann, der ein Kind begräbt, ist es eine Art von Trost,
ein schwaches hölzernes Kreuz auf das Grab zu stellen, es mit einem
Kranze zu zieren, um wenigstens das Andenken so lange zu erhalten, als
der Schmerz währt, wenn auch ein solches Merkzeichen, wie die Trauer
selbst, durch die Zeit aufgehoben wird.
Wohlhabende verwandeln diese Kreuze in eiserne, befestigen und
schützen sie auf mancherlei Weise, und hier ist schon Dauer für
mehrere Jahre.
Doch weil auch diese endlich sinken und unscheinbar werden, so haben
Begüterte nichts Angelegeneres, als einen Stein aufzurichten, der für
mehrere Generationen zu dauern verspricht und von den Nachkommen
erneut und aufgefrischt werden kann.
Aber dieser Stein ist es nicht, der uns anzieht, sondern das darunter
Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute.
Es ist nicht sowohl vom Andenken die Rede als von der Person selbst,
nicht von der Erinnerung, sondern von der Gegenwart.
Ein geliebtes Abgeschiedenes umarme ich weit eher und inniger im
Grabhügel als im Denkmal, denn dieses ist für sich eigentlich nur
wenig; aber um dasselbe her sollen sich wie um einen Markstein Gatten,
Verwandte, Freunde selbst nach ihrem Hinscheiden noch versammeln, und
der Lebende soll das Recht behalten, Fremde und Mißwollende auch von
der Seite seiner geliebten Ruhenden abzuweisen und zu entfernen.
Ich halte deswegen dafür, daß mein Prinzipal völlig recht habe, die
Stiftung zurückzunehmen; und dies ist noch billig genug, denn die
Glieder der Familie sind auf eine Weise verletzt, wofür gar kein
Ersatz zu denken ist.
Sie sollen das schmerzlich süße Gefühl entbehren, ihren Geliebten ein
Totenopfer zu bringen, die tröstliche Hoffnung, dereinst unmittelbar
neben ihnen zu ruhen".
"Die Dache ist nicht von der Bedeutung",versetzte Charlotte, "daß man
sich deshalb durch einen Rechtshandel beunruhigen sollte.
Meine Anstalt reut mich so wenig, daß ich die Kirche gern wegen dessen,
was ihr entgeht, entschädigen will.
Nur muß ich Ihnen aufrichtig gestehen: Ihre Argumente haben mich nicht
überzeugt.
Das reine Gefühl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens
nach dem Tode, scheint mir beruhigender als dieses eigensinnige,
starre Fortsetzen unserer Persönlichkeiten, Anhänglichkeiten und
Lebensverhältnisse.—Und was sagen Sie hierzu?" richtete sie ihre
Frage an den Architekten.
"Ich möchte", versetzte dieser, "in einer solchen Sache weder streiten
noch den Ausschlag geben.
Lassen Sie mich das, was meiner Kunst, meiner Denkweise am nächsten
liegt, bescheidentlich äußern.
Seitdem wir nicht mehr so glücklich sind, die Reste eines geliebten
Gegenstandes eingeurnt an unsere Brust zu drücken, da wir weder reich
noch heiter genug sind, sie unversehrt in großen, wohlausgezierten
Sarkophagen zu verwahren, ja da wir nicht einmal in den Kirchen mehr
Platz für uns und für die Unsrigen finden, sondern hinaus ins Freie
gewiesen sind, so haben wir alle Ursache, die Art und Weise, die Sie,
meine gnädige Frau, eingeleitet haben, zu billigen.
Wenn die Glieder einer Gemeinde reihenweise nebeneinander liegen, so
ruhen sie bei und unter den Ihrigen; und wenn die Erde uns einmal
aufnehmen soll, so finde ich nichts natürlicher und reinlicher, als
daß man die zufällig entstandenen, nach und nach zusammensinkenden
Hügel ungesäumt vergleiche und so die Decke, indem alle sie tragen,
einem jeden leichter gemacht werde".
"Und ohne irgendein Zeichen des Andenkens, ohne irgend etwas, das der
Erinnerung entgegenkäme, sollte das alles so vorübergehen?" versetzte
Ottilie.
"Keineswegs!" fuhr der Architekt fort; "nicht vom Andenken, nur vom
Platze soll man sich lossagen.
Der Baukünstler, der Bildhauer sind höchlich interessiert, daß der
Mensch von ihnen, von ihrer Kunst, von ihrer Hand eine Dauer seines
Daseins erwarte; und deswegen wünschte ich gut gedachte, gut
ausgeführte Monumente, nicht einzeln und zufällig ausgesäet, sondern
an einem Orte aufgestellt, wo sie sich Dauer versprechen können.
Da selbst die Frommen und Hohen auf das Vorrecht Verzicht tun, in den
Kirchen persönlich zu ruhen, so stelle man wenigstens dort oder in
schönen Hallen um die Begräbnisplätze Denkzeichen, Denkschriften auf.
Es gibt tausenderlei Formen, die man ihnen vorschreiben, tausenderlei
Zieraten, womit man sie ausschmücken kann".
"Wenn die Künstler so reich sind", versetzte Charlotte, "so sagen Sie
mir doch: wie kann man sich niemals aus der Form eines kleinlichen
Obelisken, einer abgestutzten Säule und eines Aschenkrugs
herausfinden?
Anstatt der tausend Erfindungen, deren Sie sich rühmen, habe ich immer
nur tausend Wiederholungen gesehen".
"Das ist wohl bei uns so", entgegnete ihr der Architekt, "aber nicht
überall.
Und überhaupt mag es mit der Erfindung und der schicklichen Anwendung
eine eigne Sache sein.
Besonders hat es in diesem Falle manche Schwierigkeit, einen ernsten
Gegenstand zu erheitern und bei einem unerfreulichen nicht ins
Unerfreuliche zu geraten.
Was Entwürfe zu Monumenten aller Art betrifft, deren habe ich viele
gesammelt und zeige sie gelegentlich; doch bleibt immer das schönste
Denkmal des Menschen eigenes Bildnis.
Dieses gibt mehr als irgend etwas anders einen Begriff von dem, was er
war; es ist der beste Text zu vielen oder wenigen Noten; nur müßte es
aber auch in seiner besten Zeit gemacht sein, welches gewöhnlich
versäumt wird.
Niemand denkt daran, lebende Formen zu erhalten, und wenn es geschieht,
so geschieht es auf unzulängliche Weise.
Da wird ein Toter geschwind noch abgegossen und eine solche Maske auf
einen Block gesetzt, und das heißt man eine Büste.
Wie selten ist der Künstler imstande, sie völlig wiederzubeleben!"
"Sie haben, ohne es vielleicht zu wissen ud zu wollen", versetzte
Charlotte, "dies Gespräch ganz zu meinen Gunsten gelenkt.
Das Bild eines Menschen ist doch wohl unabhängig; überall, wo es steht,
steht es für sich, und wir werden von ihm nicht verlangen, daß es die
eigentliche Grabstätte bezeichne.
Aber soll ich Ihnen eine wunderliche Empfindung bekennen?
Selbst gegen die Bildnisse habe ich eine Art von Abneigung; denn sie
scheinen mir immer einen stillen Vorwurf zu machen; sie deuten auf
etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich, wie schwer es sei,
die Gegenwart recht zu ehren.
Gedenkt man, wieviel Menschen man gesehen, gekannt, und gesteht sich,
wie wenig wir ihnen, wie wenig sie uns gewesen, wie wird uns da zumute!
Wir begegnen dem Geistreichen, ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem
Gelehrten, ohne von ihm zu lernen, dem Gereisten, ohne uns zu
unterrichten, dem Liebevollen, ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.
Und leider ereignet sich dies nicht bloß mit den Vorübergehenden.
Gesellschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten
Glieder, Städte gegen ihre würdigsten Bürger, Völker gegen ihre
trefflichsten Fürsten, Nationen gegen ihre vorzüglichsten Menschen.
Ich hörte fragen, warum man von den Toten so unbewunden Gutes sage,
von den Lebenden immer mit einer gewissen Vorsicht.
Es wurde geantwortet: weil wir von jenen nichts zu befürchten haben
und diese uns noch irgendwo in den Weg kommen könnten.
So unrein ist die Sorge für das Andenken der andern; es ist meist nur
ein selbstischer Scherz, wenn es dagegen ein heiliger Ernst wäre,
seine Verhältnisse gegen die überbliebenen immer lebendig und tätig zu
erhalten".
Aufgeregt durch den Vorfall und die daran sich knüpfenden Gespräche,
begab man sich des andern Tages nach dem Begräbnisplatz zu dessen
Verzierung und Erheiterung der Architekt manchen glücklichen Vorschlag
tat.
Allein auch auf die Kirche sollte sich seine Sorgfalt erstrecken, auf
ein Gebäude, das gleich anfänglich seine Aufmerksamkeit an sich
gezogen hatte.
Diese Kirche stand seit mehrern Jahrhunderten, nach deutscher Art und
Kunst in guten Maßen errichtet und auf eine glückliche Weise verziert.
Man konnte wohl nachkommen, daß der Baumeister eines benachbarten
Klosters mit Einsicht und Neigung sich auch an diesem kleineren
Gebäude bewährt, und es wirkte noch immer ernst und angenehm auf den
Betrachter, obgleich die innere neue Einrichtung zum protestantischen
Gottesdienste ihm etwas von seiner Ruhe und Majestät genommen hatte.
Dem Architekten fiel es nicht schwer, sich von Charlotten eine mäßige
Summe zu erbitten, wovon er das äußere sowohl als das Innere im
altertümlichen Sinne herzustellen und mit dem davorliegenden
Auferstehungsfelde zur übereinstimmung zu bringen gedachte.
Er hatte selbst viel Handgeschick, und einige Arbeiter, die noch am
Hausbau beschäftigt waren, wollte man gern so lange beibehalten, bis
auch dieses fromme Werk vollendet wäre.
Man war nunmehr in dem Falle, das Gebäude selbst mit allen Umgebungen
und Angebäuden zu untersuchen, und da zeigte sich zum größten
Erstaunen und Vergnügen des Architekten eine wenig bemerkte kleine
Seitenkapelle von noch geistreichern und leichtern Maßen, von noch
gefälligern und fleißigern Zierarten.
Sie enthielt zugleich manchen geschnitzten und gemalten Rest jenes
älteren Gottesdienstes, der mit mancherlei Gebild und Gerätschaft die
verschiedenen Feste zu bezeichnen und jedes auf seine eigne Weise zu
feiern wußte.
Der Architekt konnte nicht unterlassen, die Kapelle sogleich in seinen
Plan mit hereinzuziehen und besonders diesen engen Raum als ein
Denkmal voriger Zeiten und ihres Geschmacks wiederherzustellen.
Er hatte sich die leeren Flächen nach seiner Neigung schon verziert
gedacht und freute sich, dabei sein malerisches Talent zu üben; allein
er machte seinen Hausgenossen fürs erste ein Geheimnis davon.
Vor allem andern zeigte er versprochenermaßen den Frauen die
verschiedenen Nachbildungen und Entwürfe von alten Grabmonumenten,
Gefäßen und andern dahin sich nähernden Dingen, und als man im
Gespräch auf die einfachern Grabhügel, der nordischen Völker zu reden
kam, brachte er seine Sammlung von mancherlei Waffen und Gerätschaften,
die darin gefunden worden, zur Ansicht.
Er hatte alles sehr reinlich und tragbar in Schubladen und Fächern auf
eingeschnittenen, mit Tuch überzogenen Brettern, sodaß diese alten,
ernsten Dinge durch seine Behandlung etwas Putzhaftes annahmen und man
mit Vergnügen darauf wie auf die Kästchen eines Modehändlers
hinblickte.
Und da er einmal im Vorzeigen war, da die Einsamkeit eine Unterhaltung
forderte, so pflegte er jeden Abend mit einem Teil seiner Schätze
hervorzutreten.
Sie waren meistenteils deutschen Ursprungs: Brakteaten, Dickmünzen,
Siegel und was sonst sich noch anschließen mag.
Alle diese Dinge richteten die Einbildungskraft gegen die ältere Zeit
hin, und da er zuletzt mit den Anfängen des Drucks, Holzschnitten und
den ältesten Kupfern seine Unterhaltung zierte und die Kirche täglich
auch, jenem Sinne gemäß, an Farbe und sonstiger Auszierung gleichsam
der Vergangenheit entgegenwuchs, so mußte man sich beinahe selbst
fragen, ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein
Traum sei, daß man nunmehr in ganz andern Sitten, Gewohnheiten,
Lebensweisen und überzeugungen verweile.
Auf solche Art vorbereitet, tat ein größeres Portefeuille, das er
zuletzt herbeibrachte, die beste Wirkung.
Es enthielt zwar meist nur umrissene Figuren, die aber, weil sie auf
die Bilder selbst durchgezeichnet waren, ihren altertümlichen
Charakter vollkommen erhalten hatten, und diesen, wie einnehmend
fanden ihn die Beschauenden!
Aus allen Gestalten blickte nur das reinste Dasein hervor; alle mußte
man, wo nicht für edel, doch für gut ansprechen.
Heitere Sammlung, willige Anerkennung eines Ehrwürdigen über uns,
stille Hingebung in Liebe und Erwartung war auf allen Gesichtern, in
allen Gebärden ausgedrückt.
Der Greis mit dem kahlen Scheitel, der reichlockige Knabe, der muntere
Jüngling, der ernste Mann, der verklärte Heilige, der schwebende Engel,
alle schienen selig in einem unschuldigen Genügen, in einem frommen
Erwarten.
Das Gemeinste, was geschah, hatte einen Zug von himmlischem Leben, und
eine gottesdienstliche Handlung schien ganz jeder Natur angemessen.
Nach einer solchen Region blicken wohl die meisten wie nach einem
verschwundenen goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen Paradiese hin.
Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall, sich unter ihresgleichen zu
fühlen.
Wer hätte nun widerstehen können, als der Architekt sich erbot, nach
dem Anlaß dieser Urbilder die Räume zwischen den Spitzbogen der
Kapelle auszumalen und dadurch sein Andenken entschieden an einem Orte
zu stiften, wo es ihm so gut gegangen war.
Er erklärte sich hierüber mit einiger Wehmut; denn er konnte nach der
Lage der Sache wohl einsehen, daß sein Aufenthalt in so vollkommener
Gesellschaft nicht immer dauern könne, ja vielleicht bald abgebrochen
werden müsse.
übrigens waren diese Tage zwar nicht reich an Begebenheiten, doch
voller Anlässe zu ernsthafter Unterhaltung.
Wir nehmen daher Gelegenheit, von demjenigen, was Ottilie sich daraus
in ihren Heften angemerkt, einiges mitzuteilen, wozu wir keinen
schicklichern übergang finden als durch ein Gleichnis, das sich uns
beim Betrachten ihrer liebenswürdigen Blätter aufdringt.
Wir hören von einer besondern Einrichtung bei der englischen Marine.
Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum
schwächsten, sind dergestalt geht, den man nicht herauswinden kann,
ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich
sind, daß sie der Krone gehören.
Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und
Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch
werden diese Bemerkungen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnsprüche und
was sonst vorkommen mag, der Schreibenden ganz besonders eigen und für
sie von Bedeutung.
Selbst jede einzelne von uns ausgewählte und mitgeteilte Stelle gibt
davon das entschiedenste Zeugnis.
Neben denen dereinst zu ruhen, die man liebt, ist die angenehmste
Vorstellung, welche der Mensch haben kann, wenn er einmal über das
Leben hinausdenkt.
Zu den Seinigen versammelt werden ist ein so herzlicher Ausdruck.
Es gibt mancherlei Denkmale und Merkzeichen, die uns Entfernte und
Abgeschidene näher bringen.
Keins ist von der Bedeutung des Bildes.
Die Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, selbst wenn es unähnlich
ist, hat was Reizendes, wie es manchmal etwas Reizendes hat, sich mit
einem Freunde streiten.
Man fühlt auf eine angenehme Weise, daß man zu zweien ist und doch
nicht auseinander kann.
Man unterhält sich manchmal mit einem gegenwärtigen Menschen als mit
einem Bilde.
Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht anzusehen, sich nicht mit uns
zu beschäftigen; wir sehen ihn, wir fühlen unser Verhältnis zu ihm, ja
sogar unsere Verhältnisse zu ihm können wachsen, ohne daß er etwas
dazu tut, ohne daß er etwas davon empfindet, daß er sich eben bloß zu
uns wie ein Bild verhält.
Man ist niemals mit einem Porträt zufrieden von Personen, die man
kennt.
Deswegen habe ich die Porträtmaler immer bedauert.
Man verlangt so selten von den Leuten das Unmögliche, und gerade von
diesen fordert mans.
Sie sollen einem jeden sein Verhältnis zu den Personen, seine Neigung
und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen; sie sollen nicht bloß
darstellen, wie sie einen Menschen fassen, sondern wie jeder ihn
fassen würde.
Es nimmt mich nicht wunder, wenn solche Künstler nach und nach
verstockt, gleichgültig und eigensinnig werden.
Daraus möchte denn entstehen, was wollte, wenn man nur nicht gerade
darüber die Abbildungen so mancher lieben und teuren Menschen
entbehren müßte.
Es ist wohl wahr, die Sammlung des Architekten von Waffen und alten
Gerätschaften, die nebst dem Körper mit hohen Erdhügeln und
Felsenstücken zugedeckt waren, bezeugt uns, wie unnütz die Vorsorge
des Menschen sei für die Erhaltung seiner Persönlichkeit nach dem Tode.
Und so widersprechend sind wir!
Der Architekt gesteht, selbst solche Grabhügel der Vorfahren geöffnet
zu haben, und fährt dennoch fort, sich mit Denkmälern für die
Nachkommen zu beschäftigen.
Warum soll man es aber so streng nehmen?
Ist denn alles, was wir tun, für die Ewigkeit getan?
Ziehen wir uns nicht morgens an, um uns abends wieder auszuziehen?
Verreisen wir nicht, um wiederzukehren?
Und warum sollten wir nicht wünschen, neben den Unsrigen zu ruhen, und
wenn es auch nur für ein Jahrhundert wäre?
Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgänger abgetretenen
Grabsteine, die über ihren Grabmälern selbst zusammengestürzten
Kirchen erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie
ein zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der
überschrift eintritt und länger darin verweilt als in dem eigentlichen
lebendigen Leben.
Aber auch dieses Bild, dieses zweite Dasein verlischt früher oder
später.
Wie über die Menschen, so auch über die Denkmäler läßt sich die Zeit
ihr Recht nicht nehmen.
Es ist eine so angenehme Emfpindung, sich mit etwas zu beschäftigen,
was man nur halb kann, daß niemand den Dilettanten schelten sollte,
wenn er sich mit einer Kunst abgibt, die er nie lernen wird, noch den
Künstler tadeln dürfte, wenn er über die Grenze seiner Kunst hinaus in
einem benachbarten Felde sich zu ergehen Lust hat.
Mit so billigen Gesinnungen betrachten wir die Anstalten des
Architekten zum Ausmalen der Kapelle.
Die Farben waren bereitet, die Maße genommen, die Kartone gezeichnet;
allen Anspruch auf Erfindung hatte er aufgegeben; er hielt sich an
seine Umrisse: nur die sitzenden und schwebenden Figuren geschickt
auszuteilen, den Raum damit geschmackvoll auszuzieren, war seine Sorge.
Das Gerüste stand, die Arbeit ging vorwärts, und da schon einiges, was
in die Augen fiel, erreicht war, konnte es ihm nicht zuwider sein, daß
Charlotte mit Ottilien ihn besuchte.
Die lebendigen Engelsgesichter, die lebhaften Gewänder auf dem blauen
Himmelsgrunde erfreuten das Auge, indem ihr stilles frommes Wesen das
Gemüt zur Sammlung berief und eine sehr zarte Wirkung hervorbrachte.
Die Frauen waren zu ihm aufs Gerüst gestiegen, und Ottilie bemerkte
kaum, wie abgemessen leicht und bequem das alles zuging, als sich in
ihr das durch frühern Unterricht Empfangene mit einmal zu entwickeln
schien, sie nach Farbe und Pinsel griff und auf erhaltene Anweisung
ein faltenreiches Gewand mit soviel Reinlichkeit als Geschicklichkeit
anlegte.
Charlotte, welche gern sah, wenn Ottilie sich auf irgendeine Weise
beschäftigte und zerstreute, ließ die beiden gewähren und ging, um
ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, um ihre Betrachtungen und Sorgen,
die sie niemanden mitteilen konnte, für sich durchzuarbeiten. Wenn
gewöhnliche Menschen, durch gemeine Verlegenheiten des Tags zu einem
leidenschaftlich ängstlichen Betragen aufgeregt, uns ein mitleidiges
Lächeln abnötigen, so betrachten wir dagegen mit Ehrfurcht ein Gemüt,
in welchem die Saat eines großen Schicksals ausgesäet worden, das die
Entwicklung dieser Empfängnis abwarten muß und weder das Gute noch das
Böse, weder das Glückliche noch das Unglückliche, was daraus
entspringen soll, beschleunigen darf und kann.
Eduard hatte durch Charlottens Boten, den sie ihm in seine Einsamkeit
gesendet, freundlich und teilnehmend, aber doch eher gefaßt und ernst
als zutraulich und liebevoll, geantwortet.
Kurz darauf war Eduard verschwunden, und seine Gattin konnte zu keiner
Nachricht von ihm gelangen, bis sie endlich von ungefähr seinen Namen
in den Zeitungen fand, wo er unter denen, die sich bei einer
bedeutenden Kriegsgelegenheit hervorgetan hatten, mit Auszeichnung
genannt war.
Sie wußte nun, welchen Weg er genommen hatte, sie erfuhr, daß er
großen Gefahren entronnen war; allein sie überzeugte sich sogleich,
daß er größere aufsuchen würde, und sie konnte sich daraus nur
allzusehr deuten, daß er in jedem Sinne schwerlich vom äußersten würde
zurückzuhalten sein.
Sie trug diese Sorgen für sich allein immer in Gedanken und mochte sie
hin und wider legen, wie sie wollte, so konnte sie doch bei keiner
Ansicht Beruhigung finden.
Ottilie, von alledem nichts ahnend, hatte indessen zu jener Arbeit die
größte Neigung gefaßt und von Charlotten gar leicht die Erlaubnis
erhalten, regelmäßig darin fortfahren zu dürfen.
Nun ging es rasch weiter, und der azurne Himmel war bald mit würdigen
Bewohnern bevölkert.
Durch eine anhaltende übung gewannen Ottilie und der Architekt bei den
letzten Bildern mehr Freiheit; sie wurden zusehends besser.
Auch die Gesichter, welche dem Architekten zu malen allein überlassen
war, zeigten nach und nach eine ganz besondere Eigenschaft; sie fingen
sämtlich an, Ottilien zu gleichen.
Die Nähe des schönen Kindes mußte wohl in die Seele des jungen Mannes,
der noch keine natürliche oder künstlerische Physiognomie vorgefaßt
hatte, einen so lebhaften Eindruck machen, daß ihm nach und nach auf
dem Wege vom Auge zur Hand nichts verlorenging, ja daß beide zuletzt
ganz gleichstimmig arbeiteten.
Genug, eins der letzten Gesichtchen glückte vollkommen, so daß es
schien, als wenn Ottilie selbst aus den himmlischen Räumen
heruntersähe.
An dem Gewölbe war man fertig; die Wände hatte man sich vorgenommen
einfach zu lassen und nur mit einer hellern bräunlichen Farbe zu
überziehen; die zarten Säulen und künstlichen bildhauerischen Zieraten
sollten sich durch eine dunklere auszeichnen.
Aber wie in solchen Dingen immer eins zum andern führt, so wurden noch
Blumen und Fruchtgehänge beschlossen, welche Himmel und Erde gleichsam
zusammenknüpfen sollten.
Hier war nun Ottilie ganz in ihrem Felde.
Die Gärten lieferten die schönsten Muster, und obschon die Kränze sehr
reich ausgestattet wurden, so kam man doch früher, als man gedacht
hatte, damit zustande.
Noch sah aber alles wüste und roh aus.
Die Gerüste waren durcheinander geschoben, die Bretter übereinander
geworfen, der ungleiche Fußboden durch mancherlei vergossene Farben
noch mehr verunstaltet.
Der Architekt erbat sich nunmehr, daß die Frauenzimmer ihm acht Tage
Zeit lassen und bis dahin die Kapelle nicht betreten möchten.
Endlich ersuchte er sie an einem schönen Abende, sich beiderseits
dahin zu verfügen; doch wünschte er, sie nicht begleiten zu dürfen,
und empfahl sich sogleich.
"Was er uns auch für eine überraschung zugedacht haben mag", sagte
Charlotte, als er weggegangen war, "so habe ich doch gegenwärtig keine
Lust hinunterzugehen.
Du nimmst es wohl allein über dich und gibst mir Nachricht.
Gewiß hat er etwas Angenehmes zustande gebracht.
Ich werde es erst in deiner Beschreibung und dann gern in der
Wirklichkeit genießen".
Ottilie, die wohl wußte, daß Charlotte sich in manchen Stücken in acht
nahm, alle Gemütsbewegungen vermied und besonders nicht überrascht
sein wollte, begab sich sogleich allein auf den Weg und sah sich
unwillkürlich nach dem Architekten um, der aber nirgends erschien und
sich mochte verborgen haben.
Sie trat in die Kirche, die sie offen fand.
Diese war schon früher fertig, gereinigt und eingeweiht.
Sie trat zur Türe der Kapelle, deren schwere, mit Erz beschlagene Last
sich leicht vor ihr auftat und sie in einem bekannten Raume mit einem
unerwarteten Anblick überraschte.
Durch das einzige hohe Fenster fiel ein ernstes, buntes Licht herein;
denn es war von farbigen Gläsern anmutig zusammengesetzt.
Das Ganze erhielt dadurch einen fremden Ton und bereitete zu einer
eigenen Stimmung.
Die Schönheit des Gewölbes und der Wände ward durch die Zierde des
Fußbodens erhöht, der aus besonders geformten, nach einem schönen
Muster gelegten, durch eine gegossene Gipsfläche verbundenen
Ziegelsteinen bestand.
Diese sowohl als die farbigen Scheiben hatte der Architekt heimlich
bereiten lassen und konnte nun in kurzer Zeit alles zusammenfügen.
Auch für Ruheplätze war gesorgt.
Es hatten sich unter jenen kirchlichen Altertümern einige schön
geschnitzte Chorstühle vorgefunden, die nun gar schicklich an den
Wänden angebracht umherstanden.
Ottilie freute sich der bekannten, ihr als ein unbekanntes Ganze
entgegentretenden Teile.
Sie stand, ging hin und wider, sah und besah; endlich setzte sie sich
auf einen der Stühle, und es schien ihr, indem sie auf—und
umherblickte, als wenn sie wäre und nicht wäre, als wenn sie sich
empfände und nicht empfände, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich
selbst verschwinden sollte; und nur als die Sonne das bisher sehr
lebhaft beschienene Fenster verließ, erwachte Ottilie vor sich selbst
und eilte nach dem Schlosse.
Sie verbarg sich nicht, in welche sonderbare Epoche diese überraschung
gefallen sei.
Es war der Abend vor Eduards Geburtstage.
Diesen hatte sie freilich ganz anders zu feiern gehofft.
Wie sollte nicht alles zu diesem Feste geschmückt sein!
Aber nunmehr stand der ganze herbstliche Blumenreichtum ungepflückt.
Diese Sonnenblumen wendeten noch immer ihr Angesicht gen Himmel, diese
Astern sahen noch immer still bescheiden vor sich hin, und was
allenfalls davon zu Kränzen gebunden war, hatte zum Muster gedient,
einen Ort auszuschmücken, der, wenn er nicht bloß eine Künstlergrille
bleiben, wenn er zu irgend etwas genutzt werden sollte, nur zu einer
gemeinsamen Grabstätte geeignet schien.
Sie mußte sich dabei der geräuschvollen Geschäftigkeit erinnern, mit
welcher Eduard ihr Geburtsfest gefeiert; sie mußte des neugerichteten
Hauses gedenken, unter dessen Decke man sich soviel Freundliches
versprach.
Ja das Feuerwerk rauschte ihr wieder vor Augen und Ohren, je einsamer
sie war, desto mehr vor der Einbildungskraft; aber sie fühlte sich
auch nur um desto mehr allein.
Sie lehnte sich nicht mehr auf seinen Arm und hatte keine Hoffnung, an
ihm jemals wieder eine Stütze zu finden.
Eine Bemerkung des jungen Künstlers muß ich aufzeichnen: "wie am
Handwerker so am bildenden Künstler kann man auf das deutlichste
gewahr werden, daß der Mensch sich am wenigsten zuzueignen vermag, was
ihm ganz eigens angehört.
Seine Werke verlassen ihn so wie die Vögel das Nest, worin sie
ausgebrütet worden".
Der Baukünstler vor allen hat hierin das wunderlichste Schicksal.
Wie oft wendet er seinen ganzen Geist, seine ganze Neigung auf, um
Räume hervorzubringen, von denen er sich selbst ausschließen muß! Die
königlichen Säle sind ihm ihre Pracht schuldig, deren größte Wirkung
er nicht mitgenießt.
In den Tempeln zieht er eine Grenze zwischen sich und dem
Allerheiligsten; er darf die Stufen nicht mehr betreten, die er zur
hrzerhebenden Feierlichkeit gründete, so wie der Goldschmied die
Monstranz nur von fern anbetet, deren Schmelz und Edelsteine er
zusammengeordnet hat.
Dem Reichen übergibt der Baumeister mit dem Schlüssel des Palastes
alle Bequemlichkeit und Behäbigkeit, ohne irgend etwas davon
mitzugenießen.
Muß sich nicht allgemach auf diese Weise die Kunst von dem Künstler
entfernen, wenn das Werk wie ein ausgestattetes Kind nicht mehr auf
den Vater zurückwirkt?
Und wie sehr mußte die Kunst sich selbst befördern, als sie fast
allein mit dem öffentlichen, mit dem, was allen und also auch dem
Künstler gehörte, sich zu beschäftigen bestimmt war!
Eine Vorstellung der alten Völker ist ernst und kann furchtbar
scheinen.
Sie dachten sich ihre Vorfahren in großen Höhlen ringsumher auf
Thronen sitzend in stummer Unterhaltung.
Dem Neuen, der hereintrat, wenn er würdig genug war, standen sie auf
und neigten ihm einen Willkommen.
Gestern, als ich in der Kapelle saß und meinem geschnitzten Stuhle
gegenüber noch mehrere umhergestellt sah, erschien mir jener Gedanke
gar freundlich und anmutig.
"Warum kannst du nicht sitzenbleiben?" dachte ich bei mir selbst,
"still und in dich gekehrt sitzenbleiben, lange, lange, bis endlich
die Freunde kämen, denen du aufstündest und ihren Platz mit
freundlichem Neigen anwiesest".
Die farbigen Scheiben machen den Tag zur ernsten Dämmerung, und jemand
müßte eine ewige Lampe stiften, damit auch die Nacht nicht ganz
finster bliebe.
Man mag sich stellen, wie man will, und man denkt sich immer sehend.
Ich glaube, der Mensch träumt nur, damit er nicht aufhöre zu sehen.
Es könnte wohl sein, daß das innere Licht einmal aus uns herausträte,
sodaß wir keines andern mehr bedürften.
Das Jahr klingt ab.
Der Wind geht über die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur
die roten Beeren jener schlanken Bäume scheinen uns noch an etwas
Munteres erinnern zu wollen, so wie uns der Taktschlag des Dreschers
den Gedanken erweckt, daß in der abgesichelten ähre soviel Nährendes
und Lebendiges verborgen liegt.
Wie seltsam mußte solchen Ereignissen, nach diesem aufgedrungenen
Gefühl von Vergänglichkeit und Hinschwinden Ottilie durch die
Nachricht getroffen werden, die ihr nicht länger verborgen bleiben
konnte, daß Eduard sich dem wechselnden Kriegsglück überliefert habe.
Es entging ihr leider keine von den Betrachtungen, die sie dabei zu
machen Ursache hatte.
Glücklicherweise kann der Mensch nur einen gewissen Grad des Unglücks
fassen; was darüber hinausgeht, vernichtet ihn oder läßt ihn
gleichgültig.
Es gibt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung eins werden, sich einander
wechselseitig aufheben und in eine dunkle Fühllosigkeit verlieren.
Wie könnten wir sonst die entfernten Geliebtesten in stündlicher
Gefahr wissen und dennoch unser tägliches, gewöhnliches Leben immer so
forttreiben.
Es war daher, als wenn ein guter Geist für Ottilien gesorgt hätte,
indem er auf einmal in diese Stille, in der sie einsam und
unbeschäftigt zu versinken schien, ein wildes Heer hereinbrachte, das,
indem es ihr von außen genug zu schaffen gab und sie aus sich selbst
führte, zugleich in ihr das Gefühl eigener Kraft anregte.
Charlottens Tochter, Luciane, war kaum aus der Pension in die große
Welt getreten, hatte kaum in dem Hause ihrer Tante sich von
zahlreicher Gesellschaft umgeben gesehen, als ihr Gefallenwollen
wirklich Gefallen erregte und ein junger, sehr reicher Mann gar bald
eine heftige Neigung empfand, sie zu besitzen.
Sein ansehnliches Vermögen gab ihm ein Recht, das Beste jeder Art sein
eigen zu nennen, und es schien ihm nichts weiter abzugehen als eine
vollkommene Frau, um die ihn die Welt so wie um das übrige zu beneiden
hätte.
Diese Familienangelegenheit war es, welche Charlotten bisher sehr viel
zu tun gab, der sie ihre ganze überlegung, ihre Korrespondenz widmete,
insofern diese nicht darauf gerichtet war, von Eduard nähere Nachricht
zu erhalten; deswegen auch Ottilie mehr als sonst in der letzten Zeit
allein blieb.
Diese wußte zwar um die Ankunft Lucianens; im Hause hatte sie deshalb
die nötigsten Vorkehrungen getroffen; allein so nahe stellte man sich
den Besuch nicht vor.
Man wollte vorher noch schreiben, abreden, näher bestimmen, als der
Sturm auf einmal über das Schloß und Ottilien hereinbrach.
Angefahren kamen nun Kammerjungfern und Bediente, Brancards mit
Koffern und Kisten; man glaubte schon eine doppelte und dreifache
Herrschaft im Hause zu haben; aber nun erschienen erst die Gäste
selbst: die Großtante mit Lucianen und einigen Freundinnen, der
Bräutigam gleichfalls nicht unbegleitet.
Da lag das Vorhaus voll Vachen, Mantelsäcke und anderer lederner
Gehäuse.
Mit Mühe sonderte man die vielen Kästchen und Futterale auseinander.
Des Gepäckes und Geschleppes war kein Ende.
Dazwischen regnete es mit Gewalt, woraus manche Unbequemlichkeit
entstand.
Diesem ungestümen Treiben begegnete Ottilie mit gleichmütiger
Tätigkeit, ja ihr heiteres Geschick erschien im schönsten Glanze; denn
sie hatte in kurzer Zeit alles untergebracht und angeordnet.
Jedermann war logiert, jedermann nach seiner Art bequem, und glaubte
gut bedient zu sein, weil er nicht gehindert war, sich selbst zu
bedienen.
Nun hätten alle gern, nach einer höchst beschwerlichen Reise, einige
Ruhe genossen; der Bräutigam hätte sich seiner Schwiegermutter gern
genähert, um ihr seine Liebe, seinen guten Willen zu beteuern; aber
Luciane konnte nicht rasten.
Sie war nun einmal zu dem Glücke gelangt, ein Pferd besteigen zu
dürfen.
Der Bräutigam hatte schöne Pferde, und sogleich mußte man aufsitzen.
Wetter und Wind, Regen und Sturm kamen nicht in Anschlag; es war, als
wenn man nur lebte, um naß zu werden und sich wieder zu trocknen.
Fiel es ihr ein, zu Fuße auszugehen, so fragte sie nicht, was für
Kleider sie anhatte und wie sie beschuht war: sie mußte die Anlagen
besichtigen, von denen sie vieles gehört hatte.
Was nicht zu Pferde geschehen konnte, wurde zu Fuß durchrannt.
Bald hatte sie alles gesehen und abgeurteilt.
Bei der Schnelligkeit ihres Wesens war ihr nicht leicht zu
widersprechen.
Die Gesellschaft hatte manches zu leiden, am meisten aber die
Kammermädchen, die mit Waschen und Bügeln, Auftrennen und Annähen
nicht fertig werden konnten.
Kaum hatte sie das Haus und die Gegend erschöpft, als sie sich
verpflichtet fühlte, rings in der Nachbarschaft Besuch abzulegen.
Weil man sehr schnell ritt und fuhr, so reichte die Nachbarschaft
ziemlich fern umher.
Das Schloß ward mit Gegenbesuchen überschwemmt, und damit man sich ja
nicht verfehlen möchte, wurden bald bestimmte Tage angesetzt. Indessen
Charlotte mit der Tante und dem Geschäftsträger des Bräutigams die
innern Verhältnisse festzustellen bemüht war und Ottilie mit ihren
Untergebenen dafür zu sorgen wußte, daß es an nichts bei so großem
Zugang fehlen möchte, da denn Jäger und Gärtner, Fischer und Krämer in
Bewegung gesetzt wurden, zeigte sich Luciane immer wie ein brennender
Kometenkern, der einen langen Schweif nach sich zieht.
Die gewöhnlichen Besuchsunterhaltungen dünkten ihr bald ganz
unschmackhaft.
Kaum daß sie den ältesten Personen eine Ruhe am Spieltisch gönnte: wer
noch einigermaßen beweglich war—und wer ließ sich nicht durch ihre
reizenden Zudringlichkeiten in Bewegung setzen?
-, Mußte herbei, wo nicht zum Tanze, doch zum lebhaften Pfand-,
Straf—und Vexierspiel.
Und obgleich das alles, so wie hernach die Pfänderlösung, auf sie
selbst berechnet war, so ging doch von der andern Seite niemand,
besonders kein Mann, er mochte von einer Art sein, von welcher er
wollte, ganz leer aus; ja es glückte ihr, einige ältere Personen von
Bedeutung ganz für sich zu gewinnen, indem sie ihre eben einfallenden
Geburts—und Namenstage ausgeforscht hatte und besonders feierte.
Dabei kam ihr ein ganz eignes Geschick zustatten, sodaß, indem alle
sich begünstigt sahen, jeder sich für den am meisten Begünstigten
hielt: eine Schwachheit, deren sich sogar der älteste in der
Gesellschaft am allermerklichsten schuldig machte.
Schien es bei ihr Plan zu sein, Männer, die etwas vorstellten, Rang,
Ansehen, Ruhm oder sonst etwas Bedeutendes für sich hatten, für sich
zu gewinnen, Weisheit und Besonnenheit zuschanden zu machen und ihrem
wilden, wunderlichen Wesen selbst bei der Bedächtlichkeit Gust zu
erwerben, so kam die Jugend doch dabei nicht zu kurz; jeder hatte sein
Teil, seinen Tag, seine Stunde, in der sie ihn zu entzücken und zu
fesseln wußte.
So hatte sie den Architekten schon bald ins Auge gefaßt, der jedoch
aus seinem schwarzen, langlockigen Haar so unbefangen heraussah, so
gerad und ruhig in der Entfernung stand, auf alle Fragen kurz und
verständig antwortete, sich aber auf nichts weiter einzulassen geneigt
schien, daß sie sich endlich einmal, halb unwillig halb listig,
entschloß, ihn zum Helden des Tages zu machen und dadurch auch für
ihren Hof zu gewinnen.
Nicht umsonst hatte sie so vieles Gepäck mitgebracht, ja es war ihr
noch manches gefolgt.
Sie hatte sich auf eine unendliche Abwechselung in Kleidern vorgesehen.
Wenn es ihr Vergnügen machte, sich des Tages drei-, viermal umzuziehen
und mit gewöhnlichen, in der Gesellschaft üblichen Kleidern vom Morgen
bis in die Nacht zu wechseln, so erschien sie dazwischen wohl auch
einmal im wirklichen Maskenkleid, als Bäuerin und Fischerin, als Fee
und Blumenmädchen.
Sie verschmähte nicht, sich als alte Frau zu verkleiden, um desto
frischer ihr junges Gesicht aus der Kutte hervorzuzeigen; und wirklich
verwirrte sie dadurch das Gegenwärtige und das Eingebildete dergestalt,
daß man sich mit der Saalnixe verwandt und verschwägert zu sein
glaubte.
Wozu sie aber diese Verkleidungen hauptsächlich benutzte, waren
pantomimische Stellungen und Tänze, in denen sie verschiedene
Charaktere auszudrücken gewandt war.
Ein Kavalier aus ihrem Gefolge hatte sich eingerichtet, auf dem Flügel
ihre Gebärden mit der wenigen nötigen Musik zu begleiten; es bedurfte
nur einer kurzen Abrede, und sie waren sogleich in Einstimmung.
Eines Tages, als man sie bei der Pause eines lebhaften Balls auf ihren
eigenen heimlichen Antrieb gleichsam aus dem Stegereife zu einer
solchen Darstellung aufgefordert hatte, schien sie verlegen und
überrascht und ließ sich wider ihre Gewohnheit lange bitten.
Sie zeigte sich unentschlossen, ließ die Wahl, bat wie ein
Imporvisator um einen Gegenstand, bis endlich jener Klavier spielende
Gehülfe, mit dem es abgeredet sein mochte, sich an den Flügel setzte,
einen Trauermarsch zu spielen anfing und sie aufforderte, jene
Artemisia zu geben, welche sie so vortrefflich einstudiert habe.
Sie ließ sich erbitten, und nach einer kurzen Abwesenheit erschien sie,
bei den zärtlich traurigen Tönen des Totenmarsches, in Gestalt der
königlichen Witwe, mit gemessenem Schritt, einen Aschenkrug vor sich
hertragend.
Hinter ihr brachte man eine große schwarze Tafel und in einer goldenen
Reißfeder ein wohlzugeschnitztes Stück Kreide.
Einer ihrer Verehrer und Adjutanten, dem sie etwas ins Ohr sagte, ging
sogleich den Architekten aufzufordern, zu nötigen und gewissermaßen
herbeizuschieben, daß er als Baumeister das Grab des mausolus zeichnen
und also keineswegs einen Statisten, sondern einen ernstlich
Mitspielenden vorstellen sollte.
Wie verlegen der Architekt auch äußerlich erschien—denn er machte in
seiner ganz schwarzen, knappen, modernen Zivilgestalt einen
wunderlichen Kontrast mit jenen Flören, Kreppen, Fransen, Schmelzen,
Quasten und Kronen -, so faßte er sich doch gleich innerlich, allein
um so wunderlicher war es anzusehen.
Mit dem größten Ernst stellte er sich vor die große Tafel, die von ein
paar Pagen gehalten wurde, und zeichnete mit viel Bedacht und
Genauigkeit ein Grabmal, das zwar eher einem longobardischen als einem
karischen König wäre gemäß gewesen, aber doch in so schönen
Verhältnissen, so ernst in seinen Teilen, so geistreich in seinen
Zieraten, daß man es mit Vergnügen entstehen sah und, als es fertig
war, bewunderte.
Er hatte sich in diesem ganzen Zeitraum fast nicht gegen die Königin
gewendet, sondern seinem Geschäft alle Aufmerksamkeit gewidmet.
Endlich, als er sich vor ihr neigte und andeutete, daß er nun ihre
Befehle vollzogen zu haben glaube, hielt sie ihm noch die Urne hin und
bezeichnete das Verlangen, diese oben auf dem Gipfel abgebildet zu
sehen.
Er tat es, obgleich ungern, weil sie zu dem Charakter seines übrigen
Entwurfs nicht passen wollte.
Was Lucianen betraf, so war sie endlich von ihrer Ungeduld erlöst;
denn ihre Absicht war keineswegs, eine gewissenhafte Zeichnung von ihm
zu haben.
Hätte er mit wenigen Strichen nur hinskizziert, was etwa einem
Monument ähnlich gesehen, und sich die übrige Zeit mit ihr abgegeben,
so wäre das wohl dem Endzweck und ihren Wünschen gemäßer gewesen.
Bei seinem Benehmen dagegen kam sie in die größte Verlegenheit; denn
ob sie gleich in ihrem Schmerz, ihren Anordnungen und Andeutungen,
ihrem Beifall über das nach und nach Entstehende ziemlich abzuwechseln
suchte und sie ihn einigemal beinahe herumzerrte, um nur mit ihm in
eine Art von Verhältnis zu kommen, so erwies er sich doch gar zu steif,
dergestalt daß sie allzuoft ihre Zuflucht zur Urne nehmen, sie an ihr
Herz drücken und zum Himmel schauen mußte, ja zuletzt, weil sich doch
dergleichen Situationen immer steigern, mehr einer Witwe von Ephesus
als einer Königin von Karien ähnlich sah.
Die Vorstellung zog sich daher in die Lage; der Klavierspieler, der
sonst Geduld genug hatte, wußte nicht mehr, in welchen Ton er
ausweichen sollte.
Er dankte Gott, als er die Urne auf der Pyramide stehn sah, und fiel
unwillkürlich, als die Königin ihren Dank ausdrücken wollte, in ein
lustiges Thema, wodurch die Vorstellung zwar ihren Charakter verlor,
die Gesellschaft jedoch völlig aufgeheitert wurde, die sich denn
solgeich teilte, der Dame für ihren vortrefflichen Ausdruck und dem
Architekten für seine künstliche und zierliche Zeichnung eine freudige
Bewunderung zu beweisen.
Besonders der Bräutigam unterhielt sich mit dem Achritekten.
"Es tut mir leid", sagte jener, "daß die Zeichnung so vergänglich ist.
Sie erlauben wenigstens, daß ich sie mir auf mein Zimmer bringen lasse
und mich mit Ihnen darüber unterhalte".
-"Wenn es Ihnen Vergnügen macht", sagte der Architekt, "so kann ich
Ihnen sorgfältige Zeichnungen von dergleichen Gebäuden und Monumenten
vorlegen, wovon dieses nur ein zufälliger, flüchtiger Entwurf ist".
Ottilie stand nicht fern und trat zu den beiden.
"Versäumen Sie nicht",sagte sie zum Architekten, "den Herrn Baron
gelegentlich Ihre Sammlung sehen zu lassen; er ist ein Freund der
Kunst und des Altertums; ich wünsche, daß Sie sich näher kennenlernen".
Luciane kam herbeigefahren und fragte: "wovon ist die Rede?" "Von
einer Sammlung Kunstwerke", antwortete der Baron, "welche dieser Herr
besitzt und die er uns gelegentlich zeigen will".
"Er mag sie nur gleich bringen!" rief Luciane.
"Nicht wahr, Sie bringen sie gleich?" setzte sie schmeichelnd hinzu,
indem sie ihn mit beiden Händen freundlich anfaßte.
"Es möchte jetzt der Zeitpunkt nicht sein", versetzte der Architekt.
"Was!" rief Luciane gebieterisch, "Sie wollen dem Befehl Ihrer Königin
nicht gehorchen?" Dann legte sie sich auf ein neckisches Bitten.
"Sein Sie nicht eigensinnig!" sagte Ottilie halb leise.
Der Architekt entfernte sich mit einer Beugung; sie war weder bejahend
noch verneinend.
Kaum war er fort, als Luciane sich mit einem Windspiel im Saale
herumjagte.
"Ach!" rief sie aus, indem sie zufällig an ihre Mutter stieß, "wie bin
ich nicht unglücklich!
Ich habe meinen Affen nicht mitgenommen; man hat es mir abgeraten; es
ist aber nur die Bequemlichkeit meiner Leute, die mich um dieses
Vergnügen bringt.
Ich will ihn aber nachkommen lassen, es soll mir jemand hin, ihn zu
holen.
Wenn ich nur sein Bildnis sehen könnte, so wäre ich schon vergnügt.
Ich will ihn aber gewiß auch malen lassen, und er soll mir nicht von
der Seite kommen".
"Vielleicht kann ich dich trösten", versetzte Charlotte, "wenn ich dir
aus der Bibliothek einen ganzen Band der wunderlichsten Affenbilder
kommen lasse".
Luciane schrie vor Freuden laut auf, und der Folioband wurde gebracht.
Der Anblick dieser menschenähnlichen und durch den Künstler noch mehr
vermenschlichten abscheulichen Geschöpfe machte Lucianen die größte
Freude.
Ganz glücklich aber fühlte sie sich, bei einem jeden dieser Tiere die
ähnlichkeit mit bekannten Menschen zu finden.
"Sieht der nicht aus wie die Onkel?" rief sie unbarmherzig, "der wie
der Galanteriehändler M-, der wie der Pfarrer S-, und dieser ist der
Dings -, der—leibhaftig.
Im Grunde sind doch die Affen die eigentlichen Incroyables, und es ist
unbegreiflich, wie man sie aus der besten Gesellschaft ausschließen
mag".
Sie sagte das in der besten Gesellschaft, doch niemand nahm es ihr
übel.
Man war so gewohnt, ihrer Anmut vieles zu erlauben, daß man zuletzt
ihrer Unart alles erlaubte.
Ottilie unterhielt sich indessen mit dem Bräutigam.
Sie hoffte auf die Rückkunft des Architekten, dessen ernstere,
geschmackvollere Sammlungen die Gesellschaft von diesem Affenwesen
befreien sollten.
In dieser Erwartung hatte sie sich mit dem Baron besprochen und ihn
auf manches aufmerksam gemacht.
Allein der Architekt blieb aus, und als er endlich wiederkam, verlor
er sich unter der Gesellschaft, ohne etwas mitzubringen und ohne zu
tun, als ob von etwas die Frage gewesen wäre.
Ottilie ward einen Augenblick—wie soll mans nennen?—Verdrießlich,
ungehalten, betroffen; sie hatte ein gutes Wort an ihn gewendet, sie
gönnte dem Bräutigam eine vergnügte Stunde nach seinem Sinne, der bei
seiner unendlichen Liebe für Lucianen doch von ihrem Betragen zu
leiden schien.
Die Affen mußten einer Kollation Platz machen.
Gesellige Spiele, ja sogar noch Tänze, zuletzt ein freudeloses
Herumsitzen und Wiederaufjagen einer schon gesunkenen Lust dauerten
diesmal, wie sonst auch, weit über Mitternacht.
Denn schon hatte sich Luciane gewöhnt, morgens nicht aus dem Bette und
abends nicht ins Bette gelangen zu können.
Um diese Zeit finden sich in Ottiliens Tagebuch Ereignisse seltner
angemerkt, dagegen häufiger auf das Leben bezügliche und vom Leben
abgezogene Maximen und Sentenzen.
Weil aber die meisten derselben wohl nicht durch ihre eigene Reflexion
entstanden sein können, so ist es wahrscheinlich, daß man ihr
irgendeinen Heft mitgeteilt, aus dem sie sich, was ihr gemütlich war,
ausgeschrieben.
Manches Eigene von innigererem Bezug wird an dem roten Faden wohl zu
erkennen sein.
Wir blicken so gern in die Zukunft, weil wir das Ungefähre, was sich
in ihr hin und her bewegt, durch stille Wünsche so gern zu unsern
Gunsten heranleiten möchten.
Wir befinden uns nicht leicht in großer Gesellschaft, ohne zu denken,
der Zufall, der so viele zusammenbringt, solle uns auch unsre Freunde
herbeiführen.
Man mag noch so eingezogen leben, so wird man, ehe man sichs versieht,
ein Schuldner oder ein Gläubiger.
Begegnet uns jemand, der uns Dank schuldig ist, gleich fällt es uns
ein.
Wie oft können wir jemand begegnen, dem wir Dank schuldig sind, ohne
daran zu denken!
Sich mitzuteilen ist Natur; mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben
wird, ist Bildung.
Niemand würde viel in Gesellschaften sprechen, wenn er sich bewußt
wäre, wie oft er die andern mißversteht.
Man verändert fremde Reden beim Wiederholen wohl nur darum so sehr,
weil man sie nicht verstanden hat.
Wer vor andern lange allein spricht, ohne den Zuhörern zu schmeicheln,
erregt Widerwillen.
Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn.
Widerspruch und Scheichelei machen beide ein schlechtes Gespräch.
Die angenehmsten Gesellschaften sind die, in welchen eine heitere
Ehrerbietung der Glieder gegeneinander obwaltet.
Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch
das, was sie lächerlich finden.
Das Lächerliche entspringt aus einem sittlichen Kontrast, der auf eine
unschädliche Weise für die Sinne in Verbindung gebracht wird. Der
sinnliche Mensch lacht oft, wo nichts zu lachen ist.
Was ihn auch anregt, sein inneres Behagen kommt zum Vorschein.
Der Verständige findet fast alles lächerlich, der Vernünftige fast
nichts.
Einem bejahrten Manne verdachte man, daß er sich noch um junge
Frauenzimmer bemühte.
"Es ist das einzige Mittel", versetzte er, "sich zu verjüngen, und das
will doch jedermann".
Man läßt sich seine Mängel vorhalten, man läßt sich strafen, man
leidet manches um ihrer willen mit Geduld; aber ungeduldig wird man,
wenn man sie ablegen soll.
Gewisse Mängel sind notwendig zum Dasein des einzelnen.
Es würde uns unangenehm sein, wenn alte Freunde gewisse Eigenheiten
ablegten.
Man sagt: "es stirbt bald", wenn einer etwas gern seine Art und Weise
tut.
Was für Mängel dürfen wir behalten, ja an uns kultivieren? Solche,
die den andern eher schmeicheln als sie verletzen.
Die Leidenschaften sind Mängel oder Tugenden, nur gesteigerte.
Unsre Leidenschaften sind wahre Phönixe.
Wie der alte verbrennt, steigt der neue sogleich wieder aus der Asche
hervor.
Große Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung.
Was sie heilen könnte, macht sie erst recht gefährlich.
Die Leidenschaft erhöht und mildert sich durchs Bekennen.
In nichts wäre die Mittelstraße vielleicht wünschenswerter als im
Vertrauen und Verschweigen gegen die, die wir lieben.
So peitschte Luciane den Lebensrausch im geselligen Strudel immer vor
sich her.
Ihr Hofstaat vermehrte sich täglich, teils weil ihr Treiben so manchen
erregte und anzog, teils weil sie sich andre durch Gefälligkeit und
Wohltun zu verbinden wußte.
Mittteilend war sie im höchsten Grade; denn da ihr durch die Neigung
der Tante und des Bräutigams soviel Schönes und Köstliches auf einmal
zugeflossen war, so schien sie nichts Eigenes zu besitzen und den Wert
der Dinge nicht zu kennen, die sich um sie gehäuft hatten.
So zauderte sie nicht einen Augenblick, einen kostbaren Schal
abzunehmen und ihn einem Frauenzimmer umzuhängen, das ihr gegen die
übrigen zu ärmlich gekleidet schien, und sie tat das auf eine so
neckische, geschickte Weise, daß niemand eine solche Gabe ablehnen
konnte.
Einer von ihrem Hofstaat hatte stets eine Börse und den Auftrag, in
den Orten, wo sie einkehrten, sich nach den ältesten und Kränksten zu
erkundigen und ihren Zustand wenigstens für den Augenblick zu
erleichtern.
Dadurch entstand ihr in der ganzen Gegend ein Name von
Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manchmal unbequem ward, weil er
allzuviel lästige Notleidende an sie heranzog.
Durch nichts aber vermehrte sie so sehr ihren Ruf als durch ein
auffallendes, gutes, beharrliches Benehmen gegen einen unglücklichen
jungen Mann, der die Gesellschaft floh, weil er, übrigens schön und
wohlgebildet, seine rechte Hand, obgleich rühmlich, in der Schlacht
verloren hatte.
Diese Verstümmlung erregte ihm einen solchen Mißmut, es war ihm so
verdrießlich, daß jede neue Bekanntschaft sich auch immer mit seinem
Unfall bekannt machen sollte, daß er sich lieber versteckte, sich dem
Lesen und andern Studien ergab und ein für allemal mit der
Gesellschaft nichts wollte zu schaffen haben.
Das Dasein dieses jungen Mannes blieb ihr nicht verborgen.
Er mußte herbei, erst in kleiner Gesellschaft, dann in größerer, dann
in der größten.
Sie benahm sich anmutiger gegen ihn als gegen irgendeinen andern;
besonders wußte sie durch zudringliche Dienstfertigkeit ihm seinen
Verlust wert zu machen, indem sie geschäftig war, ihn zu ersetzen.
Bei Tafel mußte er neben ihr seinen Platz nehmen; sie schnitt ihm vor,
sodaß er nur die Gabel gebrauchen durfte.
Nahmen ältere, Vornehmere ihm ihre Nachbarschaft weg, so erstreckte
sie ihre Aufmerksamkeit über die ganze Tafel hin, und die eilenden
Bedienten mußten das ersetzen, was ihm die Entfernung zu rauben drohte.
Zuletzt munterte sie ihn auf, mit der linken Hand zu schreiben; er
mußte alle seine Versuche an sie richten, und so stand sie, entfernt
oder nah, immer mit ihm in Verhältnis.
Der junge Mann wußte nicht, wie ihm geworden war, und wirklich fing er
von diesem Augenblick ein neues Leben an.
Vielleicht sollte man denken, ein solches Betragen wäre dem Bräutigam
mißfällig gewesen; allein es fand sich das Gegenteil.
Er rechnete ihr diese Bemühungen zu großem Verdienst an und war um so
mehr darüber ganz ruhig, als er ihre fast übertriebenen Eigenheiten
kannte, wodurch sie alles, was im mindesten verfänglich schien, von
sich abzulehnen wußte.
Sie wollte mit jedermann nach Belieben umspringen, jeder war in Gefahr,
von ihr einmal angestoßen, gezerrt oder sonst geneckt zu werden;
niemand aber durfte sich gegen sie ein Gleiches erlauben, niemand sie
nach Willkür berühren, niemand auch nur im entferntesten Sinne eine
Freiheit, die sie sich nahm, erwidern; und so hielt sie die andern in
den strengsten Grenzen der Sittlichkeit gegen sich, die sie gegen
andere jeden Augenblick zu übertreten schien.
überhaupt hätte man glauben können, es sei bei ihr Maxime gewesen,
sich dem Lobe und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung gleichmäßig
auszusetzen.
Denn wenn sie die Menschen auf mancherlei Weise für sich zu gewinnen
suchte, so verdarb sie es wieder mit ihnen gewöhnlich durch eine böse
Zunge, die niemanden schonte.
So wurde kein Besuch in der Nachbarschaft abgelegt, nirgends sie und
ihre Gesellschaft in Schlössern und Wohnungen freundlich aufgenommen,
ohne daß sie bei der Rückkehr auf das ausgelassenste merken ließ, wie
sie alle menschlichen Verhältnisse nur von der lächerlichen Seite zu
nehmen geneigt sei.
Da waren drei Brüder, welche unter lauter Komplimenten, wer zuerst
heiraten sollte, das Alter übereilt hatte; hier eine kleine, junge
Frau mit einem großen, alten Manne; dort umgekehrt ein kleiner,
munterer Mann und eine unbehülfliche Riesin.
In dem einen Hause stolperte man bei jedem Schritt über ein Kind; das
andre wollte ihr bei der größten Gesellschaft nicht voll erscheinen,
weil keine Kinder gegenwärtig waren.
Alte Gatten sollten sich nur schnell begraben lassen, damit doch
wieder einmal jemand im Hause zum Lachen käme, da ihnen keine Noterben
gegeben waren.
Junge Eheleute sollten reisen, weil das Haushalten sie gar nicht
kleide.
Und wie mit den Personen, so machte sie es auch mit den Sachen, mit
den Gebäuden wie mit dem Haus—und Tischgeräte.
Besonders alle Wandverzierungen reizten sie zu lustigen Bemerkungen.
Von dem ältesten Hautelisseteppich bis zu der neusten Papiertapete,
vom ehrwürdigsten Familienbilde bis zum frivolsten neuen Kupferstich,
eins wie das andre mußte leiden, eins wie das andre wurde durch ihre
spöttischen Bemerkungen gleichsam aufgezehrt, so daß man sich hätte
verwundern sollen, wie fünf Meilen umher irgend etwas nur noch
existierte.
Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in diesem verneinenden
Bestreben; ein selbstischer Mutwille mochte sie gewöhnlich anreizen;
aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte sich in ihrem Verhältnis zu
Ottilien erzeugt.
Auf die ruhige, ununterbrochene Tätigkeit des lieben Kindes, die von
jedermann bemerkt und gepriesen wurde, sah sie mit Verachtung herab;
und als zur Sprache kam, wie sehr sich Ottilie der Gärten und der
Treibhäuser annehme, spottete sie nicht allein darüber, indem sie
uneingedenk des tiefen Winters, in dem man lebte, sich zu verwundern
schien, daß man weder Blumen noch Früchte gewahr werde, sondern sie
ließ auch von nun an so viel Grünes, so viel Zweige und was nur irgend
keimte, herbeiholen und zur täglichen Zierde der Zimmer und des
Tisches verschwenden, daß Ottilie und der Gärtner nicht wenig gekränkt
waren, ihre Hoffnungen für das nächste Jahr und vielleicht auf längere
Zeit zerstört zu sehen.
Ebensowenig gönnte sie Ottilien die Ruhe des häuslichen Ganges, worin
sie sich mit Bequemlichkeit fortbewegte.
Ottilie sollte mit auf die Lust—und Schlittenfahrten, sie sollte mit
auf die Bälle, die in der Nachbarschaft veranstaltet wurden; sie
sollte weder Schnee noch Kälte noch gewaltsame Nachtstürme scheuen, da
ja soviel andre nicht davon stürben.
Das zarte Kind litt nicht wenig darunter, aber Luciane gewann nichts
dabei; denn obgleich Ottilie sehr einfach gekleidet ging, so war sie
doch, oder so schien sie wenigstens immer den Männern die Schönste.
Ein sanftes Anziehen versammelte alle Männer um sie her, sie mochte
sich in den großen Räumen am ersten oder am letzten Platze befinden;
ja der Bräutigam Lucianens selbst unterhielt sich oft mit ihr, und
zwar um so mehr, las er in einer Angelegenheit, die ihn beschäftigte,
ihren Rat, ihre Mitwirkung verlangte.
Er hatte den Architekten näher kennen lernen, bei Gelegenheit seiner
Kunstsammlung viel über das Geschichtliche mit ihm gesprochen, in
andern Fällen auch, besonders bei Betrachtung der Kapelle, sein Talent
schätzen gelernt.
Der Baron war jung, reich; er sammelte, er wollte bauen; seine
Liebhaberei war lebhaft, seine Kenntnisse schwach; er glaubte in dem
Architekten seinen Mann zu finden, mit dem er mehr als Einen Zweck
zugleich erreichen könnte.
Er hatte seiner Braut von dieser Absicht gesprochen; sie lobte ihn
darum und war höchlich mit dem Vorschlag zufrieden, doch vielleicht
mehr, um diesen jungen Mann Ottilien zu entziehen—denn sie glaubte so
etwas von Neigung bei ihm zu bemerken -, als daß sie gedacht hätte,
sein Talent zu ihren Absichten zu benutzen.
Denn ob er gleich bei ihren extemporierten Festen sich sehr tätig
erwiesen und manche Ressourcen bei dieser und jener Anstalt dargeboten,
so glaubte sie es doch immer selbst besser zu verstehen; und da ihre
Erfindungen gewöhnlich gemein waren, so reichte, um sie auszuführen,
die Geschicklichkeit eines gewandten Kammerdieners ebensogut hin als
die des vorzüglichsten Künstlers.
Weiter als zu einem Altar, worauf geopfert ward, und zu einer
Bekränzung, es mochte nun ein gipsernes oder ein lebendes Haupt sein,
konnte ihre Einbildungskraft sich nicht versteigen, wenn sie irgend
jemand zum Geburts—und Ehrentage ein festliches Kompliment zu machen
gedachte.
Ottilie konnte dem Bräutigam, der sich nach dem Verhältnis des
Architekten zum Hause erkundigte, die beste Auskunft geben.
Sie wußte, daß Charlotte sich schon früher nach einer Stelle für ihn
umgetan hatte; denn wäre die Gesellschaft nicht gekommen, so hätte
sich der junge Mann gleich nach Vollendung der Kapelle entfernt, weil
alle Bauten den Winter über stillstehn sollten und mußten; und es war
daher sehr erwünscht, wenn der geschickte Künstler durch einen neuen
Gönner wieder genutzt und befördert wurde.
Das persönliche Verhältnis Ottiliens zum Architekten war ganz rein und
unbefangen.
Seine angenehme und tätige Gegenwart hatte sie wie die Nähe eines
ältern Bruders unterhalten und erfreut.
Ihre Empfindungen für ihn blieben auf der ruhigen, leidenschaftslosen
Oberfläche der Blutsverwandtschaft; denn in ihrem Herzen war kein Raum
mehr; es war von der Liebe zu Eduard ganz gedrängt ausgefüllt, und nur
die Gottheit, die alles durchdringt, konnte dieses Herz zugleich mit
ihm besitzen.
Indessen je tiefer der Winter sich senkte, je wilderes Wetter, je
unzugänglicher die Wege, desto anziehender schien es, in so guter
Gesellschaft die abnehmenden Tage zuzubringen.
Nach kurzen Ebben überflutete die Menge von Zeit zu Zeit das Haus.
Offiziere von entfernteren Garnisonen, die gebildeten zu ihrem großen
Vorteil, die roheren zur Unbequemlichkeit der Gesellschaft, zogen sich
herbei; am Zivilstande fehlte es auch nicht, und ganz unerwartet kamen
eines Tages der Graf und die Baronesse zusammen angefahren.
Ihre Gegenwart schien erst einen wahren Hof zu bilden.
Die Männer von Stand und Sitten umgaben den Grafen, und die Frauen
ließen der Baronesse Gerechtigkeit widerfahren.
Man verwunderte sich nicht lange, sie beide zusammen und so heiter zu
sehen; denn man vernahm, des Grafen Gemahlin sei gestorben, und eine
neue Verbindung werde geschlossen sein, sobald es die Schicklichkeit
nur erlaube.
Ottilie erinnerte sich jenes ersten Besuchs, jedes Worts, was über
Ehestand und Scheidung, über Verbindung und und Trennung, über
Hoffnung, Erwartung, Entbehren und Entsagen gesprochen ward.
Beide Personen, damals noch ganz ohne Aussichten, standen nun vor ihr,
dem gehofften Glück so nahe, und ein unwillkürlicher Seufzer drang aus
ihrem Herzen.
Luciane hörte kaum, daß der Graf ein Liebhaber von Musik sei, so wußte
sie ein Konzert zu veranstalten; sie wollte sich dabei mit Gesang zur
Gitarre hören lassen.
Es geschah.
Das Instrument spielte sie nicht ungeschickt, ihre Stimme war angenehm;
was aber die Worte betraf, so verstand man sie so wenig, als wenn
sonst eine deutsche Schöne zur Gitarre singt.
Indes versicherte jedermann, sie habe mit viel Ausdruck gesungen, und
sie konnte mit dem lauten Beifall zufrieden sein.
Nur ein wunderliches Unglück begegnete bei dieser Gelegenheit. In
der Gesellschaft befand sich ein Dichter, den sie auch besonders zu
verbinden hoffte, weil sie einige Lieder von ihm an sie gerichtet
wünschte, und deshalb diesen Abend meist nur von seinen Liedern
vortrug.
Er war überhaupt, wie alle, höflich gegen sie, aber sie hatte mehr
erwartet.
Sie legte es ihm einigemal nahe, konnte aber weiter nichts von ihm
vernehmen, bis sie endlich aus Ungeduld einen ihrer Hofleute an ihn
schickte und sondieren ließ, ob er denn nicht entzückt gewesen sei,
seine vortrefflichen Gedichte so vortrefflich vortragen zu hören.
"Meine Gedichte?" versetzte dieser mit Erstaunen.
"Verzeihen Sie, mein Herr", fügte er hinzu; "ich habe nichts als
Vokale gehört und die nicht einmal alle.
Unterdessen ist es meine Schuldigkeit, mich für eine so liebenswürdige
Intention dankbar zu erweisen".
Der Hofmann schwieg und verschwieg.
Der andre suchte sich durch einige wohltönende Komplimente aus der
Sache zu ziehen.
Sie ließ ihre Absicht nicht undeutlich merken, auch etwas eigens für
sie Gedichtetes zu besitzen.
Wenn es nicht allzu unfreundlich gewesen wäre, so hätte er ihr das
Alphabet überreichen können, um sich daraus ein beliebiges Lobgedicht
zu irgendeiner vorkommenden Melodie selbst einzubilden.
Doch sollte sie nicht ohne Kränkung aus dieser Begebenheit scheiden.
Kurze Zeit darauf erfuhr sie, er habe noch selbigen Abend einer von
Ottiliens Lieblingsmelodien ein allerliebstes Gedicht untergelegt, das
noch mehr als verbindlich sei.
Luciane, wie alle Menschen ihrer Art, die immer durcheinander mischen,
was ihnen vorteilhaft und was ihnen nachteilig ist, wollte nun ihr
Glück im Rezitieren versuchen.
Ihr Gedächtnis war gut, aber, wenn man aufrichtig reden sollte, ihr
Vortrag geistlos und heftig, ohne leidenschaftlich zu sein.
Sie rezitierte Balladen, Erzählungen und was sonst in Deklamatorien
vorzukommen pflegt.
Dabei hatte sie die unglückliche Gewohnheit angenommen, das, was sie
vortrug, mit Gesten zu begleiten, wodurch man das, was eigentlich
episch und lyrisch ist, auf eine unangenehme Weise mit dem
Dramatischen mehr verwirrt als verbindet.
Der Graf, ein einsichtsvoller Mann, der gar bald die Gesellschaft,
ihre Neigungen, Leidenschaften und Unterhaltungen übersah, brachte
Lucianen glücklicher—oder unglücklicherweise auf eine neue Art von
Darstellung, die ihrer Persönlichkeit sehr gemäß war.
"Ich finde", sagte er, "hier so manche wohlgestaltete Personen, denen
es gewiß nicht fehlt, malerische Bewegungen und Stellungen nachzuahmen.
Sollten sie es noch nicht versucht haben, wirkliche, bekannte Gemälde
vorzustellen?
Eine solche Nachbildung, wenn sie auch manche mühsame Anordnung
erfordert, bringt dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor".
Schnell ward Luciane gewahr, daß sie hier ganz in ihrem Fach sein
würde.
Ihr schöner Wuchs, ihre volle Gestalt, ihr regelmäßiges und doch
bedeutendes Gesicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr schlanker
Hals, alles war schon wie aufs Gemälde berechnet; und hätte sie nun
gar gewußt, daß sie schöner aussah, wenn sie still stand, als wenn sie
sich bewegte, indem ihr im letzten Falle manchmal etwas störendes
Ungraziöses entschlüpfte, so hätte sie sich mit noch mehrerem Eifer
dieser natürlichen Bildnerei ergeben.
Man suchte nun Kupferstiche nach berühmten Gemälden, man wählte zuerst
den Belisar nach van Dyck.
Ein großer und wohlgebauter Mann von gewissen Jahren sollte den
sitzenden blinden General, der Architekt den vor ihm teilnehmend
traurig stehenden Krieger nachbilden, dem er wirklich etwas ähnlich
sah.
Luciane hatte sich, halb bescheiden, das junge Weibchen im
Hintergrunde gewählt, das reichliche Almosen aus einem Beutel in die
flache Hand zählt, indes eine Alte sie abzumahnen und ihr vorzustellen
scheint, daß sie zuviel tue.
Eine andre, ihm wirklich Almosen reichende Frauensperson war nicht
vergessen.
Mit diesen und andern Bildern beschäftigte man sich sehr ernstlich.
Der Graf gab dem Architekten über die Art der Einrichtung einige Winke,
der sogleich ein Theater dazu aufstellte und wegen der Beleuchtung
die nötige Sorge trug.
Man war schon tief in die Anstalten verwickelt, als man erst bemerkte,
daß ein solches Unternehmen einen ansehnlichen Aufwand verlangte und
daß auf dem Lande mitten im Winter gar manches Erfordernis abging.
Deshalb ließ, damit ja nichts stocken möge.
Luciane beinah ihre sämtliche Garderobe zerschneiden, um die
verschiedenen Kostüme zu liefern, die jene Künstler willkürlich genug
angegeben hatten.
Der Abend kam herbei, und die Darstellung wurde vor einer großen
Gesellschaft und zu allgemeinem Beifall ausgeführt.
Eine bedeutende Musik spannte die Erwartung.
Jener Belisar eröffnete die Bühne.
Die Gestalten waren so passend, die Farben so glücklich ausgeteilt,
die Beleuchtung so kunstreich, daß man fürwahr in einer andern Welt zu
sein glaubte, nur daß die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins
eine Art von ängstlicher Empfindung hervorbrachte.
Der Vorhang fiel und ward auf Verlangen mehr als einmal wieder
aufgezogen.
Ein musikalisches Zwischenspiel unterhielt die Gesellschaft, die man
durch ein Bild höherer Art überraschen wollte.
Es war die bekannte Vorstellung von Poussin: Ahasverus und Esther.
Diesmal hatte sich Luciane besser bedacht.
Sie entwickelte in der ohnmächtig hingesunkenen Königin alle ihre
Reize und hatte sich klugerweise zu den umgebenden, unterstützenden
Mädchen lauter hübsche, wohlgebildete Figuren ausgesucht, worunter
sich jedoch keine mit ihr auch nur im mindesten messen konnte.
Ottilie blieb von diesem Bilde wie von den übrigen ausgeschlossen.
Auf den goldnen Thron hatten sie, um den Zeus gleichen König
vorzustellen, den rüstigsten und schönsten Mann der Gesellschaft
gewählt, sodaß dieses Bild wirklich eine unvergleichliche
Vollkommenheit gewann.
Als drittes hatte man die sogenannte "väterliche Ermahnung" von
Terburg gewählt, und wer kennt nicht den herrlichen Kupferstich
unseres Wille von diesem Gemälde!
Einen Fuß über den andern geschlagen, sitzt ein edler, ritterlicher
Vater und scheint seiner vor ihm stehenden Tochter ins Gewissen zu
reden.
Diese, eine herrliche Gestalt im faltenreichen, weißen Atlaskleide,
wird zwar nur von hinten gesehen, aber ihr ganzes Wesen scheint
anzudeuten, daß sie sich zusammennimmt.
Daß jedoch die Ermahnung nicht heftig und beschämend sei, sieht man
aus der Miene und Gebärde des Vaters; und was die Mutter betrifft, so
scheint diese eine kleine Verlegenheit zu verbergen, indem sie in ein
Glas Wein blickt, das sie eben auszuschlürfen im Begriff ist.
bei dieser Gelegenheit nun sollte Luciane in ihrem höchsten Glanze
erscheinen.
Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren über alle
Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen
antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird,
höchst zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem älteren
Kostüm äußerst vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die
reichen Falten des weißen Atlasses mit der künstlichsten Natur zu
legen, sodaß ganz ohne Frage diese lebendige Nachbildung weit über
jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzücken
erregte.
Man konnte mit dem Wiederverlangen nicht endigen, und der ganz
natürliche Wunsch, einem so schönen Wesen, das man genugsam von der
Rückseite gesehen, auch ins Angesicht zu schauen, nahm dergestalt
überhand, daß ein lustiger, ungeduldiger Vogel die Worte, die man
manchmal an das Ende einer Seite zu schreiben pflegt: "tournez s'il
vous plait", laut ausrief und eine allgemeine Beistimmung erregte.
Die Darstellenden aber kannten ihren Vorteil zu gut und hatten den
Sinn dieser Kunststücke zu wohl gefaßt, als daß sie dem allgemeinen
Ruf hätten nachgeben sollen.
Die beschämt scheinende Tochter blieb ruhig stehen, ohne den
Zuschauern den Ausdruck ihres Angesichts zu gönnen; der Vater blieb in
seiner ermahnenden Stellung sitzen, und die Mutter brachte Nase und
Augen nicht aus dem durchsichtigen Glase, worin sich, ob sie gleich zu
trinken schien, der Wein nicht verminderte.—Was sollen wir noch viel
von kleinen Nachstücken sagen, wozu man niederländische Wirtshaus—und
Jahrmarktsszenen gewählt hatte!
Der Graf und die Baronesse reisten ab und versprachen, in den ersten
glücklichen Wochen ihrer nahen Verbindung wiederzukehren, und
Charlotte hoffte nunmehr, nach zwei mühsam überstandenen Monaten, die
übrige Gesellschaft gleichfalls loszuwerden.
Sie war des Glücks ihrer Tochter gewiß, wenn bei dieser der erste
Braut—und Jugendtaumel sich würde gelegt haben; denn der Bräutigam
hielt sich für den glücklichsten Menschen von der Welt.
Bei großem Vermögen und gemäßigter Sinnesart schien er auf eine
wunderbare Weise von dem Vorzuge geschmeichelt, ein Frauenzimmer zu
besitzen, das der ganzen Welt gefallen mußte.
Er hatte einen so ganz eigenen Sinn, alles auf sie und erst durch sie
auf sich zu beziehen, daß es ihm eine unangenehme Empfindung machte,
wenn sich nicht gleich ein Neuankommender mit aller Aufmerksamkeit auf
sie richtete und mit ihm, wie es wegen seiner guten Eigenschaften
besonders von älteren Personen oft geschah, eine nähere Verbindung
suchte, ohne sich sonderlich um sie zu kümmern.
Wegen des Architekten kam es bald zur Richtigkeit.
Aufs Neujahr sollte ihm dieser folgen und das Karneval mit ihm in der
Stadt zubringen, wo Luciane sich von der Wiederholung der so schön
eingerichteten Gemälde sowie von hundert andern Dingen die größte
Glückseligkeit versprach, um so mehr, als Tante und Bräutigam jeden
Aufwand für gering zu achten schienen, der zu ihrem Vergnügen
erfordert wurde.
Nun sollte man scheiden, aber das konnte nicht auf eine gewöhnliche
Weise geschehen.
Man scherzte einmal ziemlich laut, daß Charlottens Wintervorräte nun
bald aufgezehrt seien, als der Ehrenmann, der den Belisar vorgestellt
hatte und freilich reich genug war, von Lucianens Vorzügen hingerissen,
denen er nun schon so lange huldigte, unbedachtsam ausrief: "so
lassen Sie es uns auf politische Art halten!
Kommen Sie nun und zehren mich auch auf!
Und so geht es dann weiter in der Runde herum".
Gesagt, getan: Luciane schlug ein.
Den andern Tag war gepackt, und der Schwarm warf sich auf ein anderes
Besitztum.
Dort hatte man auch Raum genug, aber weniger Bequemlichkeit und
Einrichtung.
Daraus entstand manches Unschickliche, das erst Lucianen recht
glücklich machte.
Das Leben wurde immer wüster und wilder.
Treibjagen im tiefsten Schnee, und was man sonst nur Unbequemes
auffinden konnte, wurde veranstaltet.
Frauen so wenig als Männer durften sich ausschließen, und so zog man
jagend und reitend, schlittenfahrend und lärmend von einem Gute zum
andern, bis man sich endlich der Residenz näherte; da denn die
Nachrichten und Erzählungen, wie man sich bei Hofe und in der Stadt
vergnüge, der Einbildungskraft eine andere Wendung gaben und Lucianen
mit ihrer sämtlichen Begleitung, indem die Tante schon vorausgegangen
war, unaufhaltsam in einen andern Lebenskreis hineinzogen.
Man nimmt in der Welt jeden, wofür er sich gibt; aber er muß sich auch
für etwas geben.
Man erträgt die Unbequemen lieber, als man die Unbedeutenden duldet.
Man kann der Gesellschaft alles aufdringen, nur nicht, was eine Folge
hat.
Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir
müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.
Ich finde es beinahe natürlich, daß wir an Besuchenden mancherlei
auszusetzen haben, daß wir sogleich, wenn sie weg sind, über sie nicht
zum liebevollsten urteilen; denn wir haben sozusagen ein Recht, sie
nach unserm Maßstabe zu messen.
Selbst verständige und billige Menschen enthalten sich in solchen
Fällen kaum einer scharfen Zensur.
Wenn man dagegen bei andern gewesen ist und hat sie mit ihren
Umgebungen, Gewohnheiten, in ihren notwendigen, unausweichlichen
Zuständen gesehen, wie sie um sich wirken oder wie sie sich fügen, so
gehört schon Unverstand und böser Wille dazu, um das lächerlich zu
finden, was uns in mehr als einem Sinne ehrwürdig scheinen müßte.
Durch das, was wir Betragen und gute Sitten mennen, soll das erreicht
werden, was außerdem nur durch Gewalt oder auch nicht einmal durch
Gewalt zu erreichen ist.
Der Umgang mit Frauen ist das Element guter Sitten.
Wie kann der Charakter, die Eigentümlichkeit des Menschen, mit der
Lebensart bestehen?
Das Eigentümliche müßte durch die Lebensart erst recht hervorgehoben
werden.
Das Bedeutende will jedermann, nur soll es nicht unbequem sein.
Die größten Vorteile im Leben überhaupt wie in der Gesellschaft hat
ein gebildeter Soldat.
Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem Charakter, und weil
doch meist hinter der Stärke eine Gutmütigkeit verborgen liegt, so ist
im Notfall auch mit ihnen auszukommen.
Niemand ist lästiger als ein täppischer Mensch vom Zivilstande.
Von ihm könnte man die Feinheit fordern, da er sich mit nichts Rohem
zu beschäftigen hat.
Wenn wir mit Menschen leben, die ein zartes Gefühl für das Schickliche
haben, so wird es uns angst um ihretwillen, wenn etwas Ungeschicktes
begegnet.
So fühle ich immer für und mit Charlotten, wenn jemand mit dem Stuhle
schaukelt, weil sie das in den Tod nicht leiden kann.
Es käme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches
Gemach, wenn er wüßte, daß uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn
anzusehen und uns mit ihm zu unterhalten.
Zutraulichkeit an der Stelle der Ehrfurcht ist immer lächerlich.
Es würde niemand den Hut ablegen, nachdem er kaum das Kompliment
gemacht hat, wenn er wüßte, wie komisch das aussieht.
Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen
sittlichen Grund hätte.
Die rechte Erziehung wäre, welche dieses Zeichen und den Grund
zugleich überlieferte.
Das Betragen ist ein Spiegel, in welchem jeder sein Bild zeigt.
Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt.
Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens.
Freiwillige Abhänglichkeit ist der schönste Zustand, und wie wäre der
möglich ohne Liebe.
Wir sind nie entfernter von unsern Wünschen, als wenn wir uns
einbilden, das Gewünschte zu besitzen.
Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.
Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich den
Augenblick als bedingt.
Wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich frei.
Gegen große Vorzüge eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die
Liebe.
Es ist was Schreckliches um einen vorzüglichen Mann, auf den sich die
Dummen was zugute tun.
Es gibt, sagt man, für den Kammerdiener keinen Helden.
Das kommt aber bloß daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt
werden kann.
Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seinesgleichen zu schätzen
wissen.
Es gibt keinen größern Trost für die Mittelmäßigkeit, als daß das
Genie nicht unsterblich sei.
Die größten Menschen hängen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine
Schwachheit zusammen.
Man hält die Menschen gewöhnlich für gefährlicher, als sie sind.
Toren und gescheite Leute sind gleich unschädlich.
Nur die Halbnarren und Halbweisen, das sind die Gefährlichsten.
Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man
verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.
Selbst im Augenblick des höchsten Glücks und der höchsten Not bedürfen
wir des Künstlers.
Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren und Guten.
Das Schwierige leicht behandelt zu sehen, gibt uns das Anschauen des
Unmöglichen.
Die Schwierigkeiten wachsen, je näher man dem Ziele kommt.
Säen ist nicht so beschwerlich als ernten.
Die große Unruhe, welche Charlotten durch diesen Besuch erwuchs, ward
ihr dadurch vergütet, daß sie ihre Tochter völlig begreifen lernte,
worin ihr die Bekanntschaft mit der Welt sehr zu Hülfe kam.
Es war nicht zum erstenmal, daß ihr ein so seltsamer Charakter
begegnete, ob er ihr gleich noch niemals auf dieser Höhe erschien.
Und doch hatte sie aus der Erfahrung, daß solche Personen, durchs
Leben, durch mancherlei Ereignisse, durch elterliche Verhältnisse
gebildet, eine sehr angenehme und liebenswürdige Reife erlangen können,
indem die Selbstigkeit gemildert wird und die schwärmende Tätigkeit
eine entschiedene Richtung erhält.
Charlotte ließ als Mutter sich um desto eher eine für andere
vielleicht unangenehme Erscheinung gefallen, als es Eltern wohl
geziemt, da zu hoffen, wo Fremde nur zu genießen wünschen oder
wenigstens nicht belästigt sein wollen.
Auf eine eigne und unerwartete Weise jedoch sollte Charlotte nach
ihrer Tochter Abreise getroffen werden, indem diese nicht sowohl durch
das Tadelnswerte in ihrem Betragen als durch das, was man daran
lobenswürdig hätte finden können, eine üble Nachrede hinter sich
gelassen hatte.
Luciane schien sichs zum Gesetz gemacht zu haben, nicht allein mit den
Fröhlichen fröhlich, sondern auch mit den Traurigen traurig zu sein
und, um den Geist des Widerspruchs recht zu üben, manchmal die
Fröhlichen verdrießlich und die Traurigen heiter zu machen.
In allen Familien, wo sie hinkam, erkundigte sie sich nach den Kranken
und Schwachen, die nicht in Gesellschaft erscheinen konnten.
Sie besuchte sie auf ihren Zimmern, machte den Arzt und drang einem
jeden aus ihrer Reiseapotheke, die sie beständig im Wagen mit sich
führte, energische Mittel auf; da denn eine solche Kur, wie sich
vermuten läßt, gelang oder mißlang, wie es der Zufall herbeiführte.
In dieser Art von Wohltätigkeit war sie ganz grausam und ließ sich gar
nicht einreden, weil sie fest überzeugt war, daß sie vortrefflich
handle.
Allein es mißriet ihr auch ein Versuch von der sittlichen Seite, und
dieser war es, der Charlotten viel zu schaffen machte, weil er Folgen
hatte und jedermann darüber sprach.
Erst nach Lucianens Abreise hörte sie davon; Ottilie, die gerade jene
Partie mitgemacht hatte, mußte ihr umständlich davon Rechenschaft
geben.
Eine der Töchter eines angesehenen Hauses hatte das Unglück gehabt, an
dem Tode eines ihrer jüngeren Geschwister schuld zu sein, und sich
darüber nicht beruhigen noch wiederfinden können.
Sie lebte auf ihrem Zimmer beschäftigt und still und ertrug selbst den
Anblick der Ihrigen nur, wenn sie einzeln kamen; denn sie argwohnte
sogleich, wenn mehrere beisammen waren, daß man untereinander über sie
und ihren Zustand reflektiere.
Gegen jedes allein äußerte sie sich vernünftig und unterhielt sich
stundenlang mit ihm.
Luciane hatte davon gehört und sich sogleich im stillen vorgenommen,
wenn sie in das Haus käme, gleichsam ein Wunder zu tun und das
Frauenzimmer der Gesellschaft wiederzugeben.
Sie betrug sich dabei vorsichtiger als sonst, wußte sich allein bei
der Seelenkranken einzuführen und, soviel man merken konnte, durch
Musik ihr Vertrauen zu gewinnen.
Nur zuletzt versah sie es; denn eben weil sie Aufsehn erregen wollte,
so brachte sie das schöne, blasse Kind, das sie genug vorbereitet
wähnte, eines Abends plötzlich in die bunte, glänzende Gesellschaft;
und vielleicht wäre auch das noch gelungen, wenn nicht die Sozietät
selbst aus Neugierde und Apprehension sich ungeschickt benommen, sich
um die Kranke versammelt, sie wieder gemieden, sie durch Flüstern,
Köpfezusammenstecken irregemacht und aufgeregt hätte.
Die zart Empfindende ertrug das nicht.
Sie entwich unter fürchterlichem Schreien, das gleichsam ein Entsetzen
vor einem eindringenden Umgeheuren auszudrücken schien.
Erschreckt fuhr die Gesellschaft nach allen Seiten auseinander, und
Ottilie war unter denen, welche die völlig Ohnmächtige wieder auf ihr
Zimmer begleiteten.
Indessen hatte Luciane eine starke Strafrede nach ihrer Weise an die
Gesellschaft gehalten, ohne im mindesten daran zu denken, daß sie
allein alle Schuld habe, und ohne sich durch dieses und andres
Mißlingen von ihrem Tun und Treiben abhalten zu lassen.
Der Zustand der Kranken war seit jener Zeit bedenklicher geworden, ja
das übel hatte sich so gesteigert, daß die Eltern das arme Kind nicht
im Hause behalten konnten, sondern einer öffentlichen Anstalt
überantworten mußten.
Charlotten blieb nichts übrig, als durch ein besonder zartes Benehmen
gegen jene Familie den von ihrer Tochter verursachten Schmerz
einigermaßen zu lindern.
Auf Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck gemacht; sie
bedauerte das arme Mädchen um so mehr, als sie überzeugt war, wie sie
auch gegen Charlotten nicht leugnete, daß bei einer konsequenten
Behandlung die Kranke gewiß herzustellen gewesen wäre.
So kam auch, weil man sich gewöhnlich vom vergangenen Unangenehmen
mehr als vom Angenehmen unterhält, ein kleines Mißverständnis zur
Sprache, das Ottilien an dem Architekten irregemacht hatte, als er
jenen Abend seine Sammlung nicht vorzeigen wollte, ob sie ihn gleich
so freundlich darum ersuchte.
Es war ihr dieses abschlägige Betragen immer in der Seele geblieben,
und sie wußte selbst nicht warum.
Ihre Empfindungen waren sehr richtig; denn was ein Mädchen wie Ottilie
verlangen kann, sollte ein Jüngling wie der Architekt nicht versagen.
Dieser brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leisen Vorwürfe ziemlich
gültige Entschuldigungen zur Sprache.
"Wenn Sie wüßten", sagte er, "wie roh selbst gebildete Menschen sich
gegen die schätzbarsten Kunstwerke verhalten, Sie würden mir verzeihen,
wenn ich die meinigen nicht unter die Menge bringen mag.
Niemand weiß eine Medaille am Rand anzufassen; sie betasten das
schönste Gepräge, den reinsten Grund, lassen die köstlichsten Stücke
zwischen dem Daumen und Zeigefinger hin und her gehen, als wenn man
Kunstformen auf diese Weise prüfte.
Ohne daran zu denken, daß man ein großes Blatt mit zwei Händen
anfassen müsse, greifen sie mit einer Hand nach einem unschätzbaren
Kupferstich, einer unersetzlichen Zeichnung, wie ein anmaßlicher
Politiker eine Zeitung faßt und durch das Zerknittern des Papiers
schon im voraus sein Urteil über die Weltbegebenheiten zu erkennen
gibt.
Niemand denkt daran, daß, wenn nur zwanzig Menschen mit einem
Kunstwerke hintereinander ebenso verführen, der einundzwanzigste nicht
mehr viel daran zu sehen hätte".
"Habe ich Sie nicht auch manchmal", fragte Ottilie, "in solche
Verlegenheit gesetzt?
Habe ich nicht etwan Ihre Schätze, ohne es zu ahnen, gelegentlich
einmal beschädigt?" "Niemals", versetzte der Architekt, "niemals!
Ihnen wäre es unmöglich; das Schickliche ist mit Ihnen geboren".
"Auf alle Fälle", versetzte Ottilie, "wäre es nicht übel, wenn man
künftig in das Büchlein von guten Sitten nach den Kapiteln, wie man
sich in Gesellschaft beim Essen und Trinken benehmen soll, ein recht
umständliches einschöbe, wie man sich in Kunstsammlungen und Museen zu
betragen habe".
"Gewiß", versetzte der Architekt, "würden alsdann Kustoden und
Liebhaber ihre Seltenheiten fröhlicher mitteilen".
Ottilie hatte ihm schon lange verziehen; als er sich aber den Vorwurf
sehr zu Herzen zu nehmen schien und immer aufs neue beteuerte, daß er
gewiß gerne mitteile, gern für Freunde tätig sei, so empfand sie, daß
sie sein zartes Gemüt verletzt habe, und fühlte sich als seine
Schuldnerin.
Nicht wohl konnte sie ihm daher eine Bitte rund abschlagen, die er in
Gefolg dieses Gesprächs an sie tat, ob sie gleich, indem sie schnell
ihr Gefühl zu Rate zog, nicht einsah, wie sie ihm seine Wünsche
gewähren könne.
Die Sache verhielt sich also.
Daß Ottilie durch Lucianens Eifersucht von den Gemäldedarstellungen
ausgeschlossen worden, war ihm höchst empfindlich gewesen; daß
Charlotte diesem glänzenden Teil der geselligen Unterhaltung nur
unterbrochen beiwohnen können, weil sie sich nicht wohl befand, hatte
er gleichfalls mit Bedauern bemerkt.
Nun wollte er sich nicht entfernen, ohne seine Dankbarkeit auch
dadurch zu beweisen, daß er zur Ehre der einen und zur Unterhaltung
der andern eine weit schönere Darstellung veranstaltete, als die
bisherigen gewesen waren.
Vielleicht kam hierzu, ihm selbst unbewußt, ein andrer geheimer
Antrieb: es ward ihm so schwer, dieses Haus, diese Familie zu
verlassen, ja es schien ihm unmöglich, von Ottiliens Augen zu scheiden,
von deren ruhig freundlich gewogenen Blicken er die letzte Zeit fast
ganz allein gelebt hatte.
Die Weihnachtsfeiertage nahten sich, und es wurde ihm auf einmal klar,
daß eigentlich jene Gemäldedarstellungen durch runde Figuren von dem
sogenannten Präsepe ausgegangen, von der frommen Vorstellung, die man
in dieser heiligen Zeit der göttlichen Mutter und dem Kinde widmete,
wie sie in ihrer scheinbaren Niedrigkeit erst von Hirten, bald darauf
von Königen verehrt werden.
Er hatte sich die Möglichkeit eines solchen Bildes vollkommen
vergegenwärtigt.
Ein schöner, frischer Knabe war gefunden; an Hirten und Hirtinnen
konnte es auch nicht fehlen; aber ohne Ottilien war die Sache nicht
auszuführen.
Der junge Mann hatte sie in seinem Sinne zur Mutter Gottes erhoben,
und wenn sie es abschlug, so war bei ihm keine Frage, daß das
Unternehmen fallen müsse.
Ottilie, halb verlegen über seinen Antrag, wies ihn mit seiner Bitte
an Charlotten.
Diese erteilte ihm gern die Erlaubnis, und auch durch sie ward die
Scheu Ottiliens, sich jener heiligen Gestalt anzumaßen, auf eine
freundliche Weise überwunden.
Der Architekt arbeitete Tag und Nacht, damit am Weihnachtsabend nichts
fehlen möge.
Und zwar Tag und Nacht im eigentlichen Sinne.
Er hatte ohnehin wenig Bedürfnisse, und Ottiliens Gegenwart schien ihm
statt alles Labsals zu sein; indem er um ihretwillen arbeitete, war es,
als wenn er keines Schlafs, indem er sich um sie beschäftigte, keiner
Speise bedürfte.
Zur feierlichen Abendstunde war deshalb alles fertig und bereit.
Es war ihm möglich gewesen, wohltönende Blasinstrumente zu versammeln,
welche die Einleitung machten und die gewünschte Stimmung
hervorzubringen wußten.
Als der Vorhang sich hob, war Charlotte wirklich überrascht. Das Bild,
das sich ihr vorstellte, war so oft in der Welt wiederholt, daß man
kaum einen neuen Eindruck davon erwarten sollte.
Aber hier hatte die Wirklichkeit als Bild ihre besonderen Vorzüge.
Der ganze Raum war eher nächtlich als dämmernd und doch nichts
undeutlich im Einzelnen der Umgebung.
Den unübertrefflichen Gedanken, daß alles Licht vom Kinde ausgeht,
hatte der Künstler durch einen klugen Mechanismus der Beleuchtung
auszuführen gewußt, der durch die beschatteten, nur von Streiflichtern
erleuchteten Figuren im Vordergrunde zugedeckt wurde.
Frohe Mädchen und Knaben standen umher, die frischen Gesichter scharf
von unten beleuchtet.
Auch an Engeln fehlte es nicht, deren eigener Schein von dem
göttlichen verdunkelt, deren ätherischer Leib vor dem
göttlich-menschlichen verdichtet und lichtsbedürftig schien.
Glücklicherweise war das Kind in der anmutigsten Stellung
eingeschlafen, sodaß nichts die Betrachtung störte, wenn der Blick auf
der scheinbaren Mutter verweilte, die mit unendlicher Anmut einen
Schleier aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz zu offenbaren.
In diesem Augenblick schien das Bild festgehalten und erstarrt zu sein.
Physisch geblendet, geistig überrascht, schien das umgebende Volk sich
eben bewegt zu haben, um die getroffenen Augen wegzuwenden, neugierig
erfreut wieder hinzublinzen und mehr Verwunderung und Lust als
Bewunderung und Verehrung anzuzeigen, obgleich diese auch nicht
vergessen und einigen ältern Figuren der Ausdruck derselben übertragen
war.
Ottiliens Gestalt, Gebärde, Miene, Blick übertraf aber alles, was je
ein Maler dargestellt hat.
Der gefühlvolle Kenner, der diese Erscheinung gesehen hätte, wäre in
Furcht geraten, es möge sich nur irgend etwas bewegen; er wäre in
Sorge gestanden, ob ihm jemals etwas wieder so gefallen könne.
Unglücklicherweise war niemand da, der diese ganze Wirkung aufzufassen
vermocht hätte.
Der Architekt allein, der als langer, schlanker Hirt von der Seite
über die Knieenden hereinsah, hatte, obgleich nicht in dem genauesten
Standpunkt, noch den größten Genuß.
Und wer beschreibt auch die Miene der neugeschaffenen Himmelskönigin?
Die reinste Demut, das liebenswürdigste Gefühl von Bescheindenheit bei
einer großen, unverdient erhaltenden Ehre, einem unbegreiflich
unermeßlichen Glück bildete sich in ihren Zügen, sowohl indem sich
ihre eigene Empfindung, als indem sich die Vorstellung ausdrückte, die
sie sich von dem machen konnte, was sie spielte.
Charlotten erfreute das schöne Gebilde, doch wirkte hauptsächlich das
Kind auf sie.
Ihre Augen strömten von Tränen, und sie stellte sich auf das
lebhafteste vor, daß sie ein ähnliches liebes Geschöpf bald auf ihrem
Schoße zu hoffen habe.
Man hatte den Vorhang niedergelassen, teils um den Vorstellenden
einige Erleichterung zu geben, teils eine Veränderung in dem
Dargestellten anzubringen.
Der Künstler hatte sich vorgenommen, das erste Nacht—und
Niedrigkeitsbild in ein Tag—und Glorienbild zu verwandeln, und
deswegen von allen Seiten eine unmäßige Erleuchtung vorbereitet, die
in der Zwischenzeit angezündet wurde.
Ottilien war in ihrer halb theatralischen Lage bisher die größte
Beruhigung gewesen, daß außer Charlotten und wenigen Hausgenossen
niemand dieser frommen Kunstmummerei zugesehen.
Sie wurde daher einigermaßen betroffen, als sie in der Zwischenzeit
vernahm, es sei ein Fremder angekommen, im Saale von Charlotten
freundlich begrüßt.
Wer es war, konnte man ihr nicht sagen.
Sie ergab sich darein, um keine Störung zu verursachen.
Lichter und Lampen brannten, und eine ganz unendliche Hellung umgab
sie.
Der Vorhang ging auf, für die Zuschauenden ein überraschender Anblick:
das ganze Bild war alles Licht, und statt des völlig aufgehobenen
Schattens blieben nur die Farben übrig, die bei der klugen Auswahl
eine liebliche Mäßigung hervorbrachten.
Unter ihren langen Augenwimmpern hervorblickend, bemerkte Ottilie eine
Mannsperson neben Charlotten sitzend.
Sie erkannte ihn nicht, aber sie glaubte die Stimme des Gehülfen aus
der Pension zu hören.
Eine wunderbare Empfindung ergriff sie.
Wie vieles war begegnet, seitdem sie die Stimme dieses treuen Lehrers
nicht vernommen!
Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Leiden schnell
vor ihrer Seele vorbei und regte die Frage auf: 'darfst du ihm alles
bekennen und gestehen?
Und wie wenig wert bist du, unter dieser heiligen Gestalt vor ihm zu
erscheinen, und wie seltsam muß es ihm vorkommen, dich, die er nur
natürlich gesehen, als Maske zu erblicken?'
Mit einer Schnelligkeit, die keinesgleichen hat, wirkten Gefühl und
Betrachtung in ihr gegeneinander.
Ihr Herz war befangen, ihre Augen füllten sich mit Tränen, indem sie
sich zwang, immerfort als ein starres Bild zu erscheinen; und wie froh
war sie, als der Knabe sich zu regen anfing und der Künstler sich
genötiget sah, das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wieder fallen
sollte!
Hatte das peinliche Gefühl, einem werten Freunde nicht entgegeneilen
zu können, sich schon die letzten Augenblicke zu den übrigen
Empfindungen Ottiliens gesellt, so war sie jetzt in noch größerer
Verlegenheit.
Sollte sie in diesem fremden Anzug und Schmuck ihm entgegengehn?
Sollte sie sich umkleiden?
Sie wählte nicht, sie tat das letzte und suchte sich in der
Zwischenzeit zusammenzunehmen, sich zu beruhigen, und war nur erst
wieder mit sich selbst in Einstimmung, als sie endlich im gewohnten
Kleide den Angekommenen begrüßte.
Insofern der Architekt seinen Gönnerinnen das Beste wünschte, war es
ihm angenehm, da er doch endlich scheiden mußte, sie in der guten
Gesellschaft des schätzbaren Gehülfen zu wissen; indem er jedoch ihre
Gunst auf sich selbst bezog, empfand er es einigermaßen schmerzhaft,
sich so bald und, wie es seiner Bescheidenheit dünken mochte, so gut,
ja vollkommen ersetzt zu sehen.
Er hatte noch immer gezaudert, nun aber drängte es ihn hinweg; denn
was er wollte sich nach seiner Entfernung mußte gefallen lassen, das
wollte er wenigstens gegenwärtig nicht erleben.
Zu großer Erheiterung dieser halb traurigen Gefühle machten ihm die
Damen beim Abschiede noch ein Geschenk mit einer Weste, an der er sie
beide lange Zeit hatte stricken sehen, mit einem stillen Neid über den
unbekannten Glücklichen, dem sie dereinst werden könnte.
Eine solcher Gabe ist die angenehmste, die ein liebender, verehrender
Mann erhalten mag; denn wenn er dabei des unermüdeten Spiels der
schönen Finger gedenkt, so kann er nicht umhin, sich zu schmeicheln,
das Herz werde bei einer so anhaltenden Arbeit doch auch nicht ganz
ohne Teilnahme geblieben sein.
Die Frauen hatten nun einen neuen Mann zu bewirrten, dem sie
wohlwollten und dem es bei ihnen wohl werden sollte.
Das weibliche Geschlecht hegt ein eignes, inneres, unwandelbares
Interesse, von dem sie nichts in der Welt abtrünnig macht; im äußern,
geselligen Verhältnis hingegen lassen sie sich gern und leicht durch
den Mann bestimmen, der sie eben beschäftigt; und so durch Abweisen
wie durch Empfänglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit führen
sie eigentlich das Regiment, dem sich in der gesitteten Welt kein Mann
zu entziehen wagt.
Hatte der Architekt, gleichsam nach eigener Lust und Belieben, seine
Talente vor den Freundinnen zum Vergnügen und zu den Zwecken derselben
geübt und bewiesen, war Beschäftigung und Unterhaltung in diesem Sinne
und nach solchen Absichten eingerichtet, so machte sich in kurzer Zeit
durch die Gegenwart des Gehülfen eine andere Lebensweise.
Seine große Gabe war, gut zu sprechen und menschliche Verhältnisse,
besonders in bezug auf Bildung der Jugend, in der Unterredung zu
behandeln.
Und so entstand gegen die bisherige Art zu leben ein ziemlich
fühlbarer Gegensatz, um so mehr, als der Gehülfe nicht ganz dasjenige
billigte, womit man sich die Zeit über ausschließlich beschäftigt
hatte.
Von dem lebendigen Gemälde, das ihn bei seiner Ankunft empfing, sprach
er gar nicht.
Als man ihm hingegen Kirche, Kapelle und was sich darauf bezog, mit
Zufriedenheit sehen ließ, konnte er seine Meinung, seine Gesinnungen
darüber nicht zurückhalten.
"Was mich betrifft", sagte er, "so will mir diese Annäherung, diese
Vermischung des Heiligen zu und mit dem Sinnlichen keineswegs gefallen,
nicht gefallen, daß man sich gewisse besondere Räume widmet, weihet
und aufschmückt, um erst dabei ein Gefühl der Frömmigkeit zu hegen und
zu unterhalten.
Keine Umgebung, selbst die gemeinste nicht, soll in uns das Gefühl des
Göttlichen stören, das uns überallhin begleiten und jede Stätte zu
einem Tempel einweihen kann.
Ich mag gern einen Hausgottesdienst in dem Saale gehalten sehen, wo
man zu speisen, sich gesellig zu versammeln, mit Spiel und Tanz zu
ergötzen pflegt.
Das Höchste, das Vorzüglichste am Menschen ist gestaltlos, und man
soll sich hüten, es anders als in edler Tat zu gestalten".
Charlotte, die seine Gesinnungen schon im ganzen kannte und sie noch
mehr in kurzer Zeit erforschte, brachte ihn gleich in seinem Fache zur
Tätigkeit, indem sie ihre Gartenknaben, welche der Architekt vor
seiner Abreise eben gemustert hatte, in dem großen Saal aufmarschieren
ließ, da sie sich denn in ihren heitern, reinlichen Uniformen, mit
gesetzlichen Bewegungen und einem natürlichen, lebhaften Wesen sehr
gut ausnahmen.
Der Gehülfe prüfte sie nach seiner Weise und hatte durch mancherlei
Fragen und Wendungen gar bald die Gemütsarten und Fähigkeiten der
Kinder zutage gebracht und, ohne daß es so schien, in Zeit von weniger
als einer Stunde sie wirklich bedeutend unterrichtet und gefördert.
"Wie machen Sie das nur?" sagte Charlotte, indem die Knaben wegzogen.
"Ich habe sehr aufmerksam zugehört; es sind nichts als ganz bekannte
Dinge vorgekommen, und doch wüßte ich nicht, wie ich es anfangen
sollte, sie in so kurzer Zeit, bei so vielem Hin—und Widerreden, in
solcher Folge zur Sprache zu bringen".
"Vielleicht sollte man", versetzte der Gehülfe, "aus den Vorteilen
seines Handwerks ein Geheimnis machen.
Doch kann ich Ihnen die ganz einfache Maxime nicht verbergen, nach der
man dieses und noch viel mehr zu leisten vermag.
Fassen Sie einen Gegenstand, eine Materie, einen Begriff, wie man es
nennen will; halten Sie ihn recht fest; machen Sie sich ihn in allen
seinen Teilen recht deutlich, und dann wird es Ihnen leicht sein,
gesprächsweise an einer Masse Kinder zu erfahren, was sich davon schon
in ihnen entwickelt hat, was noch anzuregen, zu überliefern ist.
Die Antworten auf Ihre Fragen mögen noch so ungehörig sein, mögen noch
so sehr ins Weite gehen, wenn nur sodann Ihre Gegenfrage Geist und
Sinn wieder hereinwärts zieht, wenn Sie sich nicht von Ihrem
Standpunkte verrücken lassen, so müssen die Kinder zuletzt denken,
begreifen, sich überzeugen, nur von dem, was und wie es der Lehrende
will.
Sein größter Fehler ist der, wenn er sich von den Lernenden mit in die
Weite reißen läßt, wenn er sie nicht auf dem Punkte festzuhalten weiß,
den er eben jetzt behandelt.
Machen Sie nächstens einen Versuch, und es wird zu Ihrer großen
Unterhaltung dienen".
"Das ist artig", sagte Charlotte; "die gute Pädagogik ist also gerade
das Umgekehrte von der guten Lebensart.
In der Gesellschaft soll man auf nichts verweilen, und bei dem
Unterricht wäre das höchste Gebot, gegen alle Zerstreuung zu arbeiten".
"Abwechselung ohne Zerstreuung wäre für Lehre und Leben der schönste
Wahlspruch, wenn dieses löbliche Gleichgewicht nur so leicht zu
erhalten wäre!" sagte der Gehülfe und wollte weiter fortfahren, als
ihn Charlotte aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten, deren
munterer Zug sich soeben über den Hof bewegte.
Er bezeigte seine Zufriedenheit, daß man die Kinder in Uniform zu
gehen anhalte.
"Männer", so sagte er, "sollten von Jugend auf Uniform tragen, weil
sie sich gewöhnen müssen, zusammen zu handeln, sich unter
ihresgleichen zu verlieren, in Masse zu gehorchen und ins Ganze zu
arbeiten.
Auch befördert jede Art von Uniform einen militärischen Sinn sowie ein
knapperes, strackeres Betragen, und alle Knaben sind ja ohnehin
geborne Soldaten; man sehe nur ihre Kampf—und Streitspiele, ihr
Erstürmen und Erklettern".
"So werden Sie mich dagegen nicht tadeln", versetzte Ottilie, "daß ich
meine Mädchen nicht überein kleide.
Wenn ich sie Ihnen vorführe, hoffe ich Sie durch ein buntes Gemisch
zu ergötzen".
"Ich billige das sehr", versetzte jener.
"Frauen sollten durchaus mannigfaltig gekleidet gehen, jede nach
eigner Art und Weise, damit eine jede fühlen lernte, was ihr
eigentlich gut stehe und wohl zieme.
Eine wichtigere Ursache ist noch die, weil sie bestimmt sind, ihr
ganzes Leben allein zu stehen und allein zu handeln".
"Das scheint mir sehr paradox", versetzte Charlotte; "sind wir doch
fast niemals für uns".
"O ja!" versetzte der Gehülfe, "in Absicht auf andere Frauen ganz
gewiß.
Man betrachte ein Frauenzimmer als Liebende, als Braut, als Frau,
Hausfrau und Mutter, immer steht sie isoliert, immer ist sie allein
und will allein sein.
Ja die Eitle selbst ist in dem Falle.
Jede Frau schließt die andre aus, ihrer Natur nach; denn von jeder
wird alles gefordert, was dem ganzen Geschlechte zu leisten obliegt.
Nicht so verhält es sich mit den Männern.
Der Mann verlangt den Mann; er würde sich einen zweiten erschaffen,
wenn es keinen gäbe; eine Frau könnte eine Ewigkeit leben, ohne daran
zu denken, sich ihresgleichen hervorzubringen".
"Man darf", sagte Charlotte, "das Wahre nur wunderlich sagen, so
scheint zuletzt das Wunderliche auch wahr.
Wir wollen uns aus ihren Bemerkungen das Beste herausnehmen und doch
als Frauen mit Frauen zusammenhalten und auch gemeinsam wirken, um den
Männern nicht allzu große Vorzüge über uns einzuräumen.
Ja, Sie werden uns eine kleine Schadenfreude nicht übelnehmen, die wir
künftig um desto lebhafter empfinden müssen, wenn sich die Herren
untereinander auch nicht sonderlich vertragen".
Mit vieler Sorgfalt untersuchte der verständige Mann nunmehr die Art,
wie Ottilie ihre kleinen Zöglinge behandelte, und bezeigte darüber
seinen entschiedenen Beifall.
"Sehr richtig heben Sie", sagte er, "Ihre Untergebenen nur zur
nächsten Brauchbarkeit heran.
Reinlichkeit veranlaßt die Kinder, mit Frauen etwas auf sich selbst zu
halten, und alles ist gewonnen, wenn sie das, was sie tun, mit
Munterkeit und Selbstgefühl zu leisten angeregt sind".
übrigens fand er zu seiner großen Befriedigung nichts auf den Schein
und nach außen getan, sondern alles nach innen und für die
unerläßlichen Bedürfnisse.
"Mit wie wenig Worten", rief er aus, "ließe sich das ganze
Erziehungsgeschäft aussprechen, wenn jemand Ohren hätte zu hören!"
"Mögen Sie es nicht mit mir versuchen?" sagte freundlich Ottilie.
"Recht gern", versetzte jener; "nur müssen Sie mich nicht verraten.
Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zu Müttern, so wird
es überall wohlstehn".
"Zu Müttern", versetzte Ottilie, "das könnten die Frauen noch hingehen
lassen, da sie sich, ohne Mütter zu sein, doch immer einrichten müssen,
Wärterinnen zu werden; aber freilich zu Dienern würden sich unsre
jungen Männer viel zu gut halten, da man jedem leicht ansehen kann,
daß er sich zum Gebieten fähiger dünkt".
"Deswegen wollen wir es ihnen verschweigen", sagte der Gehülfe.
"Man schmeichelt sich ins Leben hinein, aber das Leben schmeichelt uns
nicht.
Wieviel Menschen mögen denn das freiwillig zugestehen, was sie am Ende
doch müssen?
Lassen wir aber diese Betrachtungen, die uns hier nicht berühren!
Ich preise Sie glücklich, daß Sie bei Ihren Zöglingen ein richtiges
Verfahren anwenden können.
Wenn Ihre kleinsten Mädchen sich mit Puppen herumtragen und einige
Läppchen für sie zusammenflicken, wenn ältere Geschwister alsdann für
die jüngern sorgen und das Haus sich in sich selbst bedient und
aufhilft, dann ist der weitere Schritt ins Leben nicht groß, und ein
solches Mädchen findet bei ihrem Gatten, was sie bei ihren Eltern
verließ. Aber in den gebildeten Ständen ist die Aufgabe sehr
verwickelt.
Wir haben auf höhere, zartere, feinere, besonders auf
gesellschaftliche Verhältnisse Rücksicht zu nehmen.
Wir andern sollen daher unsre Zöglinge nach außen bilden; es ist
notwendig, es ist unerläßlich und möchte recht gut sein, wenn man
dabei nicht das Maß überschritte; denn indem man die Kinder für einen
weiteren Kreis zu bilden gedenkt, treibt man sie leicht ins
Grenzenlose, ohne im Auge zu behalten, was denn eigentlich die innere
Natur fordert.
Hier liegt die Aufgabe, welche mehr oder weniger von den Erziehern
gelöst oder verfehlt wird.
Bei manchem, womit wir unsere Schülerinnen in der Pension ausstatten,
wird mir bange, weil die Erfahrung mir sagt, von wie geringem Gebrauch
es künftig sein werde.
Was wird nicht gleich abgestreift, was nicht gleich der Vergessenheit
überantwortet, sobald ein Frauenzimmer sich im Stande der Hausfrau,
der Mutter befindet!
Indessen kann ich mir den frommen Wunsch nicht versagen, da ich mich
einmal diesem Geschäft gewidmet habe, daß es mir dereinst in
Gesellschaft einer treuen Gehülfin gelingen möge, an meinen Zöglingen
dasjenige rein auszubilden, was sie bedürfen, wenn sie in das Feld
eigener Tätigkeit und Selbständigkeit hinüberschreiten; daß ich mir
sagen könnte: in diesem Sinne ist an ihnen die Erziehung vollendet.
Freilich schließt sich eine andere immer wieder an, die beinahe mit
jedem Jahre unsers Lebens, wo nicht von uns selbst, doch von den
Umständen veranlaßt wird".
Wie wahr fand Ottilie diese Bemerkung!
Was hatte nicht eine ungeahnte Leidenschaft im vergangenen Jahr an ihr
erzogen!
Was sah sie nicht alles für Prüfungen vor sich schweben, wenn sie nur
aufs Nächste, aufs Nächstkünftige hinblickte!
Der junge Mann hatte nicht ohne Vorbedacht einer Gehülfin, einer
Gattin erwähnt; denn bei aller seiner Bescheidenheit konnte er nicht
unterlassen, seine Absichten auf eine entfernte Weise anzudeuten; ja
er war durch mancherlei Umstände und Vorfälle aufgeregt worden, bei
diesem Besuch einige Schritte seinem Ziele näher zu tun.
Die Vorsteherin der Pension war bereits in Jahren; sie hatte sich
unter ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen schon lange nach einer
Person umgesehen, die eigentlich mit ihr in Gesellschaft träte, und
zuletzt dem Gehülfen, dem sie zu vertrauen höchlich Ursache hatte, den
Antrag getan, er solle mit ihr die Lehranstalt fortführen, darin als
in dem Seinigen mitwirken und nach ihrem Tode als Erbe und einziger
Besitzer eintreten.
Die Hauptsache schien hiebei, daß er eine einstimmende Gattin finden
müsse.
Er hatte im stillen Ottilien vor Augen und im Herzen; allein es regten
sich mancherlei Zweifel, die wieder durch günstige Ereignisse einiges
Gegengewicht erhielten.
Luciane hatte die Pension verlassen, Ottilie konnte freier
zurückkehren; von dem Verhältnisse zu Eduard hatte zwar etwas
verlautet, allein man nahm die Sache, wie ähnliche Vorfälle mehr,
gleichgültig auf, und selbst dieses Ereignis konnte zu Ottiliens
Rückkehr beitragen.
Doch wäre man zu keinem Entschluß gekommen, kein Schritt wäre
geschehen, hätte nicht ein unvermuteter Besuch auch hier eine
besondere Anregung gegeben, wie denn die Erscheinung von bedeutenden
Menschen in irgendeinem Kreise niemals ohne Folge bleiben kann.
Der Graf und die Baronesse, welche so oft in den Fall kamen, über den
Wert verschiedener Pensionen befragt zu werden, weil fast jedermann um
die Erziehung seiner Kinder verlegen ist, hatten sich vorgenommen,
diese besonders kennenzulernen, von der soviel Gutes gesagt wurde, und
konnten nunmehr in ihren neuen Verhältnissen zusammen eine solche
Untersuchung anstellen.
Allein die Baronesse beabsichtigte noch etwas anderes.
Während ihres letzten Aufenthalts bei Charlotten hatte sie mit dieser
alles umständlich durchgesprochen, was sich auf Eduarden und Ottilien
bezog.
Sie bestand aber—und abermals darauf: Ottilie müsse entfernt werden.
Sie suchte Charlotten hiezu Mut einzusprechen, welche sich vor Eduards
Drohungen noch immer fürchtete.
Man sprach über die verschiedenen Auswege, und bei Gelegenheit der
Pension war auch von der Neigung des Gehülfen die Rede, und die
Baronesse entschloß sich um so mehr zu dem gedachten Besuch.
Sie kommt an, lernt den Gehülfen kennen, man beobachtet die Anstalt
und spricht von Ottilien.
Der Graf selbst unterhält sich gern über sie, indem er sie bei dem
neulichen Besuch genauer kennengelernt.
Sie hatte sich ihm genähert, ja sie ward von ihm angezogen, weil sie
durch sein gehaltvolles Gespräch dasjenige zu sehen und zu kennen
glaubte, was ihr bisher ganz unbekannt geblieben war.
Und wie sie in dem Umgange mit Eduard die Welt vergaß, so schien ihr
in der Gegenwart des Grafen die Welt erst recht wünschenswert zu sein.
Jede Anziehung ist wechselseitig.
Der Graf empfand eine Neigung für Ottilien, daß er sie gern als seine
Tochter betrachtete.
Auch hier war sie der Baronesse zum zweitenmal und mehr als das
erstemal im Wege.
Wer weiß, was diese in Zeiten lebhafterer Leidenschaft gegen sie
angestiftet hätte!
Jetzt war es ihr genug, sie durch eine Verheiratung den Ehefrauen
unschädlicher zu machen.
Sie regte daher den Gehülfen auf eine leise, doch wirksame Art
klüglich an, daß er sich zu einer kleinen Exkursion auf das Schloß
einrichten und seinen Planen und Wünschen, von denen er der Dame kein
Geheimnis gemacht, sich ungesäumt nähern solle.
Mit vollkommener Beistimmung der Vorsteherin trat er daher seine Reise
an und hegte in seinem Gemüte die besten Hoffnungen.
Er weiß, Ottilie ist ihm nicht ungünstig; und wenn zwischen ihnen
einiges Mißverständnis des Standes war, so glich sich dieses gar
leicht durch die Denkart der Zeit aus.
Auch hatte die Baronesse ihn wohl fühlen lassen, daß Ottilie immer ein
armes Mädchen bleibe.
Mit einem reichen Hause verwandt zu sein, hieß es, kann niemanden
helfen; denn man würde sich selbst bei dem größten Vermögen ein
Gewissen daraus machen, denjenigen eine ansehnliche Summe zu entziehen,
die dem näheren Grade nach ein vollkommeneres Recht auf ein Besitztum
zu haben scheinen.
Und gewiß bleibt es wunderbar, daß der Mensch das große Vorrecht, nach
seinem Tode noch über seine Habe zu disponieren, sehr selten zugunsten
seiner Lieblinge gebraucht und, wie es scheint, aus Achtung für das
Herkommen nur diejenigen begünstigt, die nach ihm sein Vermögen
besitzen würden, wenn er auch selbst keinen Willen hätte.
Sein Gefühl setzte ihn auf der Reise Ottilien völlig gleich.
Eine gute Aufnahme erhöhte seine Hoffnungen.
Zwar fand er gegen sich Ottilien nicht ganz so offen wie sonst; aber
sie war auch erwachsener, gebildeter und, wenn man will, im
allgemeinen mitteilender, als er sie gekannt hatte.
Vertraulich ließ man ihn in manches Einsicht nehmen, was sich
besonders auf sein Fach bezog.
Doch wenn er seinem Zwecke sich nähern wollte, so hielt ihn immer eine
gewisse innere Scheu zurück.
Einst gab ihm jedoch Charlotte hierzu Gelegenheit, indem sie in
Beisein Ottiliens zu ihm sagte:" nun, Sie haben alles, was in meinem
Kreise heranwächst, so ziemlich geprüft; wie finden Sie denn Ottilien?
Sie dürfen es wohl in ihrer Gegenwart aussprechen".
Der Gehülfe bezeichnete hierauf mit sehr viel Einsicht und ruhigem
Ausdruck, wie er Ottilien in Absicht eines freieren Betragens, einer
bequemeren Mitteilung, eines höheren Blicks in die weltlichen Dinge,
der sich mehr in ihren Handlungen als in ihren Worten betätige, sehr
zu ihrem Vorteil verändert finde, daß er aber doch glaube, es könne
ihr sehr zum Nutzen gereichen, wenn sie auf einige Zeit in die Pension
zurückkehre, um das in einer gewissen Folge gründlich und für immer
sich zuzueignen, was die Welt nur stückweise und eher zur Verwirrung
als zur Befriedigung, ja manchmal nur allzuspät überliefere.
Er wolle darüber nicht weitläufig sein; Ottilie wisse selbst am besten,
aus was für zusammenhängenden Lehrvorträgen sie damals herausgerissen
worden.
Ottilie konnte das nicht leugnen; aber sie konnte nicht gestehen, was
sie bei diesen Worten empfand, weil sie sich es kaum selbst auszulegen
wußte.
Es schien ihr in der Welt nichts mehr unzusammenhängend, wenn sie an
den geliebten Mann dachte, und sie begriff nicht, wie ohne ihn noch
irgend etwas zusammenhängen könne.
Charlotte beantwortete den Antrag mit kluger Freundlichkeit.
Sie sagte, daß sowohl sie als Ottilie eine Rückkehr nach der Pension
längst gewünscht hätten.
In dieser Zeit nur sei ihr die Gegenwart einer so lieben Freundin und
Helferin unentbehrlich gewesen; doch wolle sie in der Folge nicht
hinderlich sein, wenn es Ottiliens Wunsch bliebe, wieder auf so lange
dorthin zurückzukehren, bis sie das Angefangene geendet und das
Unterbrochene sich vollständig zugeeignet.
Der Gehülfe nahm diese Anerbietung freudig auf; Ottilie durfte nichts
dagegen sagen, ob es ihr gleich vor dem Gedanken schauderte.
Charlotte hingegen dachte Zeit zu gewinnen; sie hoffte, Eduard sollte
sich erst als glücklicher Vater wiederfinden und einfinden, dann, war
sie überzeugt, würde sich alles geben und auch für Ottilien auf eine
oder die andere Weise gesorgt werden.
Nach einem bedeutenden Gespräch, über welches alle Teilnehmenden
nachzudenken haben, pflegt ein gewisser Stillstand einzutreten, der
einer allgemeinen Verlegenheit ähnlich sieht.
Man ging im Saale auf und ab, der Gehülfe blätterte in einigen Büchern
und kam endlich an den Folioband, der noch von Lucianens Zeiten her
liegengeblieben war.
Als er sah, daß darin nur Affen enthalten waren, schlug er ihn gleich
wieder zu.
Dieser Vorfall mag jedoch zu einem Gespräch Anlaß gegeben haben, wovon
wir die Spuren in Ottiliens Tagebuch finden.
Wie man es nur über das Herz bringen kann, die garstigen Affen so
sorgfältig abzubilden!
Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Tiere betrachtet; man
wird aber wirklich bösartiger, wenn man dem Reize folgt, bekannte
Menschen unter dieser Maske aufzusuchen.
Es gehört durchaus eine gewisse Verschrobenheit dazu, um sich gern mit
Karikaturen und Zerrbildern abzugeben.
Unserm guten Gehülfen danke ichs, daß ich nicht mit der
Naturgeschichte gequält worden bin; ich konnte mich mit den Würmern
und Käfern niemals befreunden.
Diesmal gestand er mir, daß es ihm ebenso gehe.
"Von der Natur", sagte er, "sollten wir nichts kennen, als was uns
unmittelbar lebendig umgibt.
Mit den Bäumen, die um uns blühen, grünen, Frucht tragen, mit jeder
Staude, an der wir vorbeigehen, mit jedem Grashalm, über den wir
hinwandeln, haben wir ein wahres Verhältnis; sie sind unsre echten
Kompatrioten.
Die Vögel, die auf unsern Zweigen hin und wider hüpfen, die in unserm
Laube singen, gehören uns an, sie sprechen zu uns von Jugend auf, und
wir lernen ihre Sprache verstehen.
Man frage sich, ob nicht ein jedes fremde, aus seiner Umgebung
gerissene Geschöpf einen gewissen ängstlichen Eindruck auf uns macht,
der nur durch Gewohnheit abgestumpft wird.
Es gehört schon ein buntes, geräuschvolles Leben dazu, um Affen,
Papageien und Mohren um sich zu ertragen".
Manchmal, wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen
abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden beneidet,
der solche Wunder mit andern Wundern in lebendiger, alltäglicher
Verbindung sieht.
Aber auch er wird ein anderer Mensch.
Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern
sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.
Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste,
Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft jedesmal in
dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß.
Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören!
Ein Naturalienkabinett kann uns vorkommen wie eine ägyptische
Grabstätte, wo die verschiedenen Tier—und Pflanzengötzen balsamiert
umherstehen.
Einer Priesterkaste geziemt es wohl, sich damit in geheimnisvollem
Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemeinen Unterricht sollte
dergleichen nicht einfließen, um so weniger, als etwas Näheres und
Würdigeres sich dadurch leicht verdrängt sieht.
Ein Lehrer, der das Gefühl an einer einzigen guten Tat, an einem
einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet mehr als einer, der uns
ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen
nach überliefert; denn das ganze Resultat davon ist, was wir ohnedies
wissen können, daß das Menschengebild am vorzüglichsten und einzigsten
das Gleichnis der Gottheit an sich trägt.
Dem einzelnen bleibe die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was
ihn anzieht, was ihm Freude macht, was ihm nützlich deucht; aber das
eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.
Es gibt wenig Menschen, die sich mit dem Nächstvergangenen zu
beschäftigen wissen.
Entweder das Gegenwärtige hält uns mit Gewalt an sich, oder wir
verlieren uns in die Vergangenheit und suchen das völlig Verlorene,
wie es nur möglich sein will, wieder hervorzurufen und herzustellen.
Selbst in großen und reichen Familien, die ihren Vorfahren vieles
schuldig sind, pflegt es so zu gehen, daß man des Großvaters mehr als
des Vaters gedenkt.
Zu solchen Betrachtungen ward unser Gehülfe aufgefordert, als er an
einem der schönen Tage, an welchen der scheidende Winter den Frühling
zu lügen pflegt, durch den großen, alten Schloßgarten gegangen war und
die hohen Lindenalleen, die regelmäßigen Anlagen, die sich von Eduards
Vater herschrieben, bewundert hatte.
Sie waren vortrefflich gediehen in dem Sinne desjenigen, der sie
pflanzte, und nun, da sie erst anerkannt und genossen werden sollten,
sprach niemand mehr von ihnen; man besuchte sie kaum und hatte
Liebhaberei und Aufwand gegen eine andere Seite hin ins Freie und
Weite gerichtet.
Er machte bei seiner Rückkehr Charlotten die Bemerkung, die sie nicht
ungünstig aufnahm.
"Indem uns das Leben fortzieht", versetzte sie, "glauben wir aus uns
selbst zu handeln, unsre Tätigkeit, unsre Vergnügungen zu wählen, aber
freilich, wenn wir es genau ansehen, so sind es nur die Plane, die
Neigungen der Zeit, die wir mit auszuführen genötigt sind".
"Gewiß", sagte der Gehülfe; "und wer widersteht dem Strome seiner
Umgebungen?
Die Zeit rückt fort und in ihr Gesinnungen, Meinungen, Vorurteile und
Liebhabereien.
Fällt die Jugend eines Sohnes gerade in die Zeit der Umwendung, so
kann man versichert sein, daß er mit seinem Vater nichts gemein haben
wird.
Wenn dieser in einer Periode lebte, wo man Lust hatte, sich manches
zuzueignen, dieses Eigentum zu sichern, zu beschränken, einzuengen und
in der Absonderung von der Welt seinen Genuß zu befestigen, so wird
jener sodann sich auszudehnen suchen, mitteilen, verbreiten und das
Verschlossene eröffnen".
"Ganze Zeiträume", versetzte Charlotte, "gleichen diesem Vater und
Sohn, den Sie schildern.
Von jenen Zuständen, da jede kleine Stadt ihre Mauern und Gräben haben
mußte, da man jeden Edelhof noch in einen Sumpf baute und die
geringsten Schlösser nur durch eine Zugbrücke zugänglich waren, davon
können wir uns kaum einen Begriff machen.
Sogar größere Städte tragen jetzt ihre Wälle ab, die Gräben selbst
fürstlicher Schlösser werden ausgefüllt, die Städte bilden nur große
Flecken, und wenn man so auf Reisen das ansieht, sollte man glauben,
der allgemeine Friede sei befestigt und das goldne Zeitalter vor der
Tür.
Niemand glaubt sich in einem Garten behaglich, der nicht einem freien
Lande ähnlich sieht; an Kunst, an Zwang soll nichts erinnern; wir
wollen völlig frei und unbedingt Atem schöpfen.
Haben Sie wohl einen Begriff, mein Freund, daß man aus diesem in
einen andern, in den vorigen Zustand zurückkehren könne?" "Warum
nicht?" versetzte der Gehülfe; "jeder Zustand hat seine
Beschwerlichkeit, der beschränkte sowohl als der losgebundene.
Der letztere setzt überfluß voraus und führt zur Verschwendung.
Lassen Sie uns bei Ihrem Beispiel bleiben, das auffallend genug ist.
Sobald der Mangel eintritt, sogleich ist die Selbstbeschränkung
wiedergegeben.
Menschen, die ihren Grund und Boden zu nutzen genötigt sind, führen
schon wieder Mauern um ihre Gärten auf, damit sie ihrer Erzeugnisse
sicher seien.
Daraus entsteht nach und nach eine neue Ansicht der Dinge.
Das Nützliche erhält wieder die Oberhand, und selbst der
Vielbesitzende meint zuletzt auch das alles nutzen zu müssen.
Glauben Sie mir: es ist möglich, daß Ihr Sohn die sämtlichen
Parkanlagen vernachlässigt und sich wieder hinter die ernsten Mauern
und unter die hohen Linden seines Großvaters zurückzieht".
Charlotte war im stillen erfreut, sich einen Sohn verkündigt zu hören,
und verzieh dem Gehülfen deshalb die etwas unfreundliche Prophezeiung,
wie es dereinst ihrem lieben, schönen Park ergehen könne.
Sie versetzte deshalb ganz freundlich: "wir sind beide noch nicht alt
genug, um dergleichen Widersprüche mehrmals erlebt zu haben; allein
wenn man sich in seine frühe Jugend zurückdenkt, sich erinnert,
worüber man von älteren Personen klagen gehört, Länder und Städte mit
in die Betrachtung aufnimmt, so möchte wohl gegen die Bemerkung nichts
einzuwenden sein.
Sollte man denn aber einem solchen Naturgang nichts entgegensetzen,
sollte man Vater und Sohn, Eltern und Kinder nicht in übereinstimmung
bringen können?
Sie haben mir freundlich einen Knaben geweissagt; müßte denn der
gerade mit seinem Vater im Widerspruch stehen?
Zerstören, was seine Eltern erbaut haben, anstatt es zu vollenden und
zu erheben, wenn er in demselben Sinne fortfährt?" "Dazu gibt es auch
wohl ein vernünftiges Mittel", versetzte der Gehülfe, "das aber von
den Menschen selten angewandt wird.
Der Vater erhebe seinen Sohn zum Mitbesitzer, er lasse ihn mitbauen,
-pflanzen und erlaube ihm, wie sich selbst, eine unschädliche Willkür.
Eine Tätigkeit läßt sich in die andre verweben, keine an die andre
anstückeln.
Ein junger Zweig verbindet sich mit einem alten Stamme gar leicht und
gern, an den kein erwachsener Ast mehr anzufügen ist".
Es freute den Gehülfen, in dem Augenblick, da er Abschied zu nehmen
sich genötigt sah, Charlotten zufälligerweise etwas Angenehmes gesagt
und ihre Gunst aufs neue dadurch befestigt zu haben.
Schon allzulange war er von Hause weg; doch konnte er zur Rückreise
sich nicht eher entschließen als nach völliger überzeugung, er müsse
die herannahende Epoche von Charlottens Niederkunft erst vorbeigehen
lassen, bevor er wegen Ottiliens irgendeine Entscheidung hoffen könne.
Er fügte sich deshalb in die Umstände und kehrte mit diesen Aussichten
und Hoffnungen wieder zur Vorsteherin zurück.
Charlottens Niederkunft nahte heran.
Sie hielt sich mehr in ihren Zimmern.
Die Frauen, die sich um sie versammelt hatten, waren ihre
geschlossenere Gesellschaft.
Ottilie besorgte das Hauswesen, indem sie kaum daran denken durfte,
was sie tat.
Sie hatte sich zwar völlig ergeben; sie wünschte für Charlotten, für
das Kind, für Eduarden sich auch noch ferner auf das dienstlichste zu
bemühen; aber sie sah nicht ein, wie es möglich werden wollte.
Nichts konnte sie vor völliger Verworrenheit retten, als daß sie jeden
Tag ihre Pflicht tat.
Ein Sohn war glücklich zur Welt gekommen, und die Frauen versicherten
sämtlich, es sei der ganze leibhafte Vater.
Nur Ottilie konnte es im stillen nicht finden, als sie der Wöchnerin
Glück wünschte und das Kind auf das herzlichste begrüßte.
Schon bei den Anstalten zur Verheiratung ihrer Tochter war Charlotten
die Abwesenheit ihres Gemahls höchst fühlbar gewesen; nun sollte der
Vater auch bei der Geburt des Sohnes nicht gegenwärtig sein; er sollte
den Namen nicht bestimmen, bei dem man ihn künftig rufen würde. Der
erste von allen Freunden, die sich beglückwünschend sehen ließen, war
Mittler, der seine Kundschafter ausgestellt hatte, um von diesem
Ereignis sogleich Nachricht zu erhalten.
Er fand sich ein, und zwar sehr behaglich.
Kaum daß er seinen Triumph in Gegenwart Ottiliens verbarg, so sprach
er sich gegen Charlotten laut aus und war der Mann, alle Sorgen zu
heben und alle augenblicklichen Hindernisse beiseitezubringen.
Die Taufe sollte nicht lange aufgeschoben werden.
Der alte Geistliche, mit einem Fuß schon im Grabe, sollte durch seinen
Segen das Vergangene mit dem Zukünftigen zusammenknüpfen; Otto sollte
das Kind heißen; es konnte keinen andern Namen führen als den Namen
des Vaters und des Freundes.
Es bedurfte der entschiedenen Zudringlichkeit dieses Mannes, um die
hunderterlei Bedenklichkeiten, das Widerreden, Zaudern, Stocken,
Besser—oder Anderswissen, das Schwanken, Meinen, Um—und Wiedermeinen
zu beseitigen, da gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten aus einer
gehobenen Bedenklichkeit immer wieder neue entstehen und, indem man
alle Verhältnisse schonen will, immer der Fall eintritt, einige zu
verletzten.
Alle Meldungsschreiben und Gevatterbriefe übernahm Mittler; sie
sollten gleich ausgefertigt sein, denn ihm war selbst höchlich daran
gelegen, ein Glück, das er für die Familie so bedeutend hielt, auch
der übrigen mitunter mißwollenden und mißredenden Welt bekanntzumachen.
Und freilich waren die bisherigen leidenschaftlichen Vorfälle dem
Publikum nicht entgangen, das ohnehin in der überzeugung steht, alles,
was geschieht, geschehe nur dazu, damit es etwas zu reden habe.
Die Feier des Taufaktes sollte würdig, aber beschränkt und kurz sein.
Man kam zusammen, Ottilie und Mittler sollten das Kind als Taufzeugen
halten.
Der alte Geistliche, unterstützt vom Kirchdiener, trat mit langsamen
Schritten heran.
Das Gebet war verrichtet, Ottilien das Kind auf die Arme gelegt, und
als sie mit Neigung auf dasselbe heruntersah, erschrak sie nicht wenig
an seinen offenen Augen; denn sie glaubte in ihre eigenen zu sehen;
eine solche übereinstimmung hätte jeden überraschen müssen.
Mittler, der zunächst das Kind empfing, stutzte gleichfalls, indem er
in der Bildung desselben eine so auffallende ähnlichkeit, und zwar mit
dem Hauptmann, erblickte, dergleichen ihm sonst noch nie vorgekommen
war.
Die Schwäche des guten alten Geistichen hatte ihn gehindert, die
Taufhandlung mit mehrerem als der gewöhnlichen Liturgie zu begleiten.
Mittler indessen, voll von dem Gegenstande, gedachte seiner frühern
Amtsverrichtungen und hatte überhaupt die Art, sich sogleich in jedem
Falle zu denken, wie er nun reden, wie er sich äußern würde.
Diesmal konnte er sich um so weniger zurückhalten, als es nur eine
kleine Gesellschaft von lauter Freunden war, die ihn umgab.
Er fing daher an, gegen das Ende des Akts mit Behaglichkeit sich an
die Stelle des Geistlichen zu versetzen, in einer muntern Rede seine
Patenpflichten und Hoffnungen zu äußern und um so mehr dabei zu
verweilen, als er Charlottens Beifall in ihrer zufriedenen Miene zu
erkennen glaubte.
Daß der gute alte Mann sich gern gesetzt hätte, entging dem rüstigen
Redner, der noch viel weniger dachte, daß er ein größeres übel
hervorzubringen auf dem Wege war; denn nachdem er das Verhältnis eines
jeden Anwesenden zum Kinde mit Nachdruck geschildert und Ottiliens
Fassung dabei ziemlich auf die Probe gestellt hatte, so wandte er sich
zuletzt gegen den Greis mit diesen Worten:" und Sie, mein würdiger
Altvater, können nunmehr mit Simeon sprechen; 'Herr, laß deinen Diener
in Frieden fahren; denn meine Augen haben den Heiland dieses Hauses
gesehen'".
Nun war er im Zuge, recht glänzend zu schließen, aber er bemerkte bald,
daß der Alte, dem er das Kind hinhielt, sich zwar erst gegen dasselbe
zu neigen schien, nachher aber schnell zurücksank.
Vom Fall kaum abgehalten, ward er in einen Sessel gebracht, und man
mußte ihn ungeachtet aller augenblicklichen Beihülfe für tot
ansprechen.
So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg und Wiege nebeneinander zu sehen
und zu denken, nicht bloß mit der Einbildungskraft, sondern mit den
Augen diese ungeheuern Gegensätze zusammenzufassen, war für die
Umstehenden eine schwere Aufgabe, je überraschender sie vorgelegt
wurde.
Ottilie allein betrachtete den Eingeschlummerten, der noch immer seine
freundliche, einnehmende Miene behalten hatte, mit einer Art von Neid.
Das Leben ihrer Seele war getötet; warum sollte der Körper noch
erhalten werden?
Führten sie auf diese Weise gar manchmal die unerfreulichen
Begebenheiten des Tags auf die Betrachtung der Vergänglichkeit, des
Scheidens, des Verlierens, so waren ihr dagegen wundersame nächtliche
Erscheinungen zum Trost gegeben, die ihr das Dasein des Geliebten
versicherten und ihr eigenes befestigten und belebten.
Wenn sie sich abends zur Ruhe gelegt und im süßen Gefühl noch zwischen
Schlaf und Wachen schwebte, schien es ihr, als wenn sie in einen ganz
hellen, doch mild erleuchteten Raum hineinblickte.
In diesem sah sie Eduarden ganz deutlich, und zwar nicht gekleidet,
wie sie ihn sonst gesehen, sondern im kriegerischen Anzug, jedesmal in
einer andern Stellung, die aber vollkommen natürlich war und nichts
Phantastisches an sich hatte: stehend, gehend, liegend, reitend. Die
Gestalt, bis aufs kleinste ausgemalt, bewegte sich willig vor ihr,
ohne daß sie das mindeste dazu tat, ohne daß sie wollte oder die
Einbildungskraft anstrengte.
Manchmal sah sie ihn auch umgeben, besonders von etwas Beweglichem,
das dunkler war als der helle Grund; aber sie unterschied kaum
Schattenbilder, die ihr zuweilen als Menschen, als Pferde, als Bäume
und Gebirge vorkommen konnten.
Gewöhnlich schlief sie über der Erscheinung ein, und wenn sie nach
einer ruhigen Nacht morgens wieder erwachte, so war sie erquickt,
getröstet; sie fühlte sich überzeugt, Eduard lebe noch, sie stehe mit
ihm noch in dem innigsten Verhältnis.
Der Frühling war gekommen, später, aber auch rascher und freudiger als
gewöhnlich.
Ottilie fand nun im Garten die Frucht ihres Vorsehens; alles keimte,
grünte und blühte zur rechten Zeit; manches, was hinter wohlangelegten
Glashäusern und Beeten vorbereitet worden, trat nun sogleich der
endlich von außen wirkenden Natur entgegen, und alles, was zu tun und
zu besorgen war, blieb nicht bloß hoffnungsvolle Mühe wie bisher,
sondern ward zum heitern Genusse.
An dem Gärtner aber hatte sie zu trösten über manche durch Lucianens
Wildheit entstandene Lücke unter den Topfgewächsen, über die zerstörte
Symmetrie mancher Baumkrone.
Sie machte ihm Mut, daß sich das alles bald wieder herstellen werde;
aber er hatte zu ein tiefes Gefühl, zu einen reinen Begriff von seinem
Handwerk, als daß diese Trostgründe viel bei ihm hätten fruchten
sollen.
So wenig der Gärtner sich durch andere Liebhabereien und Neigungen
zerstreuen darf, so wenig darf er ruhige Gang unterbrochen werden, den
die Pflanze zur dauernden oder zur vorübergehenden Vollendung nimmt.
Die Pflanze gleicht den eigensinnigen Menschen, von denen man alles
erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt.
Ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz, in jeder Jahrszeit, in
jeder Stunde das ganz Gehörige zu tun, wird vielleicht von niemand
mehr als vom Gärtner verlangt.
Diese Eigenschaften besaß der gute Mann in einem hohen Grade, deswegen
auch Ottilie so gern mit ihm wirkte; aber sein eigentliches Talent
konnte er schon einige Zeit nicht mehr mit Behaglichkeit ausüben.
Denn ob er gleich alles, was die Baum—und Küchengärtnerei betraf,
auch die Erfordernisse eines ältern Ziergartens, vollkommen zu leisten
verstand, wie denn überhaupt einem vor dem andern dieses oder jenes
gelingt, ob er schon in Behandlung der Orangerie, der Blumenzwiebeln,
der Nelken—und Aurikelnstöcke die Natur selbst hätte herausfordern
können, so waren ihm doch die neuen Zierbäume ud Modeblumen
einigermaßen fremd geblieben, und er hatte vor dem unendlichen Felde
der Botanik, das sich nach der Zeit auftat, und den darin
herumsummenden fremden Namen eine Art von Scheu, die ihn verdrießlich
machte.
Was die Herrschaft voriges Jahr zu verschreiben angefangen, hielt er
um so mehr für unnützen Aufwand und Verschwendung, als er gar manche
kostbare Pflanze ausgehen sah und mit den Handelsgärtnern, die ihn,
wie er glaubte, nicht redlich genug bedienten, in keinem sonderlichen
Verhältnisse stand.
Er hatte sich darüber nach mancherlei Versuchen eine Art von Plan
gemacht, in welchem ihn Ottilie um so mehr bestärkte, als er auf die
Wiederkehr Eduards eigentlich gegründet war, dessen Abwesenheit man in
diesem wie in manchem andern Falle täglich nachteiliger empfinden
mußte. Indem nun die Pflanzen immer mehr Wurzel schlugen und Zweige
trieben, fühlte sich auch Ottilie immer mehr an diese Räume gefesselt.
Gerade vor einem Jahre trat sie als Fremdling, als ein unbedeutendes
Wesen hier ein; wieviel hatte sie sich seit jener Zeit nicht erworben!
Aber leider wieviel hatte sie nicht auch seit jener Zeit wieder
verloren!
Sie war nie so reich und nie so arm gewesen.
Das Gefühl von beidem wechselte augenblicklich miteinander ab, ja
durchkreuzte sich aufs innigste, sodaß sie sich nicht anders zu helfen
wußte, als daß sie immer wieder das Nächste mit Anteil, ja mit
Leidenschaft ergriff.
Daß alles, was Eduarden besonders lieb war, auch ihre Sorgfalt am
stärksten an sich zog, läßt sich denken; ja warum sollte sie nicht
hoffen, daß er selbst nun bald wiederkommen, daß er die fürsorgliche
Dienstlichkeit, die sie dem Abwesenden geleistet, dankbar gegenwärtig
bemerken werde?
Aber noch auf eine viel andre Weise war sie veranlaßt, für ihn zu
wirken.
Sie hatte vorzüglich die Sorge für das Kind übernommen, dessen
unmittelbare Pflererin sie um so mehr werden konnte, als man es keiner
Amme übergeben, sondern mit Milch und Wasser aufzuziehen sich
entschieden hatte.
Es sollte in jener schönen Zeit der freien Luft genießen; und so trug
sie es am liebsten selbst heraus, trug das schlafende, unbewußte
zwischen Blumen und Blüten her, die dereinst seiner Kindheit so
freundlich entgegenlachen sollten, zwischen jungen Sträuchen und
Pflanzen, die mit ihm in die Höhe zu wachsen durch ihre Jugend
bestimmt schienen.
Wenn sie um sich her sah, so verbarg sie sich nicht, zu welchem großen,
reichen Zustande das Kind geboren sei; denn fast alles, wohin das
Auge blickte, sollte dereinst ihm gehören.
Wie wünschenswert war es zu diesem allen, daß es vor den Augen des
Vaters, der Mutter aufwächse und eine erneute, frohe Verbindung
bestätigte!
Ottilie fühlte dies alles so rein, daß sie sichs als entschieden
wirklich dachte und sich selbst dabei gar nicht empfand.
Unter diesem klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein ward es ihr
auf einmal klar, daß ihre Liebe, um sich zu vollenden, völlig
uneigennützig werden müsse; ja in manchen Augenblicken glaubte sie
diese Höhe schon erreicht zu haben.
Sie wünschte nur das Wohl ihres Freundes, sie glaubte sich fähig, ihm
zu entsagen, sogar ihn niemals wiederzusehen, wenn sie ihn nur
glücklich wisse.
Aber ganz entschieden war sie für sich, niemals einem andern
anzugehören.
Daß der Herbst ebenso herrlich würde wie der Frühling, dafür war
gesorgt.
Alle sogenannten Sommergewächse, alles, was im Herbst mit Blühen nicht
enden kann und sich der Kälte noch keck entgegenentwickelt, Astern
besonders, waren in der größten Mannigfaltigkeit gesäet und sollten
nun, überallhin verpflanzt, einen Sternhimmel über die Erde bilden.
Einen guten Gedanken, den wir gelegen, etwas Auffallendes, das wir
gehört, tragen wir wohl in unser Tagebuch.
Nähmen wir uns aber zugleich die Mühe, aus den Briefen unserer Freunde
eigentümliche Bemerkungen, originelle Ansichten, flüchtige geistreiche
Worte auszuzeichnen, so würden wir sehr reich werden.
Briefe hebt man auf, um sie nie wieder zu lesen; man zerstört sie
zuletzt einmal aus Diskretion, und so verschwindet der schönste,
unmittelbarste Lebenshauch unwiederbringlich für uns und andre. Ich
nehme mir vor, dieses Versäumnis wiedergutzumachen.
So wiederholt sich denn abermals das Jahresmärchen von vorn.
Wir sind nun wieder, Gott sei Dank!
An seinem artigsten Kapitel.
Veilchen und Maiblumen sind wie überschriften oder Vignetten dazu.
Es macht uns immer einen angenehmen Eindruck, wenn wir sie in dem
Buche des Lebens wieder aufschlagen.
Wir schelten die Armen, besonders die Unmündigen, wenn sie sich an den
Straßen herumlegen und betteln.
Bemerken wir nicht, daß sie gleich tätig sind, sobald es was zu tun
gibt?
Kaum entfaltet die Natur ihre freundlichen Schätze, so sind die Kinder
dahinterher, um ein Gewerbe zu eröffnen; keines bettelt mehr, jedes
reicht dir einen Strauß; es hat ihn gepflückt, ehe du vom Schlaf
erwachtest, und das Bittende sieht dich so freundlich an wie die Gabe.
Niemand sieht erbärmlich aus, der sich einiges Recht fühlt, fordern zu
dürfen.
Warum nur das Jahr manchmal so kurz, manchmal so lang ist, warum es so
kurz scheint und so lang in der Erinnerung!
Mir ist es mit dem vergangenen so, und nirgends auffallender als im
Garten, wie Vergängliches und Dauerndes ineinandergreift.
Und doch ist nichts so flüchtig, das nicht eine Spur, das nicht
seinesgleichen zurücklasse.
Man läßt sich den Winter auch gefallen.
Man glaubt sich freier auszubreiten, wenn die Bäme so geisterhaft, so
durchsichtig vor uns stehen.
Sie sind nichts, aber sie denken auch nichts zu.
Wie aber einmal Knospen und Blüten kommen, dann wird man ungeduldig,
bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und
der Baum sich als eine Gestalt uns entgegendrängt.
Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß
etwas anderes, Unvergleichbares werden.
In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über
ihre Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen,
was eigentlich singen heiße.
Ein Leben ohne Liebe, ohne die Nähe des Geliebten ist nur eine
"comedie a tiroir", ein schlechtes Schubladenstück.
Man schiebt eine nach der andern heraus und wieder hinein und und eilt
zur folgenden.
Alles, was auch Gutes und Bedeutendes vorkommt, hängt nur kümmerlich
zusammen.
Man muß überall von vorn anfangen und möchte überall enden.
Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl.
Sie freut sich an dem tüchtigen Knaben, dessen vielversprechende
Gestalt ihr Auge und Gemüt stündlich beschäftigt.
Sie erhält durch ihn einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz.
Ihre alte Tätigkeit regt sich wieder; sie erblickt, wo sie auch
hinsieht, im vrgangenen Jahre vieles getan und empfindet Freude am
Getanen.
Von einem eigenen Gefühl belebt, steigt sie zur Mooshütte mit Ottilien
und dem Kinde; und indem sie dieses auf den kleinen Tisch als auf
einen häuslichen Altar niederlegt und noch zwei Plätze leer sieht,
gedenkt sie der vorigen Zeiten, und eine neue Hoffnung für sie und
Ottilien dringt hervor.
Junge Frauenzimmer sehen sich bescheiden vielleicht nach diesem oder
jenem Jüngling um, mit stiller Prüfung, ob sie ihn wohl zum Gatten
wünschten; wer aber für eine Tochter oder einen weiblichen Zögling zu
sorgen hat, schaut in einem weitern Kreis umher.
So ging es auch in diesem Augenblick Charlotten, der eine Verbindung
des Hauptmanns mit Ottilien nicht unmöglich schien, wie sie doch auch
schon ehemals in dieser Hütte nebeneinander gesessen hatten.
Ihr war nicht unbekannt geblieben, daß jene Aussicht auf eine
vorteilhafte Heirat wieder verschwunden sei.
Charlotte stieg weiter, und Ottilie trug das Kind.
Jene überließ sich mancherlei Betrachtungen.
Auch auf dem festen Lande gibt es wohl Schiffbruch; sich davon auf das
schnellste zu erholen und herzustellen, ist schön und preiswürdig.
Ist doch das Leben nur auf Gewinn und Verlust berechnet!
Wer macht nicht irgendeine Anlage und wird darin gestört!
Wie oft schlägt man einen Weg ein und wird davon abgeleitet! Wie oft
werden wir von einem scharf ins Auge gefaßten Ziel abgelenkt, um ein
höheres zu erreichen!
Der Reisende bricht unterwegs zu seinem höchsten Verdruß ein Rad und
gelangt durch diesen unangenehmen Zufall zu den erfreulichsten
Bekanntschaften und Verbindungen, die auf sein ganzes Leben Einfluß
haben. Das Schicksal gewährt uns unsre Wünsche, aber auf seine Weise,
um uns etwas über unsere Wünsche geben zu können.
Diese und ähnliche Betrachtungen waren es, unter denen Charlotte zum
neuen Gebäude auf der Höhe gelangte, wo sie vollkommen bestätigt
wurden.
Denn die Umgebung war viel schöner, als man sichs hatte denken können.
Alles störende Kleinliche war ringsumher entfernt, alles Gute der
Landschaft, was die Natur, was die Zeit daran getan hatte, trat
reinlich hervor und fiel ins Auge, und schon grünten die jungen
Pflanzungen, die bestimmt waren, einige Lücken auszufüllen und die
abgesonderten Teile angenehm zu verbinden.
Das Haus selbst war nahezu bewohnbar, die Aussicht, besonders aus den
obern Zimmern, höchst mannigfaltig.
Je länger man sich umsah, desto mehr Schönes entdeckte man.
Was mußten nicht hier die verschiedenen Tagszeiten, was Mond und Sonne
für Wirkungen hervorbringen!
Hier zu verweilen war höchst wünschenswert, und wie schnell ward die
Lust zu bauen und zu schaffen in Charlotten wieder erweckt, da sie
alle grobe Arbeit getan fand!
Ein Tischer, ein Tapezier, ein Maler, der mit Patronen und leichter
Vergoldung sich zu helfen wußte, nur dieser bedurfte man, und in
kurzer Zeit war das Gebäude im Stande.
Keller und Küche wurden schnell eingerichtet; denn in der Entfernung
vom Schlosse mußte man alle Bedürfnisse um sich versammeln.
So wohnten die Frauenzimmer mit dem Kinde nun oben, und von diesem
Aufenthalt, als von einem neuen Mittelpunkt, eröffneten sich ihnen
unerwartete Spaziergänge.
Sie genossen vergnüglich in einer höheren Region der freien, frischen
Luft bei dem schönsten Wetter.
Ottiliens liebster Weg, teils allein, teils mit dem Kinde, ging
herunter nach den Platanen auf einem bequemen Fußsteig, der sodann zu
dem Punkte leitete, wo einer der Kähne angewunden war, mit denen man
überzufahren pflegte.
Sie erfreute sich manchmal einer Wasserfahrt, allein ohne das Kind,
weil Charlotte deshalb einige Besorgnis zeigte.
Doch verfehlte sie nicht, täglich den Gärtner im Schloßgarten zu
besuchen und an seiner Sorgfalt für die vielen Pflanzenzöglinge, die
nun alle der freien Luft genossen, freundlich teilzunehmen.
In dieser schönen Zeit kam Charlotten der Besuch eines Engländers sehr
gelegen, der Eduarden auf Reisen kennengelernt, einigemal getroffen
hatte und nunmehr neugierig war, die schönen Anlagen zu sehen, von
denen er soviel Gutes erzählen hörte.
Er brachte ein Empfehlungsschreiben vom Grafen mit und stellte
zugleich einen stillen, aber sehr gefälligen Mann als seinen Begleiter
vor.
Indem er nun bald mit Charlotten und Ottilien, bald mit Gärtnern und
Jägern, öfters mit seinem Begleiter und manchmal allein die Gegend
durchstrich, so konnte man seinen Bemerkungen wohl ansehen, daß er ein
Liebhaber und Kenner solcher Anlagen war, der wohl auch manche
dergleichen selbst ausgeführt hatte.
Obgleich in Jahren, nahm er auf eine heitere Weise an allem teil, was
dem Leben zur Zierde gereichen und es bedeutend machen kann.
In seiner Gegenwart genossen die Frauenzimmer erst vollkommen ihrer
Umgebung.
Sein geübtes Auge empfing jeden Effekt ganz frisch, und er hatte um so
mehr Freude an dem Entstandenen, als er die Gegend vorher nicht
gekannt und, was man daran getan, von dem, was die Natur geliefert,
kaum zu unterscheiden wußte.
Man kann wohl sagen, daß durch seine Bemerkungen der Park wuchs und
sich bereicherte.
Schon zum voraus erkannte er, was die neuen, heranstrebenden
Pflanzungen versprachen.
Keine Stelle blieb ihm unbemerkt, wo noch irgendeine Schönheit
hervorzuheben oder anzubringen war.
Hier deutete er auf eine Quelle, welche, gereinigt, die Zierde einer
ganzen Buschpartie zu werden versprach, hier auf eine Höhle, die,
ausgeräumt und erweitert, einen erwünschten Ruheplatz geben konnte,
indessen man nur wenige Bäume zu fällen brauchte, um von ihr aus
herrliche Felsenmassen aufgetürmt zu erblicken.
Er wünschte den Bewohnern Glück, daß ihnen so manches nachzuarbeiten
übrigblieb, und ersuchte sie, damit nicht zu eilen, sondern für
folgende Jahre sich das Vergnügen des Schaffens und Einrichtens
vorzubehalten.
übrigens war er außer den geselligen Stunden keineswegs lästig; denn
er beschäftigte sich die größte Zeit des Tags, die malerischen
Aussichten des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer aufzufangen und
zu reichnen, um dadurch sich und andern von seinen Reisen eine schöne
Frucht zu gewinnen.
Er hatte dieses schon seit mehreren Jahren in allen bedeutenden
Gegenden getan und sich dadurch die angenehmste und interessanteste
Sammlung verschafft.
Ein großes Portefeuille, das er mit sich führte, zeigte er den Damen
vor und unterhielt sie teils durch das Bild, teils durch die Auslegung.
Sie freuten sich, hier in ihrer Einsamkeit die Welt so bequem zu
durchreisen, Ufer und Häfen, Berge, Seen und Flüsse, Städte, Kastelle
und manches andre Lokal, das in der Geschichte einen Namen hat, vor
sich vorbeiziehen zu sehen.
Jede von beiden Frauen hatte ein besonderes Interesse, Charlotte das
allgemeinere, gerade an dem, wo sich etwas historisch Merkwürdiges
fand, während Ottilie sich vorzüglich bei den Gegenden aufhielt, wovon
Eduard viel zu erzählen pflegte, wo er gern verweilt, wohin er öfters
zurückgekehrt; denn jeder Mensch hat in der Nähe und in der Ferne
gewisse örtliche Einzelheiten, die ihn anziehen, die ihm seinem
Charakter nach, um des ersten Eindrucks, gewisser Umstände, der
Gewohnheit willen besonders lieb und aufregend sind.
Sie fragte daher den Lord, wo es ihm denn am besten gefalle und wo er
nun seine Wohnung aufschlagen würde, wenn er zu wählen hätte.
Da wußte er denn mehr als eine schöne Gegend vorzuzeigen und, was ihm
dort widerfahren, um sie ihm lieb und wert zu machen, in seinem eigens
akzentuierten Französisch gar behaglich mitzuteilen.
Auf die Frage hingegen, wo er sich denn jetzt gewöhnlich aufhalte,
wohin er am liebsten zurückkehre, ließ er sich ganz unbewunden, doch
den Frauen unerwartet, also vernehmen: "ich habe mir nun angewöhnt,
überall zu Hause zu sein, und finde zuletzt nichts bequemer, als daß
andre für mich bauen, pflanzen und sich häuslich bemühen.
Nach meinen eigenen Besitzungen sehne ich mich nicht zurück, teils aus
politischen Ursachen, vorzüglich aber, weil mein Sohn, für den ich
alles eigentlich getan und eingerichtet, dem ich es zu übergeben, mit
dem ich es noch zu genießen hoffte, an allem keinen Teil nimmt,
sondern nach Indien gegangen ist, um sein Leben dort, wie mancher
andere, höher zu nutzen oder gar zu vergeuden.
Gewiß, wir machen viel zu viel vorarbeitenden Aufwand aufs Leben.
Anstatt daß wir gleich anfingen, uns in einem mäßigen Zustand
behaglich zu finden, so gehen wir immer mehr ins Breite, um es uns
immer unbequemer zu machen.
Wer genießt jetzt meine Gebäude, meinen Park, meine Gärten?
Nicht ich, nicht einmal die Meinigen: fremde Gäste, Neugierige,
unruhige Reisende.
Selbst bei vielen Mitteln sind wir immer nur halb und halb zu Hause,
besonders auf dem Lande, wo us manches Gewohnte der Stadt fehlt.
Das Buch, das wir am eifrigsten wünschten, ist nicht zur Hand, und
gerade, was wir am meisten bedürften, ist vergessen.
Wir richten uns immer häuslich ein, um wieder auszuziehen, und wenn
wir es nicht mit Willen und Willkür tun, so wirken Verhältnisse,
Leidenschaften, Zufälle, Notwendigkeit und was nicht alles".
Der Lord ahnete nicht, wie tief durch seine Betrachtungen die
Freundinnen getroffen wurden.
Und wie oft kommt nicht jeder in diese Gefahr, der eine allgemeine
Betrachtung selbst in einer Gesellschaft, deren Verhältnisse ihm sonst
bekannt sind, ausspricht!
Charlotten war eine solche zufällige Verletzung auch durch
Wohlwollende und Gutmeinende nichts Neues; und die Welt lag ohnehin so
deutlich vor ihren Augen, daß sie keinen besondern Schmerz empfand,
wenngleich jemand sie unbedachtsam und ungvorsichtig nötigte, ihren
Blick da—oder dorthin auf eine unerfreuliche Stelle zu richten.
Ottilie hingegen, die in halbbewußter Jugend mehr ahnete als sah und
ihren Blick wegwenden durfte, ja mußte von dem, was sie nicht sehen
mochte und sollte, Ottilie ward durch diese traulichen Reden in den
schrecklichsten Zustand versetzt; denn es zerriß mit Gewalt vor ihr
der anmutige Schleier, und es schien ihr, als wenn alles, was bisher
für Haus und Hof, für Garten, Park und die ganze Umgebung geschehen
war, ganz eigentlich umsonst sei, weil der, dem es alles gehörte, es
nicht genösse, weil auch der, wie der gegenwärtige Gast, zum
Herumschweifen in der Welt, und zwar zu dem gefährlichsten, durch die
Liebsten und Nächsten gedrängt worden.
Sie hatte sich an Hören und Schweigen gewöhnt aber sie saß diesmal in
der peinlichsten Lage, die durch des Fremden weiteres Gespräch eher
vermehrt als vermindert wurde, das er mit heiterer Eigenheit und
Bedächtlichkeit fortsetzte.
"Nun glaub ich", sagte er, "auf dem rechten Wege zu sein, da ich mich
immerfort als einen Reisenden betrachte, der vielem entsagt, um vieles
zu genießen.
Ich bin an den Wechsel gewöhnt, ja er wird mir Bedürfnis, wie man in
der Oper immer wieder auf eine neue Dekoration wartet, gerade weil
schon so viele dagewesen.
Was ich mir von dem besten und dem schlechtesten Wirtshause
versprechen darf, ist mir bekannt; es mag so gut oder so schlimm sein,
als es will, nirgends find ich das Gewohnte, und am Ende läuft es auf
eins hinaus, ganz von einer notwendigen Gewohnheit oder ganz von der
willkürlichsten Zufälligkeit abzuhangen.
Wenigstens habe ich jetzt nicht den Verdruß, daß etwas verlegt oder
verloren ist, daß mir ein tägliches Wohnzimmer unbrauchbar wird, weil
ich es muß reparieren lassen, daß man mir eine liebe Tasse zerbricht
und es mir eine ganze Zeit aus keiner andern schmecken will.
Alles dessen bin ich überhoben, und wenn mir das Haus über dem Kopf zu
brennen anfängt, so packen meine Leute gelassen ein und auf, und wir
fahren zu Hofraum und Stadt hinaus.
Und bei allen diesen Vorteilen, wenn ich es genau berechne, habe ich
am Ende des Jahres nicht mehr ausgegeben, als es mich zu Hause
gekostet hätte".
Bei dieser Schilderung sah Ottilie nur Eduarden vor sich, wie er nun
auch mit Entbehren und Beschwerde auf ungebahnten Straßen hinziehe,
mit Gefahr und Not zu Felde liege und bei soviel Unbestand und Wagnis
sich gewöhne, heimatlos und freundlos zu sein, alles wegzuwerfen, nur
um nicht verlieren zu können.
Glücklicherweise trennte sich die Gesellschaft für einige Zeit.
Ottilie fand Raum, sich in der Einsamkeit auszuweinen.
Gewaltsamer hatte sie kein dumpfer Schmerz ergriffen als diese
Klarheit, die sie sich noch klarer zu machen strebte, wie man es zu
tun pflegt, daß man sich selbst peinigt, wenn man einmal auf dem Wege
ist, gepeinigt zu werden.
Der Zustand Eduards kam ihr so kümmerlich, so jämmerlich vor, daß sie
sich entschloß, es koste, was es wolle, zu seiner Wiedervereinigung
mit Charlotten alles beizutragen, ihren Schmerz und ihre Liebe an
irgendeinem stillen Orte zu verbergen und durch irgendeine Art von
Tätigkeit zu betriegen.
Indessen hatte der Begleiter des Lords, ein verständiger, ruhiger Mann
und guter Beobachter, den Mißgriff in der Unterhaltung bemerkt und die
ähnlichkeit der Zustände seinem Freunde offenbart.
Dieser wußte nichts von den Verhältnissen der Familie; allein jener,
den eigentlich auf der Reise nichts mehr interessierte als die
sonderbaren Ereignisse, welche durch natürliche und künstliche
Verhältnisse, durch den Konflikt des Gesetzlichen und des
Ungebändigten, des Verstandes und der Vernunft, der Leidenschaft und
des Vorurteils hervorgebracht werden, jener hatte sich schon früher
und mehr noch im Hause selbst mit allem bekannt gemacht, was
vorgegangen war und noch vorging.
Dem Lord tat es leid, ohne daß er darüber verlegen gewesen wäre.
Man müßte ganz in Gesellschaft schweigen, wenn man nicht manchmal in
den Fall kommen sollte; denn nicht allein bedeutende Bemerkungen,
sondern die trivialsten äußerungen können auf eine so mißklingende
Weise mit dem Interesse der Gegenwärtigen zusammentreffen.
"Wir wollen es heute abend wiedergutmachen", sagte der Lord, "und uns
aller allgemeinen Gespräche enthalten.
Geben Sie der Gesellschaft etwas von den vielen angenehmen und
bedeutenden Anekdoten und Geschichten zu hören, womit Sie Ihr
Portefeuille und Ihr Gedächtnis auf unserer Reise bereichert haben!"
Allein auch mit dem besten Vorsatze gelang es den Fremden nicht, die
Freunde diesmal mit einer unverfänglichen Unterhaltung zu erfreuen.
Denn nachdem der Begleiter durch manche sonderbare, bedeutende,
heitere, rührende, furchtbare Geschichten die Aufmerksamkeit erregt
und die Teilnahme aufs höchste gespannt hatte, so dachte er mit einer
zwar sonderbaren, aber sanfteren Begebenheit zu schließen und ahnete
nicht, wie nahe diese seinen Zuhörern verwandt war.
Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Häusern, Knabe und Mädchen, in
verhältnismäßigem Alter, um dereinst Gatten zu werden, ließ man in
dieser angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen, und die
beiderseitigen Eltern freuten sich einer künftigen Verbindung.
Doch man bemerkte gar bald, daß die Absicht zu mißlingen schien, indem
sich zwischen den beiden trefflichen Naturen ein sonderbarer
Widerwille hervortrat.
Vielleicht waren sie einander zu ähnlich.
Beide in sich selbst gewendet, deutlich in ihrem Wollen, fest in ihren
Vorsätzen; jedes einzeln geliebt und geehrt von seinen Gespielen;
immer Widersacher, wenn sie zusammen waren, immer aufbauend für sich
allein, immer wechselsweise zerstörend, wo sie sich begegneten, nicht
wetteifernd nach einem Ziel, aber immer kämpfend um einen Zweck;
gutartig durchaus und liebenswürdig und nur hassend, ja bösartig,
indem sie sich aufeinander bezogen.
Diese wunderliche Verhältnis zeigte sich schon bei kindischen Spielen,
es zeigte sich bei zunehmenden Jahren.
Und wie die Knaben Krieg zu spielen, sich in Parteien zu sondern,
einander Schlachten zu liefern pflegen, so stellte sich das trozig
mutige Mädchen einst an die Spitze des einen Heers und focht gegen das
andre mit solcher Gewalt und Erbitterung, daß dieses schimpflich wäre
in die Flucht geschlagen worden, wenn ihr einzelner Widersacher sich
nicht sehr brav gehalten und seine Gegnerin doch noch zuletzt
entwaffnet und gefangengenommen hätte.
Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, daß er, um seine Augen
zu erhalten und die Feindin doch nicht zu beschäftigen, sein seidenes
Halstuch abreißen und ihr die Hände damit auf den Rücken binden mußte.
Dies verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und
Versuche, ihn zu beschädigen, daß die Eltern, die auf diese seltsamen
Leidenschaften schon längst achtgehabt, sich miteinander verständigen
und beschlossen, die beiden feindlichen Wesen zu trennen und jene
lieblichen Hoffnungen aufzugeben.
Der Knabe tat sich in seinen neuen Verhältnissen bald hervor. Jede
Art von Unterricht schlug bei ihm an.
Gönner und eigene Neigung bestimmten ihn zum Soldatenstande.
überall, wo er sich fand, war er geliebt und geehrt.
Seine tüchtige Natur schien nur zum Wohlsein, zum Behagen anderer zu
wirken, und er war in sich, ohne deutliches Bewußtsein, recht
glücklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die Natur
ihm zugedacht hatte.
Das Mädchen dagegen trat auf einmal in einen veränderten Zustand.
Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung und mehr noch ein gewisses inneres
Gefühl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in
Gesellschaft der Knaben auszuüben pflegte.
Im ganzen schien ihr etwas zu fehlen, nichts war um sie herum, das
wert gewesen wäre, ihren Haß zu erregen.
Liebenswürdig hatte sie noch niemanden gefunden.
Ein junger Mann, älter als ihr ehemaliger nachbarlicher Widersacher,
von Stand, Vermögen und Bedeutung, beliebt in der Gesellschaft,
gesucht von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu.
Es war das erstemal, daß sich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um
sie bemühte.
Der Vorzug, den er ihr vor vielen gab, die älter, gebildeter,
glänzender und anspruchsreicher waren als sie, tat ihr gar zu wohl.
Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne daß er zudringlich gewesen
wäre, sein treuer Beistand bei verschiedenen unangenehmen Zufällen,
sein gegen ihre Eltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur
hoffnungsvolles Werben, da sie freilich noch sehr jung war: das alles
nahm sie für ihn ein, wozu die Gewohnheit, die äußern, nun von der
Welt als bekannt angenommenen Verhältnisse das Ihrige beitrugen.
Sie war so oft Braut genannt worden, daß sie sich endlich selbst dafür
hielt, und weder sie noch irgend jemand dachte daran, daß noch eine
Prüfung nötig sei, als sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so
lange Zeit für ihren Bräutigam galt.
Der ruhige Gang, den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch
das Verlöbnis nicht beschleunigt worden.
Man ließ eben von beiden Seiten alles so fortgewähren, man freute sich
des Zusammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als
einen Frühling des künftigen ernsteren Lebens genießen.
Indessen hatte der Entfernte sich zum schönsten ausgebildet, eine
verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen und kam mit Urlaub,
die Seinigen zu besuchen.
Auf eine ganz natürliche, aber doch sonderbare Weise stand er seiner
schönen Nachbarin abermals entgegen.
Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, bräutliche
Familienempfindungen bei sich genährt, sie war mit allem, was sie
umgab, in übereinstimmung; sie glaubte glücklich zu sein und war es
auch auf gewisse Weise.
Aber nun stand ihr zum erstenmal seit langer Zeit wieder etwas
entgegen: es war nicht hassenswert; sie war des Hasses unfähig
geworden, ja der kindische Haß, der eigentlich nur ein dunkles
Anerkennen des inneren Wertes gewesen, äußerte sich nun in frohem
Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefälligem Eingesthen, halb
willigem halb unwilligem und doch notwendigem Annahen, und das alles
war wechselseitig.
Eine lange Entfernung gab zu längeren Unterhaltungen Anlaß.
Selbst jene kindische Unvernunft diente den Aufgeklärteren zu
scherzhafter Erinnerung, und es war, als wenn man sich jenen
neckischen Haß wenigstens durch eine freundschaftliche, aufmerksame
Behandlung vergüten müsse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr
nicht ohne ein ausgesprochenes Anerkennen bleiben dürfe.
Von seiner Seite blieb alles in einem verständigen, wünschenswerten
Maß.
Sein Stand, seine Verhältnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz
beschäftigten ihn so reichlich, daß er die Freundlichkeit der schönen
Braut als eine dankenswerte Zugabe mit Behaglichkeit aufnahm, ohne sie
deshalb in irgendeinem Bezug auf sich zu betrachten oder sie ihrem
Bräutigam zu mißgönnen, mit dem er übrigens in den besten
Verhältnissen stand.
Bei ihr hingegen sah es ganz anders aus.
Sie schien sich wie aus einem Traum erwacht.
Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft
gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der Form des
Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung.
Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als daß sie ihn
immer geliebt habe.
Sie lächelte über jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand;
sie wollte sich des angenehmsten Gefühls erinnern, als er sie
entwaffnete; sie bildete sich ein, die größte Seligkeit empfunden zu
haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und
Verdruß unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor,
seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Sie verwünschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf, in den sie
verfallen, sie verfluchte die schleppende, träumerische Gewohnheit,
durch die ihr ein so unbedeutender Bräutigam hatte werden können; sie
war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwärts und rückwärts, wie man es
nehmen will.
Hätte jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheimhielt, entwickeln
und mit ihr teilen können, so würde er sie nicht gescholten haben;
denn freilich konnte der Bräutigam die Vergleichung mit dem Nachbar
nicht aushalten, sobald man sie nebeneinander sah.
Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so
erregte der andere das vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur
Gesellschaft mochte, so wünschte man sich den andern zum Gefährten;
und dachte man gar an höhere Teilnahme, an außerordentliche Fälle, so
hätte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere
vollkommene Gewißheit gab.
Für solche Verhältnisse ist den Weibern ein besonderer Takt angeboren,
und sie haben Ursache sowie Gelegenheit, ihn auszubilden.
Je mehr die schöne Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich
nährte, je weniger nur irgend jemand dasjenige auszusprechen im Fall
war, was zugunsten des Bräutigams gelten konnte, was Verhältnisse, was
Pflicht anzuraten und zu gebieten, ja was eine unabänderliche
Notwendigkeit unwiderruflich zu fordern schien, desto mehr begünstigte
das schöne Herz seine Einseitigkeit; und indem sie von der einen Seite
durch Welt und Familie, Bräutigam und eigne Zusage unauflöslich
gebunden war, von der andern der emporstrebende Jüngling gar kein
Geheimnis von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich
nur als ein treuer und nicht einmal zärtlicher Bruder gegen sie bewies
und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war, so schien
es, als ob ihr früher kindischer Geist mit allen seinen Tücken und
Gewaltsamkeiten wiedererwachte und sich nun auf einer höheren
Lebensstufe mit Unwillen rüstete, bedeutender und verderblicher zu
wirken.
Sie beschloß zu sterben, um den ehemals Gehaßten und nun so heftig
Geliebten für seine Unteilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn
nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft, seiner
Reue auf ewig zu vermählen.
Er sollte ihr totes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhören,
sich Vorwürfe zu machen, daß er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht
erforscht, nicht geschätzt habe.
Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie überallhin.
Sie verbarg ihn unter allerlei Formen; und ob sie den Menschen gleich
wunderlich vorkam, so war niemand aufmerksam oder klug genug, die
innere, wahre Ursache zu entdecken.
Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von
Mancherlei Festen erschöpft.
Kaum verging ein Tag, daß nicht irgend etwas Neues und Unerwartetes
angestellt worden wäre.
Kaum war ein schöner Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmückt
und zum Empfang vieler froher Gäste bereitet hätte.
Auch wollte unser junger Ankömmling noch vor seiner Abreise das
Seinige tun und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreise zu
einer Wasserlustfahrt.
Man bestieg ein großes, schönes, wohlausgeschmücktes Schiff, eine der
Jachten, die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das
Wasser die Bequemlichkeit des Landes überzutragen suchen.
Man fuhr auf dem großen Strome mit Musik dahin; die Gesellschaft hatte
sich bei heißer Tageszeit in den untern Räumen versammelt, um sich an
Geistes—und Glücksspielen zu ergötzen.
Der junge Wirt, der niemals untätig bleiben konnte, hatte sich ans
Steuer gesetzt, den alten Schiffsmeister abzulösen, der an seiner
Seite eingeschlafen war; und eben brauchte der Wachende alle seine
Vorsicht, da er sich einer Stelle nahte, wo zwei Inseln das Flußbette
verengten und, indem sie ihre flachen Kiesufer bald an der einen, bald
an der andern Seite hereinstreckten, ein gefährliches Fahrwasser
zubereiteten.
Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den
Meister zu wecken, aber er getraute sichs zu und fuhr gegen die Enge.
In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schöne Feindin mit
einem Blumenkranz in den Haaren.
Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden.
"Nimm dies zum Andenken!" rief sie aus.
"Störe mich nicht!" rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing;
"ich bedarf aller meiner Kräfte und meiner Aufmerksamkeit".
-"Ich störe dich nicht weiter", rief sie; "du siehst mich nicht wieder!"
Sie sprachs und eilte nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie
ins Wasser sprang.
Einige Stimmen riefen: "rettet!
Rettet!
Sie ertrinkt".
Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit.
über dem Lärm erwacht der alte Schiffsmeister, will das Ruder
ergreifen, der jüngere es ihm übergeben, aber es ist keine Zeit, die
Herrschaft zu wechseln: das Schiff strandet, und in eben dem
Augenblick, die lästigsten Kleidungsstücke wegwerfend, stürzte er sich
ins Wasser und schwamm der schönen Feinden nach.
Das Wasser ist ein freundliches Element für den, der damit bekannt ist
und es zu behandeln weiß.
Es trug ihn, und der geschickte Schwimmer beherrschte es.
Bald hatte er die vor ihm fortgerissene Schöne erreicht; er faßte sie,
wußte sie zu heben und zu tragen; beide wurden vom Strom gewaltsam
fortgerissen, bis sie die Inseln, die Werder weit hinter sich hatten
und der Fluß wieder breit und gemächlich zu fließen anfing.
Nun erst ermannte, nun erholte er sich aus der ersten zudringenden Not,
in der er ohne Besinnung nur mechanisch gehandelt; er blickte mit
emporstrebendem Haupt umher und ruderte nach Vermögen einer flachen,
buschichten Stelle zu, die sich angenehm und gelegen in den Fluß
verlief.
Dort brachte er seine schöne Beute aufs Trockne; aber kein Lebenshauch
war in ihr zu spüren.
Er war in Verzweiflung, als ihm ein betretener Pfad, der durchs
Gebüsch lief, in die Augen leuchtete.
Er belud sich aufs neue mit der teuren Last, er erblickte bald eine
einsame Wohnung und erreichte sie.
Dort fand er gute Leute, ein junges Ehepaar.
Das Unglück, die Not sprach sich geschwind aus.
Was er nach einiger Besinnung forderte, ward geleistet.
Ein lichtes Feuer brannte, wollne Decken wurden über ein Lager
gebreitet, Pelze, Felle und was Erwärmendes vorrätig war, schnell
herbeigetragen.
Hier überwand die Begierde zu retten jede andre Betrachtung.
Nichts ward versäumt, den schönen, halbstarren, nackten Körper wieder
ins Leben zu rufen.
Es gelang.
Sie schlug die Augen auf, sie erblickte den Freund, umschlang seinen
Hals mit ihren himmlischen Armen.
So blieb sie lange; ein Tränenstrom stürzte aus ihren Augen und
vollendete ihre Genesung.
"Willst du mich verlassen", rief sie aus, "da ich dich so
wiederfinde?"—"Niemals", rief er, "niemals!" und wußte nicht, was er
sagte noch was er tat.
"Nur schone dich", rief er hinzu, "schone dich!
Denke an dich um deinet—und meinetwillen".
Sie dachte nun an sich und bemerkte jetzt erst den Zustand, in dem sie
war.
Sie konnte sich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht schämen; aber
sie entließ ihn gern, damit er für sich sorgen möge; denn noch war,
was ihn umgab, naß und triefend.
Die jungen Eheleute beredeten sich; er bot dem Jüngling und sie der
Schönen das Hochzeitskleid an, das noch vollständig dahing, um ein
Paar von Kopf zu Fuß und von innen heraus zu bekleiden.
In kurzer Zeit waren die beiden Abenteurer nicht nur angezogen,
sondern geputzt.
Sie sahen allerliebst aus, staunten einander an, als sie
zusammentraten, und fielen sich mit unmäßiger Leidenschaft, und doch
halb lächelnd über die Vermummung, gewaltsam in die Arme.
Die Kraft der Jugend und die Regsamkeit der Liebe stellten sie in
wenigen Augenblicken völlig wieder her, und es fehlte nur die Musik,
um sie zum Tanz aufzufordern.
Sich vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise
in eine Wildnis, aus der Verzweiflung zum Entzücken, aus der
Gleichgültigkeit zur Neigung, zur Leidenschaft gefunden zu haben,
alles in einem Augenblick—der Kopf wäre nicht hinreichend, das zu
fassen; er würde zerspringen oder sich verwirren.
Hiebei muß das Herz das Beste tun, wenn eine solche überraschung
ertragen werden soll.
Ganz verloren eins ins andere, konnten sie erst nach einiger Zeit an
die Angst, an die Sorgen der Zurückgelassenen denken, und fast konnten
sie selbst nicht ohne Angst, ohne Sorge daran denken, wie sie jenen
wiederbegegnen wollten.
"Sollen wir fliehen?
Sollen wir uns verbergen?" sagte der Jüngling.
"Wir wollen zusammenbleiben", sagte sie, indem sie an seinem Hals hing.
Der Landmann, der von ihnen die Geschichte des gestrandeten Schiffs
vernommen hatte, eilte, ohne weiter zu fragen, nach dem Ufer.
Das Fahrzeug kam glücklich einhergeschwommen; es war mit vieler Mühe
losgebracht worden.
Man fuhr aufs ungewisse fort, in Hoffnung, die Verlornen
wiederzufinden.
Als daher der Landmann mit Rufen und Winken die Schiffenden aufmerksam
machte, an eine Stelle lief, wo ein vorteilhafter Landungsplatz sich
zeigte, und mit Winken und Rufen nicht aufhörte, wandte sich das
Schiff nach dem Ufer, und welch ein Schauspiel ward es, da sie
landeten!
Die Eltern der beiden Verlobten drängten sich zuerst ans Ufer; den
liebenden Bräutigam hatte fast die Besinnung verlassen.
Kaum hatten sie vernommen, daß die lieben Kinder gerettet seien, so
traten diese in ihrer sonderbaren Verkleidung aus dem Busch hervor.
Man erkannte sie nicht eher, als bis sie ganz herangetreten waren.
"Wenn seh ich?" riefen die Mütter.
"Was seh ich?" riefen die Väter.
Die Geretteten warfen sich vor ihnen nieder.
"Eure Kinder!" riefen sie aus, "ein Paar".
-"Verzeiht!" rief das Mädchen.
"Gebt uns Euren Segen!" rief der Jüngling.
"Gebt uns Euren Segen!" riefen beide, da alle Welt staunend verstummte.
"Euren Segen!" ertönte es zum drittenmal, und wer hätte den versagen
können!
Der Erzählende machte eine Pause oder hatte vielmehr schon geendigt,
als er bemerken mußte, daß Charlotte höchst bewegt sei; ja sie stand
auf und verließ mit einer stummen Entschuldigung das Zimmer; denn die
Geschichte war ihr bekannt.
Diese Begebenheit hatte sich mit dem Hauptmann und einer Nachbarin
wirklich zugetragen, zwar nicht ganz wie sie der Engländer erzählte,
doch war sie in den Hauptzügen nicht entstellt, nur im einzelnen mehr
ausgebildet und ausgeschmückt, wie es dergleichen Geschichten zu gehen
pflegt, wenn sie erst durch den Mund der Menge und sodann durch die
Phantasie eines geist—und geschmackreichen Erzählers durchgehen.
Es bleibt zuletzt meist alles und nichts, wie es war.
Ottilie folgte Charlotten, wie es die beiden Fremden selbst verlangten,
und nun kam der Lord an die Reihe zu bemerken, daß vielleicht
abermals ein Fehler begangen, etwas dem Hause Bekanntes oder gar
Verwandtes erzählt worden.
"Wir müssen uns hüten", fuhr er fort, "daß wir nicht noch mehr übles
stiften.
Für das viele Gute und Angenehme, das wir hier genossen, scheinen wir
den Bewohnerinnen wenig Glück zu bringen; wir wollen uns auf eine
schickliche Weise zu empfehlen suchen".
"Ich muß gestehen", versetzte der Begleiter, "daß mich hier noch etwas
anderes festhält, ohne dessen Aufklärung und nähere Kenntnis ich
dieses Haus nicht gern verlassen möchte.
Sie waren gestern, Mylord, als wir mit der tragbaren dunklen Kammer
durch den Park zogen, viel zu beschäftigt, sich einen wahrhaft
malerischen Standpunkt auszuwählen, als daß Sie hätten bemerken sollen,
was nebenher vorging.
Sie lenkten vom Hauptwege ab, um zu einem wenig besuchten Platze am
See zu gelangen, der Ihnen ein reizendes Gegenüber anbot.
Ottilie, die uns begleitete, stand an zu folgen und bat, sich auf dem
Kahne dorthin begeben zu dürfen.
Ich setzte mich mit ihr ein und hatte meine Freude an der Gewandtheit
der schönen Schifferin.
Ich versicherte ihr, daß ich seit der Schweiz, wo auch die reizendsten
Mädchen die Stelle des Fährmanns vertreten, nicht so angenehm sei über
die Wellen geschaukelt worden, konnte mich aber nicht enthalten, sie
zu fragen, warum sie eigentlich abgelehnt, jenen Seitenweg zu machen;
denn wirklich war in ihrem Ausweichen eine Art von ängstlicher
Verlegenheit.
'Wenn Sie mich nicht auslachen wollen', versetzte sie freundlich, 'so
kann ich Ihnen darüber wohl einige Auskunft geben, obgleich selbst für
mich dabei ein Geheimnis obwaltet.
Ich habe jenen Nebenweg niemals betreten, ohne daß mich ein ganz
eigener Schauer überfallen hätte, den ich sonst nirgends empfinde und
den ich mir nicht zu erklären weiß.
Ich vermeide daher lieber, mich einer solchen Empfindung auszusetzen,
um so mehr, als sich gleich darauf ein Kopfweh an der linken Seite
einstellt, woran ich sonst auch manchmal leide'.
Wir landeten, Ottilie unterhielt sich mit Ihnen, und ich untersuchte
indes die Stelle, die sie mir aus der Ferne deutlich angegeben hatte.
Aber wie groß war meine Verwunderung, als ich eine sehr deutliche Spur
von Steinkohlen entdeckte, die mich überzeugt, man würde bei einigem
Nachgraben vielleicht ein ergiebiges Lager in der Tiefe finden.
Verzeihen Sie, Mylord, ich sehe Sie lächeln und weiß recht gut, daß
Sie mir eine leidenschaftliche Aufmerksamkeit auf diese Dinge, an die
Sie keinen Glauben haben, nur als weiser Mann und als Freund nachsehen;
aber es ist mir unmöglich, von hier zu scheiden, ohne das schöne Kind
auch die Pendelschwingungen versuchen zu lassen".
Es konnte niemals fehlen, wenn die Sache zur Sprache kam, daß der Lord
nicht seine Gründe dagegen abermals wiederholte, welche der Begleiter
bescheiden und geduldig aufnahm, aber doch zuletzt bei seiner Meinung,
bei seinen Wünschen verharrte.
Auch er gab wiederholt zu erkennen, daß man deswegen, weil solche
Versuche nicht jedermann gelängen, die Sache nicht aufgeben, ja
vielmehr nur desto ernsthafter und gründlicher untersuchen müßte, da
sich gewiß noch manche Bezüge und Verwandtschaften unorganischer Wesen
untereinander, organischer gegen sie und abermals untereinander
offenbaren würden, die uns gegenwärtig verborgen seien.
Er hatte seinen Apparat von goldnen Ringen, Markasiten und andern
metallischen Substanzen, den er in einem schönen Kästchen immer bei
sich führte, schon ausgebreitet und ließ nun Metalle, an Fäden
schwebend, über liegende Metalle zum Versuche nieder.
"Ich gönne Ihnen die Schadenfreude, Mylord", sagte er dabei, "die ich
auf Ihrem Gesichte lese, daß sich bei mir und für mich nichts bewegen
will.
Meine Operation ist aber auch nur ein Vorwand.
Wenn die Damen zurückkehren, sollen sie neugierig werden, was wir
Wunderliches hier beginnen".
Die Frauenzimmer kamen zurück.
Charlotte verstand sogleich, was vorging.
"Ich habe manches von diesen Dingen gehört", sagte sie, "aber niemals
eine Wirkung gesehen.
Da Sie alles so hübsch bereit haben, lassen Sie mich versuchen, ob es
mir nicht auch anschlägt".
Sie nahm den Faden in die Hand, und da es ihr Ernst war, hielt sie ihn
stet und ohne Gemütsbewegung; allein auch nicht das mindeste Schwanken
war zu bemerken.
Darauf ward Ottilie veranlaßt.
Sie hielt den Pendel noch ruhiger, unbefangener, unbewußter über die
unterliegenden Metalle.
Aber in dem Augenblicke ward das Schwebende wie in einem entschiedenen
Wirbel fortgerissen und drehte sich, je nachdem man die Unterlage
wechselte, bald nach der einen, bald nach der andern Seite, jetzt in
Kreisen, jetzt in Ellipsen, oder nahm seinen Schwung in graden Linien,
wie es der Begleiter nur erwarten konnte, ja über alle seine Erwartung.
Der Lord selbst stutzte einigermaßen, aber der andere konnte vor Lust
und Begierde gar nicht enden und bat immer um Wiederholung und
Vermannigfaltigung der Versuche.
Ottilie war gefällig genug, sich in sein Verlangen zu finden, bis sie
ihn zuletzt freundlich ersuchte, er möge sie entlassen, weil ihr
Kopfweh sich wieder einstelle.
Er, daüber verwundert, ja entzückt, versicherte ihr mit Enthusiasmus,
daß er sie von diesem übel völlig heilen wolle, wenn sie sich seiner
Kurart anvertraue.
Man war einen Augenblick ungewiß; Charlotte aber, die geschwind
begriff, wovon die Rede sei, lehnte den wohlgesinnten Antrag ab, weil
sie nicht gemeint war, in ihrer Umgebung etwas zuzulassen, wovor sie
immerfort eine starke Apprehension gefühlt hatte.
Die Fremden hatten sich entfernt und, ungeachtet man von ihnen auf
eine sonderbare Weise berührt worden war, doch den Wunsch
zurückgelassen, daß man sie irgendwo wieder antreffen möchte.
Charlotte benutzte nunmehr die schönen Tage, um in der Nachbarschaft
ihre Gegenbesuche zu enden, womit sie kaum fertig werden konnte, indem
sich die ganze Landschaft umher, einige wahrhaft teilnehmend, andre
bloß der Gewohnheit wegen, bisher fleißig um sie bekümmert hatten.
Zu Hause belebte sie der Anblick des Kindes; es war gewiß jeder Liebe,
jeder Sorgfalt wert.
Man sah in ihm ein wunderbares, ja ein Wunderkind, höchst erfreulich
dem Anblick, an Größe, Ebenmaß, Stärke und Gesundheit; und was noch
mehr in Verwunderung setzte, war jene doppelte ähnlichkeit, die sich
immer mehr entwickelte.
Den Gesichtszügen und der ganzen Form nach glich das Kind immer mehr
dem Hauptmann, die Augen ließen sich immer weniger von Ottiliens Augen
unterscheiden.
Durch diese sonderbare Verwandtschaft und vielleicht noch mehr durch
das schöne Gefühl der Frauen geleitet, welche das Kind eines geliebten
Mannes, auch von einer andern, mit zärtlicher Neigung umfangen, ward
Ottilie dem heranwachsenden Geschöpf soviel als eine Mutter oder
vielmehr eine andre Art von Mutter.
Entfernte sich Charlotte, so blieb Ottilie mit dem Kinde und der
Wärterin allein.
Nanny hatte sich seit einiger Zeit, eifersüchtig auf den Knaben, dem
ihre Herrin alle Neigung zuzuwenden schien, trotzig von ihr entfernt
und war zu ihren Eltern zurückgekehrt.
Ottilie fuhr fort, das Kind in die freie Luft zu tragen, und gewöhnte
sich an immer weitere Spaziergänge.
Sie hatte das Milchfläschchen bei sich, um dem Kinde, wenn es nötig,
seine Nahrung zu reichen.
Selten unterließ sie dabei, ein Buch mitzunehmen, und so bildete sie,
das Kind auf dem Arm, lesend und wandelnd, eine gar anmutige Penserosa.
Der Hauptzweck des Feldzugs war erreicht und Eduard, mit Ehrenzeichen
geschmückt, rühmlich entlassen.
Er begab sich sogleich wieder auf jenes kleine Gut, wo er genaue
Nachrichten von den Seinigen fand, die er, ohne daß sie es bemerkten
und wußten, scharf hatte beobachten lassen.
Sein stiller Aufenthalt blickte ihm aufs freundlichste entgegen; denn
man hatte indessen nach seiner Anordnung manches eingerichtet,
gebessert und gefördert, sodaß die Anlagen und Umgebungen, was ihnen
an Weite und Breite fehlte, durch das Innere und zunächst Genießbare
ersetzten.
Eduard, durch einen raschen Lebensgang an entschiedenere Schritte
gewöhnt, nahm sich nunmehr vor, dasjenige auszuführen, was er lange
genug zu überdenken Zeit gehabt hatte.
Vor allen Dingen berief er den Major.
Die Freude des Wiedersehens war groß.
Jugendfreundschaften wie Blutsverwandtschaften haben den bedeutenden
Vorteil, daß ihnen Irrungen und Mißverständnisse, von welcher Art sie
auch seien, niemals von Grund aus schaden und die alten Verhältnisse
sich nach einiger Zeit wiederherstellen.
Zum frohen Mepfang erkundigte sich Eduard nach dem Zustande des
Freundes und vernahm, wie vollkommen nach seinen Wünschen ihn das
Glück begünstigt habe.
Halb scherzend vertraulich fragte Eduard sodann, ob nicht auch eine
schöne Verbindung im Werke sei.
Der Freund verneinte es mit bedeutendem Ernst.
"Ich kann und darf nicht hinterhaltig sein", fuhr Eduard fort; "ich
muß dir meine Gesinnungen und Vorsätze sogleich entdecken.
Du kennst meine Leidenschaft für Ottilien und hast längst begriffen,
daß sie es ist, die mich in diesen Feldzug gestürzt hat.
Ich leugne nicht, daß ich gewünscht hatte, ein Leben loszuwerden, das
mir ohne sie nichts weiter nütze war; allein zugleich muß ich dir
gestehen, daß ich es nicht über mich gewinnen konnte, vollkommen zu
verzweifeln.
Das Glück mit ihr war so schön, so wünschenswert, daß es mir unmöglich
blieb, völlig Verzicht darauf zu tun.
So manche tröstliche Ahnung, so manches heitere Zeichen hatte mich in
dem Glauben, in dem Wahn bestärkt, Ottilie könne die Meine werden.
Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bei der Grundsteinlegung in
die Lüfte geworfen, ging nicht zu Trümmern; es ward aufgefangen und
ist wieder in meinen Händen.
'So will ich mich denn selbst', rief ich mir zu, als ich an diesem
einsamen Orte soviel zweifelhafte Stunden verlebt hatte, 'mich selbst
will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsre
Verbindung möglich sei oder nicht.
Ich gehe hin und suche den Tod, nicht als ein Rasender, sondern als
einer, der zu leben hofft.
Ottilie soll der Preis sein, um den ich kämpfe; sie soll es sein, die
ich hinter jeder feindlichen Schlachtordnung, in jeder Verschanzung,
in jeer belagerten Festung zu gewinnen, zu erobern hoffe.
Ich will Wunder tun mit dem Wunsche, verschont zu bleiben, im Sinne,
Ottilien zu gewinnen, nicht sie zu verlieren'.
Diese Gefühle haben mich geleitet, sie haben mir durch alle Gefahren
beigestanden; aber nun finde ich mich auch wie einen, der zu seinem
Ziele gelangt ist, der alle Hindernisse überwunden hat, dem nun nichts
mehr im Wege steht.
Ottilie ist mein, und was noch zwischen diesem Gedanken und der
Ausführung liegt, kann ich nur für nichts bedeutend ansehen".
"Du löschest", versetzte der Major, "mit wenig Zügen alles aus, was
man dir entgegensetzen könnte und sollte; und doch muß es wiederholt
werden.
Das Verhältnis zu deiner Frau in seinem ganzen Werte dir zurückzurufen,
überlasse ich dir selbst; aber du bist es ihr, du bist es dir
schuldig, dich hierüber nicht zu verdunkeln.
Wie kann ich aber nur gedenken, daß euch ein Sohn gegeben ist, ohne
zugleich auszusprechen, daß ihr einander auf immer angehört, daß ihr
um dieses Wesens willen schuldig seid, vereint zu leben, damit ihr
vereint für seine Erziehung und für sein künftiges Wohl sorgen möget".
"Es ist bloß ein Dünkel der Eltern", versetzte Eduard, "wenn sie sich
einbilden, daß ihr Dasein für die Kinder so nötig sei.
Alles, was lebt, findet Nahrung und Beihülfe; und wenn der Sohn nach
dem frühen Tode des Vaters keine so bequeme, so begünstigte Jugend hat,
so gewinnt er vielleicht ebendeswegen an schnellerer Bildung für die
Welt, durch zeitiges Anerkennen, daß er sich in andere schicken muß,
was wir denn doch früher oder später alle lernen müssen.
Und hievon ist ja die Rede gar nicht: wir sind reich genug, um mehrere
Kinder zu versorgen, und es ist keineswegs Pflicht noch Wohltat, auf
Ein Haupt so viele Güter zu häufen".
Als der Major mit einigen Zügen Charlottens Wert und Eduards lange
bestandenes Verhältnis zu ihr anzudeuten gedachte, fiel ihm Eduard
hastig in die Rede: "wir haben eine Torheit begangen, die ich nur
allzuwohl einsehe.
Wer in einem gewissen Alter frühere Jugendwünsche und Hoffnungen
realisieren will, betriegt sich immer; denn jedes Jahrzehnt des
Menschen hat sein eigenes Glück, seine eigenen Hoffnungen und
Aussichten.
Wehe dem Menschen, der vorwärts oder rückwärts zu greifen durch
Umstände oder durch Wahn veranlaßt wird!
Wir haben eine Torheit begangen; soll sie es denn fürs ganze Leben
sein?
Sollen wir uns aus irgendeiner Art von Bedenklichkeit dasjenige
versagen, was uns die Sitten der Zeit nicht absprechen?
In wie vielen Dingen nimmt der Mensch seinen Vorsatz, seine Tat zurück,
und hier gerade sollte es nicht geschehen, wo vom Ganzen und nicht
vom Einzelnen, wo nicht von dieser oder jener Bedingung des Lebens, wo
vom ganzen Komplex des Lebens die Rede ist!" Der Major verfehlte
nicht, auf eine ebenso geschickte als nachdrückliche Weise Eduarden
die verschiedenen Bezüge zu seiner Gemahlin, zu den Familien, zu der
Welt, zu seinen Besitzungen vorzustellen; aber es gelang ihm nicht,
irgendeine Teilnahme zu erregen.
"Alles dieses, mein Freund", erwiderte Eduard, "ist mir vor der Seele
vorbeigegangen, mitten im Gewühl der Schlacht, wenn die Erde vom
anhaltenden Donner bebte, wenn die Kugeln sausten und pfiffen, rechts
und links die Gefährten niederfielen, mein Pferd getroffen, mein Hut
durchlöchert ward; es hat mir vorgeschwebt beim stillen nächtlichen
Feuer unter dem gestirnten Gewölbe des Himmels.
Dann traten mir alle meine Verbindungen vor die Seele; ich habe sie
durchgedacht, durchgefühlt; ich habe mir zugeeignet, ich habe mich
abgefunden, zu wiederholten Malen, und nun für immer.
In solchen Augenblicken, wie kann ich dirs verschweigen, warst auch du
mir gegenwärtig, auch du gehörtest in meinen Kreis; und gehören wir
denn nicht schon lange zueinander?
Wenn ich dir etwas schluldig geworden, so komme ich jetzt in den Fall,
dir es mit Zinsen abzutragen; wenn du mir je etwas schuldig geworden,
so siehst du dich nun imstande, mir es zu vergelten.
Ich weiß, du liebst Charlotten, und sie verdient es; ich weiß, du bist
ihr nicht gleichgültig, und warum sollte sie deinen Wert nicht
erkennen!
Nimm sie von meiner Hand, führe mir Ottilien zu!
Und wir sind die glücklichsten Menschen auf der Erde".
"Eben weil du mich mit so hohen Gaben bestechen willst", versetzte der
Major, "muß ich desto vorsichtiger, desto strenger sein.
Anstatt daß dieser Vorschlag, den ich still verehre, die Sache
erleichtern möchte, erschwert er sie vielmehr.
Es ist, wie von dir, nun auch von mir die Rede, und so wie von dem
Schicksal, so auch von dem guten Namen, von der Ehre zweier Männer,
die, bis jetzt unbescholten, durch diese wunderliche Handlung, wenn
wir sie auch nicht anders nennen wollen, in Gefahr kommen, vor der
Welt in einem höchst seltsamen Lichte zu erscheinen".
"Eben daß wir unbescholten sind", versetzte Eduard, "gibt uns das
Recht, uns auch einmal schelten zu lassen.
Wer sich sein ganzes Leben als einen zuverlässigen Mann bewiesen, der
macht eine Handlung zuverlässig, die bei andern zweideutig erscheinen
würde.
Was mich betrifft, ich fühle mich durch die letzten Prüfungen, die ich
mir auferlegt, durch die schwierigen, gefahrvollen Taten, die ich für
andere getan, berechtigt, auch etwas für mich zu tun. Was dich und
Charlotten betrifft, so sei es der Zukunft anheimgegeben; mich aber
wirst du, wird niemand von meinem Vorsatze zurückhalten.
Will man mir die Hand bieten, so bin ich auch wieder zu allem erbötig;
will man mich mir selbst überlassen oder mir wohl gar entgegen sein,
so muß ein Extrem entstehen, es werde auch, wie es wolle".
Der Major hielt es für seine Pflicht, dem Vorsatz Eduards solange als
möglich Widerstand zu leisten, und er bediente sich nun gegen seinen
Freund einer klugen Wendung, indem er nachzugeben schien und nur die
Form, den Geschäftsgang zur Sprache brachte, durch welchen man diese
Trennung, diese Verbindungen erreichen sollte.
Da trat denn so manches Unerfreuliche, Beschwerliche, Unschickliche
hervor, daß sich Eduard in die schlimmste Laune versetzt fühlte.
"Ich sehe wohl", rief dieser endlich, "nicht allein von Feinden,
sondern auch von Freunden muß, was man wünscht, erstürmt werden.
Das, was ich will, was mir unentbehrlich ist, halte ich fest im Auge;
ich werde es ergreifen und gewiß bald und behende.
Dergleichen Verhältnisse, weiß ich wohl, heben sich nicht auf und
bilden sich nicht, ohne daß manches falle, was steht, ohne daß manches
weiche, was zu beharren Lust hat.
Durch überlegung wird so etwas nicht geendet; vor dem Verstande sind
alle Rechte gleich, und auf die steigende Waagschale läßt sich immer
wieder ein Gegengewicht legen.
Entschließe dich also, mein Freund, für mich, für dich zu handeln, für
mich, für dich diese Zustände zu entwirren, aufzulösen, zu verknüpfen!
Laß dich durch keine Betrachtungen abhalten; wir haben die Welt
ohnehin schon von uns reden machen; sie wird noch einmal von uns reden,
uns sodann, wie alles übrige, was aufhört neu zu sein, vergessen und
uns gewähren lassen, wie wir können, ohne weitern Teil an uns zu
nehmen".
Der Major hatte keinen andern Ausweg und mußte endlich zugeben, daß
Eduard ein für allemal die Sache als etwas Bekanntes und
Vorausgesetztes behandelte, daß er, wie alles anzustellen sei, im
einzelnen durchsprach und sich über die Zukunft auf das heiterste,
sogar in Scherzen erging.
Dann wieder ernsthaft und nachdenklich fuhr er fort: "wollten wir uns
der Hoffnung, der Erwartung überlassen, daß alles sich von selbst
wieder finden, daß der Zufall uns leiten und begünstigen solle, so
wäre dies ein sträflicher Selbstbetrug.
Auf diese Weise können wir uns unmöglich retten, unsre allseitige Ruhe
nicht wiederherstellen; und wie sollte ich trösten können, da ich
unschuldig die Schuld an allem bin!
Durch meine Zudringlichkeit habe ich Charlotten vermocht, dich ins
Haus zu nehmen, und auch Ottilie ist nur in Gefolg von dieser
Veränderung bei uns eingetreten.
Wir sind nicht mehr Herr über das, was daraus entsprungen ist, aber
wir sind Herr, es unschädlich zu machen, die Verhältnisse zu unserm
Glücke zu leiten.
Magst du die Augen von den schönen und freundlichen Aussichten
abwenden, die ich uns eröffne, magst du mir, magst du uns allen ein
trauriges Entsagen gebieten, insofern du dirs möglich denkst, insofern
es möglich wäre: ist denn nicht auch alsdann, wenn wir uns vornehmen,
in die alten Zustände zurückzukehren, manches Unschickliche, Unbequeme,
Verdrießliche zu übertragen, ohne daß irgend etwas Gutes, etwas
Heiteres daraus entspränge?
Würde der glückliche Zustand, in dem du dich befindest, dir wohl
Freude machen, wenn du gehindert wärst, mich zu besuchen, mit mir zu
leben?
Und nach dem, was vorgegangen ist, würde es doch immer peinlich sein.
Charlotte und ich würden mit allem unserm Vermögen uns nur in einer
traurigen Lage befinden.
Und wenn du mit andern Weltmenschen glauben magst, daß Jahre, daß
Entfernung solche Empfindungen abstumpfen, so tief eingegrabene Züge
auslöschen, so ist ja eben von diesen Jahren die Rede, die man nicht
in Schmerz und Entbehren, sondern in Freude und Behagen zubringen will.
Und nun zuletzt noch das Wichtigste auszusprechen: wenn wir auch
unserm äußern und innern Zustande nach das allenfalls abwarten könnten,
was soll aus Ottilien werden, die unser Haus verlassen, in der
Gesellschaft unserer Vorsorge entbehren und sich in der verruchten,
kalten Welt jämmerlich herumdrücken müßte!
Male mir einen Zustand, worin Ottilie ohne mich, ohne uns glücklich
sein könnte, dann sollst du ein Argument ausgesprochen haben, das
stärker ist als jedes andre, das ich, wenn ichs auch nicht zugeben,
mich ihm nicht ergeben kann, dennoch recht gern aufs neue in
Betrachtung und überlegung ziehen will".
Diese Aufgabe war so leicht nicht zu lösen, wenigstens fiel dem
Freunde hierauf keine hinlängliche Antwort ein, und es blieb ihm
nichts übrig, als wiederholt einzuschärfen, wie wichtig, wie
bedenklich und in manchem Sinne gefährlich das ganze Unternehmen sei,
und daß man wenigstens, wie es anzugreifen wäre, auf das ernstlichste
zu bedenken habe.
Eduard ließ sichs gefallen, doch nur unter der Bedingung, daß ihn der
Freund nicht eher verlassen wolle, als bis sie über die Sache völlig
einig geworden und die ersten Schritte getan seien.
Völlig fremde und gegeneinander gleichgültige Menschen, wenn sie eine
Zeitlang zusammenleben, kehren ihr Inneres wechselseitig heraus, und
es muß eine gewisse Vertraulichkeit entstehen.
Um so mehr läßt sich erwarten, daß unsern beiden Freunden, indem sie
wieder nebeneinander wohnten, täglich und stündlich zusammen umgingen,
gegenseitig nichts verborgen blieb.
Sie wiederholten das Andenken ihrer früheren Zustände, und der Major
verhehlte nicht, daß Charlotte Eduarden, als er von Reisen
zurückgekommen, Ottilien zugedacht, daß sie ihm das schöne Kind in der
Folge zu vermählen gemeint habe.
Eduard, bis zur Verwirrung entzückt über diese Entdeckung, sprach ohne
Rückhalt von der gegenseitigen Neigung Charlottens und des Majors, die
er, weil es ihm gerade bequem und günstig war, mit lebhaften Farben
ausmalte.
Ganz leugnen konnte der Major nicht und nicht ganz eingestehen; aber
Eduard befestigte, bestimmte sich nur mehr.
Er dachte sich alles nicht als möglich, sondern als schon geschehen.
Alle Teile brauchten nur in das zu willigen, was sie wünschten; eine
Scheidung war gewiß zu erlangen; eine baldige Verbindung sollte folgen,
und Eduard wollte mit Ottilien reisen.
Unter allem, was die Einbildungskraft sich Angenehmes ausmalt, ist
vielleicht nichts Reizenderes, als wenn Liebende, wenn junge Gatten
ihr neues, frisches Verhältnis in einer neuen, frischen Welt zu
genießen und einen dauernden Bund an soviel wechselnden Zuständen zu
prüfen und zu bestätigen hoffen.
Der Major und Charlotte sollten unterdessen unbeschränkte Vollmacht
haben, alles, was sich auf Besitz, Vermögen und die irdischen
wünschenswerten Einrichtungen bezieht, dergestalt zu ordnen und nach
Recht und Billigkeit einzuleiten, daß alle Teile zufrieden sein
könnten.
Worauf jedoch Eduard am allrmeisten zu fußen, wovon er sich den
größten Vorteil zu versprechen schien, war dies: da das Kind bei der
Mutter bleiben sollte, so würde der Major den Knaben erziehen, ihn
nach seinen Einsichten leiten, seine Fähigkeiten entwickeln können.
Nicht umsonst hatte man ihm dann in der Taufe ihren beiderseitigen
Namen Otto gegeben.
Das alles war bei Eduarden so fertig geworden, daß er keinen Tag
länger anstehen mochte, der Ausführung näherzutreten.
Sie gelangten auf ihrem Wege nach dem Gute zu einer kleinen Stadt, in
der Eduard ein Haus besaß, wo er verweilen und die Rückkunft des
Majors abwarten wollte.
Doch konnte er sich nicht überwinden, daselbst sogleich abzusteigen,
und begleitete den Freund noch durch den Ort.
Sie waren beide zu Pferde, und in bedeutendem Gespräch verwickelt
ritten sie zusammen weiter.
Auf einmal erblickten sie in der Ferne das neue Haus auf der Höhe,
dessen rote Ziegeln sie zum erstenmal blinken sahen.
Eduarden ergreift eine unwiderstehliche Sehnsucht; es soll noch diesen
Abend alles abgetan sein.
In einem ganz nahen Dorfe will er sich verborgen halten; der Major
soll die Sache Charlotten dringend vorstellen, ihre Vorsicht
überraschen und durch den unerwarteten Antrag sie zu freier Eröffnung
ihrer Gesinnung nötigen.
Denn Eduard, der seine Wünsche auf sie übergetragen hatte, glaubte
nicht anders, als daß er ihren entschiedenen Wünschen entgegenkomme,
und hoffte eine so schnelle Einwilligung von ihr, weil er keinen
andern Willen haben konnte.
Er sah den glücklichen Ausgang freudig vor Augen, und damit dieser dem
Lauernden schnell verkündigt würde, sollten einige Kanonenschläge
losgebrannt werden und, wäre es Nacht geworden, einige Raketen steigen.
Der Major ritt nach dem Schlosse zu.
Er fand Charlotten nicht, sondern erfuhr vielmehr, daß sie gegenwärtig
oben auf dem neuen Gebäude wohne, jetzt aber einen Besuch in der
Nachbarschaft ablege, von welchem sie heute wahrscheinlich nicht so
bald nach Hause komme.
Er ging in das Wirtshaus zurück, wohin er sein Pferd gestellt hatte.
Eduard indessen, von unüberwindlicher Ungeduld getrieben, schlich aus
seinem Hinterhalte durch einsame Pfade, nur Jägern und Fischern
bekannt, nach seinem Park und fand sich gegen Abend im Gebüsch in der
Nachbarschaft des Sees, dessen Spiegel er zum erstenmal vollkommen und
rein erblickte.
Ottilie hatte diesen Nachmittag einen Spaziergang an den See gemacht.
Sie trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Gewohnheit.
So gelangte sie zu den Eichen bei der überfahrt.
Der Knabe war eingeschlafen; sie setzte sich, legte ihn neben sich
nieder und fuhr zu lesen.
Das Buch war eins von denen, die ein zartes Gemüt an sich ziehen und
nicht wieder loslassen.
Sie vergaß Zeit und Stunde und dachte nicht, daß sie zu Lande noch
einen weiten Rückweg nach dem neuen Gebäude habe; aber sie saß
versenkt in ihr Buch, in sich selbst, so liebenswürdig anzusehen, daß
die Bäume, die Sträuche ringsumher hätten belebt, mit Augen begabt
sein sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu erfreuen.
Und eben fiel ein rötliches Streiflicht der sinkenden Sonne hinter ihr
her und vergoldete Wange und Schulter.
Eduard, dem es bisher gelungen war, unbemerkt so weit vorzudringen,
der seinen Park leer; die Gegend einsam fand, wagte sich immer weiter.
Endlich bricht er durch das Gebüsch bei den Eichen, er sieht Ottilien,
sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Füßen.
Nach einer langen, stummen Pause, in der sich beide zu fassen suchen,
erklärt er ihr mit wenig Worten, warum und wie er hieher gekommen.
Er habe den Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schicksal
werde vielleicht in diesem Augenblick entschieden.
Nie habe er an ihrer Liebe gezweifelt, sie gewiß auch nie an der
seinigen.
Er bitte sie um ihre Winwilligung.
Sie zauderte, er beschwur sie; er wollte seine alten Rechte geltend
machen und sie in seine Arme schließen; sie deutete auf das Kind hin.
Eduard erblickt es und staunt.
"Großer Gott!" ruft er aus, "wenn ich Ursache hätte, an meiner Frau,
an meinem Freunde zu zweifeln, so würde diese Gestalt fürchterlich
gegen sie zeugen.
Ist dies nicht die Bildung des Majors?
Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen".
"Nicht doch!" versetzte Ottilie; "alle Welt sagt, es gleiche mir".
-"Wär es möglich?" versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das
Kind die Augen auf, zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief
und freundlich.
Der Knabe sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu
kennen, die vor ihm standen.
Eduard warf sich bei dem Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien.
"Du bists!" rief er aus, "deine Augen sinds.
Ach!
Aber laß mich nur in die deinigen schaun.
Laß mich einen Schleier werfen über jene unselige Stunde, die diesem
Wesen das Dasein gab.
Soll ich deine reine Seele mit dem unglücklichen Gedanken erschrecken,
daß Mann und Frau entfremdet sich einander ans Herz drücken und einen
gesetzlichen Bund durch lebhafte Wünsche entheiligen können?
Oder ja, da wir einmal so weit sind, da mein Verhältnis zu Charlotten
getrennt werden muß, da du die Meinige sein wirst, warum soll ich es
nicht sagen?
Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus
einem doppelten Ehbruch erzeugt!
Es trennt mich von meiner Gattin und meine Gattin von mir, wie es uns
hätte verbinden sollen.
Mag es denn gegen mich zeugen, mögen diese herrlichen Augen den
deinigen sagen, daß ich in den Armen einer andern dir gehörte; mögest
du fühlen, Ottilie, recht fühlen, daß ich jenen Fehler, jenes
Verbrechen nur in deinen Armen abbüßen kann!"
"Horch!" rief er aus, indem er aufsprang und einen Schuß zu hören
glaubte, als das Zeichen, das der Major geben sollte.
Es war ein Jäger, der im benachbarten Gebirg geschossen hatte.
Es erfolgte nichts weiter; Eduard war ungeduldig.
Nun erst sah Ottilie, daß die Sonne sich hinter die Berge gesenkt
hatte.
Noch zuletzt blinkte sie von den Fenstern des obern Gebäudes zurück.
"Entferne dich, Eduard!" rief Ottilie".
"O lange haben wir entbehrt, so lange geduldet.
Bedenke, was wir beide Charlotten schuldig sind.
Sie muß unser Schicksal entscheiden, laß uns ihr nicht vorgreifen.
Ich bin die Deine, wenn sie es vergönnt; wo nicht, so muß ich dir
entsagen.
Da du die Entscheidung so nah glaubst, so laß uns erwarten.
Geh in das Dorf zurück, wo der Major dich vermutet.
Wie manches kann vorkommen, das eine Erklärgung fordert.
Ist es wahrscheinlich, daß ein roher Kanonenschlag dir den Erfolg
seiner Unterhandlungen verkünde?
Vielleicht sucht er dich auf in diesem Augenblick.
Er hat Charlotten nicht getroffen, das weiß ich; er kann ihr
entgegengegangen sein, denn man wußte, wo sie hin war.
Wie vielerlei Fälle sind möglich!
Laß mich!
Jetzt muß sie kommen.
Sie erwartet mich mit dem Kinde dort oben".
Ottilie sprach in Hast.
Sie rief sich alle Möglichkeiten zusammen. Sie war glücklich in
Eduards Nähe und fühlte, daß sie ihn jetzt entfernen müsse.
"Ich bitte, ich beschwöre dich, Geliebter!" ief sie aus, "kehre zurück
und erwarte den Major!"—"Ich gehorche deinen Befehlen", rief Eduard,
indem er sie erst leidenschaftlich anblickte und sie dann fest in
seine Arme schloß.
Sie umschlang ihn mit den ihrigen und drückte ihn auf das zärtlichste
an ihre Brust.
Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre
Häupter weg.
Sie wähnten, sie glaubten einander anzugehören; sie wechselten zum
erstenmal entschiedene, freie Küsse und trennten sich gewaltsam und
schmerzlich.
Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte schon und duftete feucht
um den See.
Ottilie stand verwirrt und bewegt; sie sah nach dem Berghause hinüber
und glaubte Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu sehen.
Der Umweg war groß am See hin; sie kannte Charlottens ungeduldiges
Haaren nach dem Kinde.
Die Platanen sieht sie gegen sich über, nur ein Wasserraum trennt sie
von dem Pfade, der sogleich zu dem Gebäude hinaufführt.
Mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den Augen.
Die Bedenklichkeit, mit dem Kinde sich aufs Wasser zu wagen,
verschwindet in diesem Drange.
Sie eilt nach dem Kahn, sie fühlt nicht, daß ihr Herz pocht, daß ihre
Füße schwanken, daß ihr die Sinne zu vergehen drohn.
Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab.
Sie muß Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt
und gleitet eine Strecke seewärts.
Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der
rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn.
Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten
will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser.
Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert
sie selbst am Aufstehen.
Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich
aufzurichten; endlich gelingts, sie zieht das Kind aus dem Wasser,
aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu atmen.
In dem Augenblick kehrt ihre ganze Besonnenheit zurück, aber um desto
größer ist ihr Schmerz.
Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das Ruder schwimmt fern,
sie erblickt niemanden am Ufer, und auch was hätte es ihr geholfen,
jemanden zu sehen!
Von allem abgesondert, schwebt sie auf dem treulosen, unzugänglichen
Elemente.
Sie sucht Hülfe bei sich selbst.
So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehört.
Noch am Abend ihres Geburtstags hatte sie es erlebt.
Sie entkleidet das Kind und trocknets mit ihrem Musselingewand.
Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum erstenmal dem freien
Himmel; zum erstenmal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte
Brust, ach!
Und kein Lebendiges.
Die kalten Glieder des unglücklichen Geschöpfs verkälten ihren Busen
bis ins innerste Herz.
Unendliche Tränen entquellen ihren Augen und erteilen der Oberfläche
des Erstarrten einen Schein von Wärme und Leben.
Sie läßt nicht nach, sie überhüllt es mit ihrem Schal, und durch
Streicheln, Andrücken, Anhauchen, Küssen, Tränen glaubt sie jene
Hülfsmittel zu ersetzen, die ihr in dieser Abgeschnittenheit versagt
sind. Alles vergebens!
Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung steht der
Kahn auf der Wasserfläche; aber auch hier läßt ihr schönes Gemüt sie
nicht hülflos.
Sie wendet sich nach oben.
Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit
beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch
an Kälte dem Marmor gleicht.
Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Hülfe von daher, wo ein
zartes Herz die größte Fülle zu finden hofft, wenn es überall mangelt.
Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln
hervorzublinken anfangen.
Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den Kahn nach dem Platanen.
Sie eilt nach dem neuen Gebäude, sie ruft den Chirurgus hervor, sie
übergibt ihm das Kind.
Der auf alles gefaßte Mann behandelt den zarten Leichnam stufenweise
nach gewohnter Art.
Ottilie steht ihm in allem bei; sie schafft, sie bringt, sie sorgt,
zwar wie in einer andern Welt wandelnd, denn das höchste Unglück wie
das höchste Glück verändert die Ansicht aller Gegenstände; und nur,
als nach allen durchgegangenen Versuchen der wackere Mann den Kopf
schüttelt, auf ihre hoffnungsvollen Fragen erst schweigend, dann mit
einem leisen Nein antwortet, verläßt sie das Schlafzimmer Charlottens,
worin dies alles geschehen, und kaum hat sie das Wohnzimmer betreten,
so fällt sie, ohne den Sofa erreichen zu können, erschöpft aufs
Angesicht über den Teppich hin.
Eben hört man Charlotten vorfahren.
Der Chirurg bittet die Umstehenden dringend, zurückzubleiben, er will
ihr entgegnen, sie vorbereiten; aber schon betritt sie ihr Zimmer.
Sie findet Ottilien an der Erde, und ein Mädchen des Hauses stürzt ihr
mit Geschrei und Weinen entgegen.
Der Chirurg tritt herein, und sie erfährt alles auf einmal.
Wie sollte sie aber jede Hoffnung mit einmal aufgeben!
Der erfahrne, kunstreiche, kluge Mann bittet sie nur, das Kind nicht
zu sehen; er entfernt sich, sie mit neuen Anstalten zu täuschen.
Sie hat sich auf ihren Sofa gesetzt, Ottilie liegt noch an der Erde,
aber an der Freundin Kniee herangehoben, über die ihr schönes Haupt
hingesenkt ist.
Der ärztliche Freund geht ab und zu; er scheint sich um das Kind zu
bemühen, er bemüht sich um die Frauen.
So kommt die Mitternacht herbei, die Totenstille wird immer tiefer.
Charlotte verbirgt sichs nicht mehr, daß das Kind nie wieder ins Leben
zurückkehre; sie verlangt es zu sehen.
Man hat es in warme wollne Tücher reinlich eingehüllt, in einen Korb
gelegt, den man neben sie auf den Sofa setzt; nur das Gesichtchen ist
frei; ruhig und schön liegt es da.
Von dem Unfall war das Dorf bald erregt worden und die Kunde sogleich
bis nach dem Gasthof erschollen.
Der Major hatte sich die bekannten Wege hinaufbegeben; er ging um das
Haus herum, und indem er einen Bedienten anhielt, der in dem Angebäude
etwas zu holen lief, verschaffte er sich nähere Nachricht und ließ den
Chirurgen herausrufen.
Dieser kam, erstaunt über die Erscheinung seines alten Gönners,
berichtete ihm die gegenwärtige Lage und übernahm es, Charlotten auf
seinen Anblick vorzubereiten.
Er ging hinein, fing ein ableitendes Gespräch an und führte die
Einbildungskraft von einem Gegenstand auf den andern, bis er endlich
den Freund Charlotten vergegenwärtigte, dessen gewisse Teilnahme,
dessen Nähe dem Geiste, der Gesinnung nach, die er denn bald in eine
wirkliche übergehen ließ.
Genug, sie erfuhr, der Freund stehe vor der Tür, er wisse alles und
wünsche eingelassen zu werden.
Der Major trat herein; ihn begrüßte Charlotte mit einem schmerzlichen
Lächeln.
Er stand vor ihr.
Sie hub die grünseidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bei
dem dunklen Schein einer Kerze erblickte er nicht ohne geheimes
Grausen sein erstarrtes Ebenbild.
Charlotte deutete auf einen Stuhl, und so saßen sie gegeneinader über,
schweigend, die Nacht hindurch.
Ottilie lag noch ruhig auf den Knieen Charlottens; sie atmete sanft;
sie schlief, oder sie schien zu schlafen.
Der Morgen dämmerte, das Licht verlosch, beide Freunde schienen aus
einem dumpfen Traum zu erwachen.
Charlotte blickte den Major an und sagte gefaßt: "erklären Sie mir,
mein Freund, durch welche Schickung kommen Sie hieher, um teil an
dieser Trauerszene zu nehmen?" "Es ist hier", antwortete der Major
ganz leise, wie sie gefragt hatte—als wenn sie Ottilien nicht
aufwecken wollten -, "es ist hier nicht Zeit und Ort, zurückzuhalten,
Einleitungen zu machen und sachte heranzutreten.
Der Fall, in dem ich Sie finde, ist so ungeheuer, daß das Bedeutende
selbst, weshalb ich komme, dagegen seinen Wert verliert".
Er gestand ihr darauf ganz ruhig und einfach den Zweck seiner Sendung,
insofern Eduard ihn abgeschickt hatte, den Zweck seines Kommens,
insofern sein freier Wille, sein eigenes Interesse dabei war.
Er trug beides sehr zart, doch aufrichtig vor; Charlotte hörte
gelassen zu und schien weder darüber zu staunen noch unwillig zu sein.
Als der Major geendigt hatte, antwortete Charlotte mit ganz leiser
Stimme, sodaß er genötigt war, seinen Stuhl heranzurücken: in einem
Falle, wie dieser ist, habe ich mich noch nie befunden, aber in
ähnlichen habe ich mir immer gesagt: 'wie wird es morgen sein?'
Ich fühle recht wohl, daß das Los von mehreren jetzt in meinen Händen
liegt; und was ich zu tun habe, ist bei mir außer Zweifel und bald
ausgesprochen.
Ich willige in die Scheidung.
Ich hätte mich früher dazu entschließen sollen; durch mein Zaudern,
mein Widerstreben habe ich das Kind getötet.
Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt.
Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm
in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was
uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns
gebärden, wie wir wollen.
Doch was sag ich!
Eigentlich will das Schicksal meinen eigenen Wunsch, meinen eigenen
Vorsatz, gegen die ich unbedachtsam gehandelt, wieder in den Weg
bringen.
Habe ich nicht selbst schon Ottilien und Eduarden mir als das
schicklichste Paar zusammengedacht?
Habe ich nicht selbst beide einander zu nähern gesucht?
Waren Sie nicht selbst, mein Freund, Mitwisser dieses Plans?
Und warum konnte ich den Eigensinn eines Mannes nicht von wahrer Liebe
unterscheiden?
Warum nahm ich seine Hand an, da ich als Freundin ihn und eine andre
Gattin glücklich gemacht hätte?
Und betrachten Sie nur diese unglückliche Schlummernde!
Ich zittere vor dem Augenblicke, wenn sie aus ihrem halben
Totenschlafe zum Bewußtsein erwacht.
Wie soll sie leben, wie soll sie sich trösten, wenn sie nicht hoffen
kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als
Werkzeug des wunderbarsten Zufalls geraubt hat?
Und sie kann ihm alles wiedergeben nach der Neigung, nach der
Leidenschaft, mit der sie ihn liebt.
Vermag die Liebe, alles zu dulden, so vermag sie noch viel mehr, alles
zu ersetzen.
An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht werden.
Entfernen Sie sich in der Stille, lieber Major.
Sagen Sie Eduarden, daß ich in die Scheidung willige, daß ich ihm,
Ihnen, Mittlern die ganze Sache einzuleiten überlasse, daß ich um
meine künftige Lage unbekümmert bin und es in jedem Sinne sein kann.
Ich will jedes Papier unterschreiben, das man mir bringt; aber man
verlange nur nicht von mir, daß ich mitwirke, daß ich bedenke, daß ich
berate".
Der Major stand auf.
Sie reichte ihm ihre Hand über Ottilien weg.
Er drückte seine Lippen auf diese liebe Hand.
"Und für mich, was darf ich hoffen?" lispelte er leise.
"Lassen Sie mich Ihnen die Antwort schuldig bleiben", versetzte
Charlotte.
"Wir haben nicht verschuldet, unglücklich zu werden, aber durch nicht
verdient, zusammen glücklich zu sein".
Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne
jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu können.
Ein solches Opfer schien ihm nötig zu ihrem allseitigen Glück. Er
dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den
vollkommensten Ersatz für das, was sie Eduarden geraubt; er dachte
sich einen Sohn auf dem Schoße, der mit mehrerem Recht sein Ebenbild
trüge als der abgeschiedene.
So schmeichelnde Hoffnungen und Bilder gingen ihm durch die Seele, als
er auf dem Rückwege nach dem Gasthofe Eduarden fand, der die ganze
Nacht im Freien den Major erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen,
kein Donnerlaut ein glückliches Gelingen verkünden wollte.
Er wußte bereits von dem Unglück, und auch er, anstatt das arme
Geschöpf zu bedauern, sah diesen Fall, ohne sichs ganz gestehen zu
wollen, als eine Fügung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glück
auf einmal beseitigt wäre.
Gar leicht ließ er sich daher durch den Major bewegen, der ihm schnell
den Entschluß seiner Gattin verkündigte, wieder nach jenem Dorfe und
sodann nach der kleinen Stadt zurückzukehren, wo sie das Nächste
überlegen und einleiten wollten.
Charlotte saß, nachdem der Major sie verlassen hatte, nur wenige
Minuten in ihre Betrachtungen versenkt; denn sogleich richtete Ottilie
sich auf, ihre Freundin mit großen Augen anblickend.
Erst erhob sich von dem Schoße, dann von der Erde und stand vor
Charlotten.
"Zum zweitenmal"—so begann das herrliche Kind mit einem
unüberwindlichen, anmutigen Ernst -"zum zweitenmal widerfährt mir
dasselbe.
Du sagtest mir einst, es begegne den Menschen in ihrem Leben oft
ähnliches auf ähnliche Weise und immer in bedeutenden Augenblicken.
Ich finde nun die Bemerkung wahr und bin gedrungen, dir ein Bekenntnis
zu machen.
Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen
Schemel an dich gerückt; du saßest auf dem Sofa wie jetzt; mein Haupt
lag auf deinen Knieen, ich schlief nicht, ich wachte nicht; ich
schlummerte.
Ich vernahm alles, was um mich vorging, besonders alle Reden sehr
deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht äußern und,
wenn ich auch gewollt hätte, nicht andeuten, daß ich meiner selbst
mich bewußt fühlte.
Damals sprachst du mit einer Freundin über mich; du bedauertest mein
Schicksal, als eine arme Waise in der Welt geblieben zu sein; du
schuildertest meine abhängige Lage und wie mißlich es um mich stehen
könne, wenn nicht ein besondrer Glücksstern über mich walte.
Ich faßte alles wohl und genau, vielleicht zu streng, was du für mich
zu wünschen, was du von mir zu fordern schienst.
Ich machte mir nach meinen beschränkten Einsichten hierüber Gesetze;
nach diesen habe ich lange gelebt, nach ihnen war mein Tun und Lassen
eingerichtet zu der Zeit, da du mich liebtest, für mich sorgtest, da
du mich in dein Haus aufnahmst, und auch noch eine Zeit hernach.
Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze
gebrochen, ich habe sogar das Gefühl derselben verloren, und nach
einem schrecklichen Ereignis klärst du mich wieder über meinen Zustand
auf, der jammervoller ist als der erste.
Auf deinem Schoße ruhend, halb erstarrt, wie aus einer fremden Welt
vernehm ich abermals deine leise Stimme über meinem Ohr; ich vernehme,
wie es mit mir selbst aussieht; ich schaudere über mich selbst; aber
wie damals habe ich auch diesmal in meinem halben Totenschlaf mir
meine neue Bahn vorgezeichnet.
Ich bin entschlossen, wie ichs war, und wozu ich entschlossen bin,
mußt du gleich erfahren.
Eduards werd ich nie!
Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in
welchem Verbrechen ich befangen bin.
Ich will es büßen; und niemand gedenke mich von meinem Vorsatz
abzubringen!
Darnach, Liebe, Beste, nimm deine Maßregeln.
Laß den Major zurückkommen; schreibe ihm, daß keine Schritte geschehen.
Wie ängstlich war mir, daß ich mich nicht rühren und regen konnte, als
er ging.
Ich wollte auffahren, aufschreien: du solltest ihn nicht mit so
frevelhaften Hoffnungen entlassen".
Charlotte sah Ottiliens Zustand, sie empfand ihn; aber sie hoffte
durch Zeit und Vorstellungen etwas über sie zu gewinnen.
Doch als sie einige Worte aussprach, die auf eine Zukunft, auf eine
Milderung des Schmerzes, auf Hoffnung deuteten: "nein!" rief Ottilie
mit Erhebung; "sucht mich nicht zu bewegen, nicht zu hintergehen!
In dem Augenblick, in dem ich erfahre, du habest in die Scheidung
gewilligt, büße ich in demselbigen See mein Vergehen, mein Verbrechen".
Wenn sich in einem glücklichen, friedlichen Zusammenleben Verwandte,
Freunde, Hausgenossen, mehr als nötig und billig ist, von dem
unterhalten, was geschieht oder geschehen soll, wenn sie sich einander
ihre Vorsätze, Unternehmungen, Beschäftigungen wiederholt mitteilen
und, ohne gerade wechselseitigen Rat anzunehmen, doch immer das ganze
Leben gleichsam ratschlagend behandeln, so findet man dagegen in
wichtigen Momenten, eben da, wo es scheinen sollte, der Mensch bedürfe
fremden Beistandes, fremder Bestätigung am allermeisten, daß sich die
einzelnen auf sich selbst zurückziehen, jedes für sich zu handeln,
jedes auf seine Weise zu wirken strebt und, indem man sich einander
die einzelnen Mittel verbirgt, nur erst der Ausgang, die Zwecke, das
Erreichte wieder zum Gemeingut werden.
Nach so viel wundervollen und unglücklichen Ereignissen war denn auch
ein gewisser stiller Ernst über die Freundinnen gekommen, der sich in
einer liebenswürdigen Schonung äußerte.
Ganz in der Stille hatte Scharlotte das Kind nach der Kapelle gesendet.
Es ruhte dort als das erste Opfer eines ahnungsvollen Verhängnisses.
Charlotte kehrte sich, soviel es ihr möglich war, gegen das Leben
zurück, und hier fand sie Ottilien zuerst, die ihres Beistandes
bedurfte.
Sie beschäftigte sich vorzüglich mit ihr, ohne es jedoch merken zu
lassen.
Sie wußte, wie sehr das himmlische Kind Eduarden liebte; sie hatte
nach und nach die Szene, die dem Unglück vorhergegangen war,
herausgeforscht und jeden Umstand teils von Ottilien selbst, teils
durch Briefe des Majors erfahren.
Ottilie von ihrer Seite erleichterte Charlotten sehr das
augenblickliche Leben.
Sie war offen, ja gesprächig, aber niemals war von dem Gegenwärtigen
oder kurz Vergangenen die Rede.
Sie hatte stets aufgemerkt, stets beobachtet, sie wußte viel; das kam
jetzt alles zum Vorschein.
Sie unterhielt, sie zerstreute Charlotten, die noch immer die stille
Hoffnung nährte, ein ihr so wertes Paar verbunden zu sehen.
Allein bei Ottilien hing es anders zusammen.
Sie hatte das Geheimnis ihres Lebensganges der Freundin entdeckt; sie
war von ihrer frühen Einschränkung, von ihrer Dienstbarkeit entbunden.
Durch ihre Reue, durch ihren Entschluß fühlte sie sich auch befreit
von der Last jenes Vergehens, jenes Mißgeschicks.
Sie bedurfte keiner Gewalt mehr über sich selbst; sie hatte sich in
der Tiefe ihres Herzens nur unter der Bedingung des völligen Entsagens
verziehen, und diese Bedingung war für alle Zukunft unerläßlich. So
verfloß einige Zeit, und Charlotte fühlte, wie sehr Haus und Park,
Seen, Felsen—und Baumgruppen nur traurige Empfindungen täglich in
ihnen beiden erneuerten.
Daß man den Ort verändern müsse, war allzu deutlich, wie es geschehen
solle, nicht so leicht zu entscheiden.
Sollten die beiden Frauen zusammenbleiben?
Eduards früherer Wille schien es zu gebieten, seine Erklärung, seine
Drohung es nötig zu machen; allein wie war es zu verkennen, daß beide
Frauen mit allem guten Willen, mit aller Vernunft, mit aller
Anstrengung sich in einer peinlichen Lage nebeneinander befanden?
Ihre Unterhaltungen waren vermeidend.
Manchmal mochte man gern etwas nur halb verstehen, öfters wurde aber
doch ein Ausdruck, wo nicht durch den Verstand, wenigstens durch die
Empfindung mißdeutet.
Man fürchtet sich zu verletzen, und gerade die Furcht war am ersten
verletzbar und verletzte am ersten.
Wollte man den Ort verändern und sich zugleich, wenigstens auf einige
Zeit, voneinander trennen, so trat die alte Frage wieder hervor, wo
sich Ottilie hinbegeben solle.
Jenes große, reiche Haus hatte vergebliche Versuche gemacht, einer
hoffnungsvollen Erbtochter unterhaltende und wetteifernde Gespielinnen
zu verschaffen.
Schon bei der letzten Anwesenheit der Baronesse und neuerlich durch
Briefe war Charlotte aufgefordert worden, Ottilien dorthin zu senden;
jetzt brachte sie es abermals zur Sprache.
Ottilie verweigerte aber ausdrücklich, dahin zu gehen, wo sie
dasjenige finden würde, was man große Welt zu nennen pflegt.
"Lassen Sie mich, liebe Tante", sagte sie, "damit ich nicht
eingeschränkt und eigensinnig erscheine, dasjenige aussprechen, was zu
verschweigen, zu verbergen in einem andern Falle Pflicht wäre.
Ein seltsam unglücklicher Mensch, und wenn er auch schuldlos wäre, ist
auf eine fürchterliche Weise gezeichnet.
Seine Gegenwart erregt in allen, die ihn sehen, die ihn gewahr werden,
eine Art von Entsetzen.
Jeder will das Ungeheure ihm ansehen, was ihm auferlegt ward; jeder
ist neugierig und ängstlich zugleich.
So bleibt ein Haus, eine Stadt, worin eine ungeheure Tat geschehen,
jedem furchtbar, der sie betritt.
Dort leuchtet das Licht des Tages nicht so hell, und die Sterne
scheinen ihren Glanz zu verlieren.
Wie groß und hoch vielleicht zu entschuldigen ist gegen solche
Unglückliche die Indiskretion der Menschen, ihre alberne
Zudringlichkeit und ungeschickte Gutmütigkeit!
Verzeihen Sie mir, daß ich so rede; aber ich habe unglaublich mit
jenem armen Mädchen gelitten, als es Luciane aus den verborgenen
Zimmern des Hauses hervorzog, sich freundlich mit ihm beschäftigte, es
in der besten Absicht zu Spiel und Tanz nötigen wollte.
als das arme Kind bange und immer bänger zuletzt floh und in Ohnmacht
sank, ich es in meine Arme faßte, die Gesellschaft erschreckt,
aufgeregt und jeder erst recht neugierig auf die Unglückselige ward,
da dachte ich nicht, daß mir ein gleiches Schicksal bevorstehe; aber
mein Mitgefühl, so wahr und lebhaft, ist noch lebendig.
Jetzt kann ich mein Mitleiden gegen mich selbst wenden und mich hüten,
daß ich nicht zu ähnlichen Auftritt Anlaß gebe".
"Du wirst aber, liebes Kind", versetzte Charlotte, "dem Anblick der
Menschen dich nirgends entziehen können.
Klöster haben wir nicht, in denen sonst eine Freistatt für solche
Gefühle zu finden war".
"Die Einsamkeit macht nicht die Freistatt, liebe Tante", versetzte
Ottilie.
"Die schätzenswerteste Freistatt ist da zu suchen, wo wir tätig sein
können.
Alle Büßungen, alle Entbehrungen sind keineswegs geeignet, uns einem
ahnungsvollen Geschick zu entziehen, wenn es uns zu verfolgen
entschieden ist.
Nur wenn ich im müßigen Zustande der Welt zur Schau dienen soll, dann
ist sie mir widerwärtig und ängstigt mich.
Findet man mich aber freudig bei der Arbeit, unermüdet in meiner
Pflicht, dann kann ich die Blicke eines jeden aushalten, weil ich die
göttlichen nicht zu scheuen brauche".
"Ich müßte mich sehr irren", versetzte Charlotte, "wenn deine Neigung
dich nicht zur Pension zurückzöge".
"Ja", versetzte Ottilie, "ich leugne es nicht; ich denke es mir als
eine glückliche Bestimmung, andre auf dem gewöhnlichen Wege zu
erziehen, wenn wir auf dem sonderbarsten erzogen worden.
Und sehen wir nicht in der Geschichte, daß Menschen, die wegen großer
sittlicher Unfälle sich in die Wüsten zurückzogen, dort keineswegs,
wie sie hofften, verborgen und gedeckt waren?
Sie wurden zurückgerufen in die Welt, um die Verirrten auf den rechten
Weg zu führen; und wer konnte es besser als die in den Irrgängen des
Lebens schon Eingeweihten!
Sie wurden berufen, den Unglücklichen beizustehen; und wer vermochte
das eher als sie, denen kein irdisches Unheil mehr begegnen konnte!"
"Du wählst eine sonderbare Bestimmung", versetzte Charlotte. "Ich
will dir nicht widerstreben; es mag sein, wenn auch nur, wie ich hoffe,
auf kurze Zeit".
"Wie sehr danke ich Ihnen", sagte Ottilie, "daß Sie mir diesen Versuch,
diese Erfahrung gönnen wollen.
Schmeichle ich mir nicht zu sehr, so soll es mir glücken.
An jenem Orte will ich mich erinnern, wie manche Prüfungen ich
ausgestanden und wie klein, wie nichtig sie waren gegen die, die ich
nachher erfahren mußte.
Wie heiter werde ich die Verlegenheiten der jungen Auschößlinge
betrachten, bei ihren kindlichen Schmerzen lächeln und sie mit leiser
Hand aus allen kleinen Verirrungen herausführen.
Der Glückliche ist nicht geeignet, Glücklichen vorzustehen; es liegt
in der menschlichen Natur, immer mehr von sich und von andern zu
fordern, je mehr man empfangen hat.
Nur der Unglückliche, der sich erholt, weiß für sich und andere das
Gefühl zu nähren, daß auch ein mäßiges Gute mit Entzücken genossen
werden soll".
"Laß mich gegen deinen Vorsatz", sagte Charlotte zuletzt nach einigem
Bedenken, "noch einen Einwurf anführen, der mir der wichtigste scheint.
Es ist nicht von dir, es ist von einem Dritten die Rede.
Die Gesinnungen des guten, vernünftigen, frommen Gehülfen sind dir
bekannt; auf dem Wege, den du gehst, wirst du ihm jeden Tag werter und
unentbehrlicher sein.
Da er schon jetzt seinem Gefühl nach nicht gern ohne dich leben mag,
so wird er auch künftig, wenn er einmal deine Mitwirkung gewohnt ist,
ohne dich sein Geschäft nicht mehr verwalten können.
Du wirst ihm anfangs darin beistehen, um es ihm hernach zu verleiden".
"Das Geschick ist nicht sanft mit mir verfahren", versetzte Ottilie,
"und wer mich liebt, hat vielleicht nicht viel Besseres zu erwarten.
So gut und verständig als der Freund ist, ebenso, hoffe ich, wird sich
in ihm auch die Empfindung eines reinen Verhältnisses zu mir
entwickeln; er wird in mir eine geweihte Person erblicken, die nur
dadurch ein ungeheures übel für sich und andre vielleicht aufzuwiegen
vermag, wenn sie sich dem Heiligen widmet, das, uns unsichtbar
umgebend, allein gegen die ungeheuren zudringenden Mächte beschirmen
kann".
Charlotte nahm alles, was das liebe Kind so herzlich geäußert, zur
stillen überlegung.
Sie hatte verschiedentlich, obgleich auf das leiseste, angeforscht, ob
nicht eine Annäherung Ottiliens zu Eduard denkbar sei; aber auch nur
die leiseste Erwähnung, die mindeste Hoffnung, der kleinste Verdacht
schien Ottilien aufs tiefste zu rühren, ja sie sprach sich einst, da
sie es nicht umgehen konnte, hierüber ganz deutlich aus.
"Wenn dein Entschluß", entgegnete ihr Charlotte, "Eduarden zu entsagen,
so fest und unveränderlich ist, so hüte dich nur vor der Gefahr des
Wiedersehens.
In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen wir, je
lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu werden,
indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie sich nach außen
erstreckte, nach innen wenden; aber wie bald, wie geschwind sind wir
aus diesem Irrtum gerissen, wenn dasjenige, was wir entbehren zu
können glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unsern Augen
steht.
Tue jetzt, was du deinen Zuständen am gemäßesten hältst; prüfe dich,
ja verändre lieber deinen gegenwärtigen Entschluß: aber aus dir selbst,
aus freiem, wollendem Herzen.
Laß dich nicht zufällig, nicht durch überraschung in die vorigen
Verhältnisse wieder hineinziehen; dann gibt es erst einen Zwiespalt im
Gemüt, der unerträglich ist.
Wie gesagt, ehe du diesen Schritt tust, ehe du dich von mir entfernst
und ein neues Leben anfängst, das dich wer weiß auf welche Wege leitet,
so bedenke noch einmal, ob du denn wirklich für alle Zukunft Eduarden
entsagen kannst.
Hast du dich aber hierzu bestimmt, so schließen wir einen Bund, daß du
dich mit ihm nicht einlassen willst, selbst nicht in eine Unterredung,
wenn er dich aufsuchen, wenn er sich zu dir drängen sollte".
Ottilie besann sich nicht einen Augenblick, sie gab Charlotten das
Wort, das sie sich schon selbst gegeben hatte.
Nun aber schwebte Charlotten immer noch jene Drohung Eduards vor der
Seele, daß er Ottilien nur so lange entsagen könne, als sie sich von
Charlotten nicht trennte.
Es hatten sich zwar seit der Zeit die Umstände so verändert, es war
so mancherlei vorgefallen, daß jenes vom Augenblick ihm abgedrungene
Wort gegen die folgenden Ereignisse für aufgehoben zu achten war;
dennoch wollte sie auch im entferntesten Sinne weder etwas wagen noch
etwas vornehmen, das ihn verletzen könnte, und so sollte Mittler in
diesem Falle Eduards Gesinnungen erforschen.
Mittler hatte seit dem Tode des Kindes Charlotten öfters, obgleich nur
auf Augenblicke, besucht.
Dieser Unfall, der ihm die Wiedervereinigung beider Gatten höchst
unwahrscheinlich machte, wirkte gewaltsam auf ihn; aber immer nach
seiner Sinnesweise hoffend und strebend, freute er sich nun im stillen
über den Entschluß Ottiliens.
Er vertraute der lindernden, vorüberziehenden Zeit, dachte noch immer
die beiden Gatten zusammenzuhalten und sah diese leidenschaftlichen
Bewegungen nur als Prüfungen ehelicher Liebe und Treue an.
Charlotte hatte gleich anfangs den Major von Ottiliens erster
Erklärung schriftlich unterrichtet, ihn auf das inständigste gebeten,
Eduarden dahin zu vermögen, daß keine weiteren Schritte geschähen, daß
man sich ruhig verhalte, daß man abwarte, ob das Gemüt des schönen
Kindes sich wieder herstelle.
Auch von den spätern Ereignissen und Gesinnungen hatte sie das Nötige
mitgeteilt, und nun war freilich Mittlern die schwierige Aufgabe
übertragen, auf eine Veränderung des Zustandes Eduarden vorzubereiten.
Mittler aber, wohl wissend, daß man das Geschehene sich eher gefallen
läßt, als daß man in ein noch zu Geschehendes einwilligt, überredete
Charlotten, es sei das beste, Ottilien gleich nach der Pension zu
schicken.
Deshalb wurden, sobald er weg war, Anstalten zur Reise gemacht.
Ottilie packte zusammen, aber Charlotte sah wohl, daß sie weder das
schöne Köfferchen noch irgend etwas daraus mitzunehmen sich anschickte.
Die Freundin schwieg und ließ das schweigende Kind gewähren.
Der Tag der Abreise kam herbei; Charlottens Wagen sollte Ottilien den
ersten Tag bis in ein bekanntes Nachtquartier, den zweiten bis in die
Pension bringen; Nanny sollte sie begleiten und ihre Dienerin bleiben.
Das leidenschaftliche Mädchen hatte sich gleich nach dem Tode des
Kindes wieder an Ottilien zurückgefunden und hing nun an ihr wie sonst
durch Natur und Neigung, ja sie schien durch unterhaltende
Redseligkeit das bisher Versäumte wieder nachbringen und sich ihrer
geliebten Herrin völlig widmen zu wollen.
Ganz außer sich war sie nun über das Glück, mitzureisen, fremde
Gegenden zu sehen, da sie noch niemals außer ihrem Geburtsort gewesen,
und rannte vom Schlosse ins Dorf, zu ihren Eltern, Verwandten, um ihr
Glück zu verkündigen und Abschied zu nehmen.
Unglücklicherweise traf sie dabei in die Zimmer der Maserkranken und
empfand sogleich die Folgen der Ansteckung.
Man wollte die Reise nicht aufschieben; Ottilie drang selbst darauf;
sie hatte den Weg schon gemacht, sie kannte die Wirtleute, bei denen
sie einkehren sollte; der Kutscher vom Schlosse führte sie; es war
nichts zu besorgen.
Charlotte widersetzte sich nicht; auch sie eilte schon in Gedanken aus
diesen Umgebungen weg, nur wollte sie noch die Zimmer, die Ottilie im
Schloß bewohnt hatte, wieder für Eduarden einrichten, gerade so wie
vor der Ankunft des Hauptmanns gewesen.
Die Hoffnung, ein altes Glück wiederherzustellen, flammt immer einmal
wieder in dem Menschen auf, und Charlotte war zu solchen Hoffnungen
abermals berechtigt, ja genötigt.
Als Mittler gekommen war, sich mit Eduarden über die Sache zu
unterhalten, fand er ihn allein, den Kopf in die rechte Hand gelehnt,
den Arm auf den Tisch gestemmt.
Er schien sehr zu leiden.
"Plagt Ihr Kopfweh Sie wieder?" fragte Mittler.
"Es plagt mich", versetzte jener; "und doch kann ich es nicht hassen,
denn es erinnert mich an Ottilien.
Vielleicht leidet auch sie jetzt, denk ich, auf ihren linken Arm
gestützt, und leidet wohl mehr als ich.
Und warum soll ich es nicht tragen wie sie?
Diese Schmerzen sind mir heilsam, sind mir, ich kann beinah sagen,
wünschenswert; denn nur mächtiger, deutlicher, lebhafter schwebt mir
das Bild ihrer Geduld, von allen ihren übrigen Vorzügen begleitet, vor
der Seele, nur im Leiden empfinden wir recht vollkommen alle die
großen Eigenschaften, die nötig sind, um es zu ertragen".
Als Mittler den Freund in diesem Grade resigniert fand, hielt er mit
seinem Anbringen nicht zurück, das er jedoch stufenweise, wie der
Gedanke bei den Frauen entsprungen, wie er nach und nach zum Vorsatz
gereift war, historisch vortrug.
Eduard äußerte sich kaum dagegen.
Aus dem wenigen, was er sagte, schien hervorzugehen, daß er jenen
alles überlasse; sein gegenwärtiger Schmerz schien ihn gegen alles
gleichgültig gemacht zu haben.
Kaum war er allein, so stand er auf und ging in dem Zimmer hin und
wider.
Er fühlte seinen Schmerz nicht mehr, er war ganz außer sich
beschäftigt.
Schon unter Mittlers Erzählung hatte die Einbildungskraft des
Liebenden sich lebhaft ergangen.
Er sah Ottilien allein oder so gut als allein auf wohlbekanntem Wege,
in einem gewohnten Wirtshause, dessen Zimmer er so oft betreten; er
dachte, er überlegte, oder vielmehr er dachte, er überlegte nicht; er
wünschte, er wollte nur.
Er mußte sie sehn, sie sprechen.
Wozu, warum, was daraus entstehen sollte, davon konnte die Rede nicht
sein.
Er widerstand nicht, er mußte.
Der Kammerdiener ward ins Vertrauen gezogen und erforschte sogleich
Tag und Stunde, wann Ottilie reisen würde.
Der Morgen brach an; Eduard säumte nicht, unbegleitet sich zu Pferde
dahin zu begeben, wo Ottilie übernachten sollte.
Er kam nur allzuzeitig dort an; die überraschte Wirtin empfing ihn mit
Freuden; sie war ihm ein großes Familienglück schuldig geworden.
Er hatte ihrem Sohn, der als Soldat sich sehr brav gehalten, ein
Ehrenzeichen verschafft, indem er dessen Tat, wobei er allein
gegenwärtig gewesen, heraushob, mit Eifer bis vor den Feldherrn
brachte und die Hindernisse einiger Mißwollenden überwand.
Sie wußte nicht, was sie ihm alles zuliebe tun sollte.
Sie räumte schnell in ihrer Putzstube, die freilich auch zugleich
Garderobe und Vorratskammer war, möglichst zusammen; allein er
kündigte ihr die Ankunft eines Frauenzimmers an, die hier hereinziehen
sollte, und ließ für sich eine Kammer hinten auf dem Gange notdürftig
einrichten.
Der Wirtin erschien die Sache geheimnisvoll, und es war ihr angenehm,
ihrem Gönner, der sich dabei sehr interessiert und tätig zeigte, etwas
Gefälliges zu erweisen.
Und er, mit welcher Empfindung brachte er die lange, lange Zeit bis
zum Abend hin!
Er betrachtete das Zimmer ringsumher, in dem er sie sehen sollte; es
schien ihm in seiner ganzen häuslichen Seltsamkeit ein himmlischer
Aufenthalt.
Was dachte er sich nicht alles aus, ob er Ottilien überraschen, ob er
sie vorbereiten sollte!
Endlich gewann die letztere Meinung Oberhand; er setzte sich hin und
schrieb.
Dies Blatt sollte sie empfangen.
"Indem du diesen Brief liesest, Geliebteste, bin ich in deiner Nähe.
Du mußt nicht erschrecken, dich nicht entsetzen; du hast von mir
nichts zu befürchten.
Ich werde mich nicht zu dir drängen.
Du siehst mich nicht eher, als du es erlaubst.
Bedenke vorher deine Lage, die meinige.
Wie sehr danke ich dir, daß du keinen entscheidenden Schritt zu tun
vorhast; aber bedeutend genug ist er.
Tu ihn nicht!
Hier, auf einer Art von Scheideweg, überlege nochmals: kannst du mein
sein, willst du mein sein?
O du erzeigst uns allen eine große Wohltat und mir eine
überschwengliche.
Laß mich dich wiedersehen, dich mit Freuden wiedersehen.
Laß mich die schöne Frage mündlich tun und beantworte sie mir mit
deinem schönen Selbst.
An meine Brust, Ottilie!
Hieher, wo du manchmal geruht hast und wo du immer hingehörst!" Indem
er schrieb, ergriff ihn das Gefühl, sein Höchstersehntes nahe sich, es
werde nun gleich gegenwärtig sein.
Zu dieser Türe wird sie hereintreten, diesen Brief wird sie lesen,
wirklich wird sie wie sonst vor mir dastehen, deren Erscheinung ich
mir so oft herbeisehnte.
Wird sie noch dieselbe sein?
Hat sich ihre Gestalt, haben sich ihre Gesinnungen verändert?
Er hielt die Feder noch in der Hand, er wollte schreiben, wie er
dachte; aber der Wagen rollte in den Hof.
Mit flüchtiger Feder setzte er noch hinzu:" ich höre dich kommen.
Auf einen Augenblick leb wohl!" er faltete den Brief, überschrieb ihn;
zum Siegeln war es zu spät.
Er sprang in die Kammer, durch die er nachher auf den Gang zu gelangen
wußte, und augenblicks fiel ihm ein, daß er die Uhr mit dem Petschaft
noch auf dem Tisch gelassen.
Sie sollte diese nicht zuerst sehen; er sprang zurück und holte sie
glücklich weg.
Vom Vorsaal her vernahm er schon die Wirtin, die auf das Zimmer
losging, um es dem Gast anzuweisen.
Er eilte gegen die Kammertür, aber sie war zugefahren.
Den Schlüssel hatte er beim Hineinspringen heruntergeworfen, der lag
inwendig; das Schloß war zugeschnappt, und er stund gebannt.
Heftig drängte er an der Türe; sie gab nicht nach.
O wie hätte er gewünscht, als ein Geist durch die Spalten zu schlüpfen!
Vergebens!
Er verbarg sein Gesicht an den Türpfosten.
Ottilie trat herein, die Wirtin, als sie ihn erblickte, zurück.
Auch Ottilien konnte er nicht einen Augenblick verborgen bleiben.
Er wendete sich gegen sie, und so standen die Liebenden abermals auf
die seltsamste Weise gegeneinander.
Sie sah ihn ruhig und ernsthaft an, ohne vor—oder zurückzugehen, und
als er eine Bewegung machte, sich ihr zu nähern, trat sie einige
Schritte zurück bis an den Tisch.
Auch er trat wieder zurück.
"Ottilie", rief er aus, "laß mich das furchtbare Schweigen brechen!
Sind wir nur Schatten, die einander gegenüberstehen?
Aber vor allen Dingen höre!
Es ist ein Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findest.
Neben dir liegt ein Brief, der dich vorbereiten sollte.
Lies, ich bitte dich, lies ihn!
Und dann beschließe, was du kannst".
Sie blickte herab auf den Brief, und nach einigem Besinnen nahm sie
ihn auf, erbrach und las ihn.
Ohne die Miene zu verändern, hatte sie ihn gelegen, und so legte sie
ihn leise weg; dann drückte sie die flachen, in die Höhe gehobenen
Hände zusammen, führte sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig
vorwärts neigte, und sah den dringend Fordernden mit einem solchen
Blick an, daß er von allem abzustehen genötigt war, was er verlangen
oder wünschen mochte.
Diese Bewegung zerriß ihm das Herz.
Er konnte den Anblick, er konnte die Stellung Ottiliens nicht ertragen.
Es sah völlig aus, als würde sie in die Kniee sinken, wenn er beharrte.
Er eilte verzweifelnd zur Tür hinaus und schickte die Wirtin zu der
Einsamen.
Er ging auf dem Vorsaal auf und ab.
Es war Nacht geworden, im Zimmer blieb es stille.
Endlich trat die Wirtin heraus und zog den Schlüssel ab.
Die gute Frau war gerührt, war verlegen, sie wußte nicht, was sie tun
sollte.
Zuletzt im Weggehen bot sie den Schlüssel Eduarden an, der ihn
ablehnte.
Sie ließ das Licht stehen und entfernte sich.
Eduard im tiefsten Kummer warf sich auf Ottiliens Schwelle, die er mit
seinen Tränen benetzte.
Jammervoller brachten kaum jemals in solcher Nähe Liebende eine Nacht
zu.
Der Tag brach an; der Kutscher trieb, die Wirtin schloß auf und trat
in das Zimmer.
Sie fand Ottilien angekleidet eingeschlafen, sie ging zurück und
winkte Eduarden mit einem teilnehmenden Lächeln.
Beide traten vor die Schlafende; aber auch diesen Anblick vermochte
Eduard nicht auszuhalten.
Die Wirtin wagte nicht, das ruhende Kind zu wecken, sie setzte sich
gegenüber.
Endlich schlug Ottilie die schönen Augen auf und richtete sich auf
ihre Füße.
Sie lehnt das Frühstück ab, und nun tritt Eduard vor sie.
Er bittet sie inständig, nur ein Wort zu reden, ihren Willen zu
erklären.
Er wolle allen ihren Willen, schwört er; aber sie schweigt. Nochmals
fragt er sie liebevoll und dringend, ob sie ihm angehören wolle.
Wie lieblich bewegt sie mit niedergeschlagenen Augen ihr Haupt zu
einem sanften Nein!
Er fragt, ob sie nach der Pension wolle.
Gleichgültig verneint sie das.
Aber als er fragt, ob er sie zu Charlotten zurückführen dürfe, bejaht
sies mit einem getrosten Neigen des Hauptes.
Er eilt ans Fenster, dem Kutscher Befehle zu geben; aber hinter ihm
weg ist sie wie der Blitz zur Stube hinaus, die Treppe hinab in dem
Wagen.
Der Kutscher nimmt den Weg nach dem Schlosse zurück; Eduard folgt zu
Pferde in einiger Entfernung.
Wie höchst überrascht war Charlotte, als sie Ottilien vorfahren und
Eduarden zu Pferde sogleich in den Schloßhof hereinsprengen sah!
Sie eilte bis zur Türschwelle.
Ottilie steigt aus und nähert sich mit Eduarden.
Mit Eifer und Gewalt faßt sie die Hände beider Ehegatten, drückt sie
zusammen und eilt auf ihr Zimmer.
Eduard wirft sich Charlotten um den Hals und zerfließt in Tränen; er
kann sich nicht erklären, bittet, Geduld mit ihm zu haben, Ottilien
beizustehen, ihr zu helfen.
Charlotte eilt auf Ottiliens Zimmer, und ihr schaudert, da sie
hineintritt; es war schon ganz ausgeräumt, nur die leeren Wände
standen da.
Es erschien so weitläufig als unerfreulich.
Man hatte alles weggetragen, nur das Köfferchen, unschlüssig, wo man
es hinstellen sollte, in der Mitte des Zimmers stehengelassen.
Ottilie lag auf dem Boden, Arm und Haupt über den Koffer gestreckt.
Charlotte bemüht sich um sie, fragt, was vorgegangen, und erhält keine
Antwort.
Sie läßt ihr Mädchen, das mit Erquickungen kommt, bei Ottilien und
eilt zu Eduarden.
Sie findet ihn im Saal; auch er belehrt sie nicht.
Er wirft sich vor ihr nieder, er badet ihre Hände in Tränen, er flieht
auf sein Zimmer, und als sie ihm nachfolgen will, begegnet ihr der
Kammerdiener, der sie aufklärt, soweit er vermag.
Das übrige denkt sie sich zusammen und dann sogleich mit
Entschlossenheit an das, was der Augenblick fordert.
Ottiliens Zimmer ist aufs baldigste wieder eingerichtet.
Eduard hat die seinigen angetroffen, bis auf das letzte Papier, wie er
sie verlassen.
Die dreie scheinen sich wieder gegeneinader zu finden, aber Ottilie
fährt fort zu schweigen, und Eduard vermag nichts, als seine Gattin um
Geduld zu bitten, die ihm selbst zu fehlen scheint.
Charlotte sendet Boten an Mittlern und an den Major.
Jener war nicht anzutreffen, dieser kommt.
Gegen ihn schüttet Eduard sein Herz aus, ihm gesteht er jeden
kleinsten Umstand, und so erfährt Charlotte, was begegnet, was die
Lage so sonderbar verändert, was die Gemüter aufgeregt.
Sie spricht aufs liebevollste mit ihrem Gemahl.
Sie weiß keine andere Bitte zu tun als nur, daß man das Kind
gegenwärtig nicht bestürmen möge.
Eduard fühlt den Wert, die Liebe, die Vernunft seiner Gattin; aber
seine Neigung beherrscht ihn ausschließlich.
Charlotte macht ihm Hoffnung, verspricht ihm, in die Scheidung zu
willigen.
Er traut nicht; er ist so krank, daß ihn Hoffnung und Glaube
abwechselnd verlassen; er dringt in Charlotten, sie soll dem Major
ihre Hand zusagen; eine Art von wahnsinnigem Unmut hat ihn ergriffen.
Charlotte, ihn zu besänftigen, ihn zu erhalten, tut, was er fordert.
Sie sagt dem Major ihre Hand zu auf den Fall, daß Ottilie sich mit
Eduarden verbinden wolle, jedoch unter ausdrücklicher Bedingung, daß
die beiden Männer für den Augenblick zusammen eine Reise machen.
Der Major hat für seinen Hof ein auswärtiges Geschäft, und Eduard
verspricht, ihn zu begleiten.
Man macht Anstalten, und man beruhigt sich einigermaßen, indem
wenigstens etwas geschieht.
Unterdessen kann man bemerken, daß Ottilie kaum Speise noch Trank zu
sich nimmt, indem sie immerfort bei ihrem Schweigen verharrt.
Man redet ihr zu, sie wird ängstlich; man unterläßt es.
Denn haben wir nicht meistenteils die Schwäche, daß wir jemanden auch
zu seinem Besten nicht gern quälen mögen?
Charlotte sann alle Mittel durch, endlich geriet sie auf den Gedanken,
jenen Gehülfen aus der Pension kommen zu lassen, der über Ottilien
viel vermochte, der wegen ihres unvermuteten Außenbleibens sich sehr
freundlich geäußert, aber keine Antwort erhalten hatte.
Man spricht, um Ottilien nicht zu überraschen, von diesem Vorsatz in
ihrer Gegenwart.
Sie scheint nicht einzustimmen; sie bedenkt sich; endlich scheint ein
Entschluß in ihr zu reifen, sie eilt nach ihrem Zimmer und sendet noch
vor Abend an die Versammelten folgendes Schreiben.
"Warum soll ich ausdrücklich sagen, meine Geliebten, was sich von
selbst versteht?
Ich bin aus meiner Bahn geschritten, und ich soll nicht wieder hinein.
Ein feindseliger Dämon, der Macht über mich gewonnen, scheint mich von
außen zu hindern, hätte ich mich auch mit mir selbst wieder zur
Einigkeit gefunden.
Ganz rein war mein Vorsatz, Eduarden zu entsagen, mich von ihm zu
entfernen.
Ihm hofft ich nicht wieder zu begegnen.
Es ist anders geworden; er stand selbst gegen seinen eigenen Willen
vor mir.
Mein Versprechen, mich mit ihm in keine Unterredung einzulassen, habe
ich vielleicht zu buchstäblich genommen und gedeutet.
Nach Gefühl und Gewissen des Augenblicks schwieg ich, verstummt ich
vor dem Freunde, und nun habe ich nichts mehr zu sagen.
Ein strenges Ordensgelübde, welches den, der es mit überlegung eingeht,
vielleicht unbequem ängstiget, habe ich zufällig, vom Gefühl
gedrungen, über mich genommen.
Laßt mich darin beharren, solange mir das Herz gebietet.
Beruft keine Mittelsperson!
Dringt nicht in mich, daß ich reden, daß ich mehr Speise und Trank
genießen soll, als ich höchstens bedarf.
Helft mir durch Nachsicht und Geduld über diese Zeit hinweg.
Ich bin jung, die Jugend stellt sich unversehens wieder her. Duldet
mich in eurer Gegenwart, er freut mich durch eure Liebe, belehrt mich
durch eure Unterhaltung; aber mein Innres überlaßt mir selbst!" Die
längst vorbereitete Abreise der Männer unterblieb, weil jenes
auswärtige Geschäft des Majors sich verzögerte.
Wie erwünscht für Eduard!
Nun durch Ottiliens Blatt aufs neue angeregt, durch ihre trostvollen,
hoffnunggebenden Worte wieder ermutigt und zu standhaftem Ausharren
berechtigt, erklärte er auf einmal, er werde sich nicht entfernen.
"Wie töricht", rief er aus, "das Unentbehrlichste, Notwendigste
vorsätzlich, voreilig wegzuwerfen, das, wenn uns auch der Verlust
bedroht, vielleicht noch zu erhalten wäre!
Und was soll es heißen?
Doch nur, daß der Mensch ja scheine, wollen, wählen zu können.
So habe ich oft, beherrscht von solchem albernen Dünkel, Stunden, ja
Tage zu früh mich von Freunden losgerissen, um nur nicht von dem
letzten, unausweichlichen Termin entschieden gezwungen zu werden.
Diesmal aber will ich bleiben.
Warum soll ich mich entfernen?
Ist sie nicht schon von mir entfernt?
Es fällt mir nicht ein, ihre Hand zu fassen, sie an mein Herz zu
drücken; sogar darf ich es nicht denken, es schaudert mir.
Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich über mich weg gehoben".
Und so blieb er, wie er wollte, wie er mußte.
Aber auch dem Behagen glich nichts, wenn er sich mit ihr zusammenfand.
Und so war auch ihr dieselbe Empfindung geblieben; auch sie konnte
sich dieser seligen Notwendigkeit nicht entziehen.
Nach wie vor übten sie eine unbeschreibliche, fast magische
Anziehungskraft gegeneinander aus.
Sie wohnten unter Einem Dache; aber selbst ohne gerade aneinander zu
denken, mit andern Dingen beschäftigt, von der Gesellschaft hin und
her gezogen, näherten sie sich einander.
Fanden sie sich in Einem Saale, so dauerte es nicht lange, und sie
standen, sie saßen nebeneinader.
Nur die nächste Nähe konnte sie beruhigen, aber auch völlig beruhigen,
und diese Nähe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes,
keiner Gebärde, keiner Berührung bedurfte es, nur des reinen
Zusammenseins.
Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im
bewußtlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit
der Welt.
Ja, hätte man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten,
das andere hätte sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm
hinbewegt.
Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander
fanden.
Ottilie war durchaus heiter und gelassen, so daß man sich über sie
völlig beruhigen konnte.
Sie entfernte sich wenig aus der Gesellschaft, nur hatte sie es
erlangt, allein zu speisen.
Niemand als Nanny bediente sie.
Was einem jeden Menschen gewöhnlich begegnet, wiederholt sich mehr,
als man glaubt, weil seine Natur hiezu die nächste Bestimmung gibt.
Charakter, Individualität, Neigung, Richtung, örtlichkeit, Umgebungen
und Gewohnheiten bilden zusammen ein Ganzes, in welchem jeder Mensch
wie in einem Elemente, in einer Atmosphäre schwimmt, worin es ihm
allein bequem und behaglich ist.
Und so finden wir die Menschen, über deren Veränderlichkeit so viele
Klage geführt wird, nach vielen Jahren zu unserm Erstaunen unverändert
und nach äußern und innern unendlichen Anregungen unveränderlich.
So bewegte sich auch in dem täglichen Zusammenleben unserer Freunde
fast alles wieder in dem alten Gleise.
Noch immer äußerte Ottilie stillschweigend durch manche Gefälligkeit
ihr zuvorkommendes Wesen, und so jedes nach seiner Art.
Auf diese Weise zeigte sich der häusliche Zirkel als ein Scheinbild
des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beim alten sei,
war verzeihlich.
Die herbstlichen Tage, an Länge jenen Frühlingstagen gleich, riefen
die Gesellschaft um eben die Stunde aus dem Freien ins Haus zurück.
Der Schmuck an Früchten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, ließ
glauben, als wenn es der Herbst jenes ersten Frühlings wäre; die
Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen.
Denn nun blühten die Blumen, dergleichen man in jenen ersten Tagen
auch gesäet hatte; nun reiften Früchte an den Bäumen, die man damals
blühen gesehen.
Der Major ging ab und zu; auch Mittler ließ sich öfter sehen. Die
Abendsitzungen waren meistens regelmäßig.
Eduard las gewöhnlich, lebhafter, gefühlvoller, besser, ja sogar
heiterer, wenn man will, als jemals.
Es war, als wenn er, so gut durch Fröhlichkeit als durch Gefühl,
Ottiliens Erstarren wieder beleben, ihr Schweigen wieder auflösen
wollte.
Er setzte sich wie vormals, daß sie ihm ins Buch sehen konnte, ja er
ward unruhig, zerstreut, wenn sie nicht hineinsah, wenn er nicht gewiß
war, daß sie seinen Worten mit ihren Augen folgte.
Jedes unerfreuliche, unbequeme Gefühl der mittleren Zeit war
ausgelöscht.
Keines trug mehr dem andern etwas nach; jede Art von Bitterkeit war
verschwunden.
Der Major begleitete mit der Violine das Klavierspiel Charlottens, so
wie Eduards Flöte mit Ottiliens Behandlung des Saiteninstruments
wieder wie vormals zusammentraf.
So rückte man dem Geburtstage Eduards näher, dessen Feier man vor
einem Jahre nicht erreicht hatte.
Er sollte ohne Festlichkeit in stillem, freundlichem Behagen diesmal
gefeiert werden.
So war man, halb stillschweigend halb ausdrücklich, miteinander
übereingekommen.
Doch je näher diese Epoche heranrückte, vermehrte sich das Feierliche
in Ottiliens Wesen, das man bisher mehr empfunden als bemerkt hatte.
Sie schien im Garten oft die Blumen zu mustern; sie hatte dem Gärtner
angedeutet, die Sommergewächse aller Art zu schonen, und sich
besonders bei den Astern aufgehalten, die gerade dieses Jahr in
unmäßiger Menge blühten.
Das Bedeutendste jedoch, was die Freunde mit stiller Aufmerksamkeit
beobachteten, war, daß Ottilie den Koffer zum erstenmal ausgepackt und
daraus verschiedenes gewählt und abgeschnitten hatte, was zu einem
einzigen, aber ganzen und vollen Anzug hinreichte.
Als sie das übrige mit Beihülfe Nannys wieder einpacken wollte, konnte
sie kaum damit zustande kommen; der Raum war übervoll, obgleich schon
ein Teil herausgenommen war.
Das junge habgierige Mädchen konnte sich nicht satt sehen, besonders
da sie auch für alle kleineren Stücke des Anzugs gesorgt fand.
Schuhe, Strümpfe, Strumpfbänder mit Devisen, Handschuhe und so manches
andere war noch übrig.
Sie bat Ottilien, ihr nur etwas davon zu schenken.
Diese verweigerte es, zog aber sogleich die Schublade einer Kommode
heraus und ließ das Kind wählen, das hastig und ungeschickt zugriff
und mit der Beute gleich davonlief, um den übrigen Hausgenossen ihr
Glück zu verkünden und vorzuzeigen.
Zuletzt gelang es Ottilien, alles sorgfältig wieder einzuschichten;
sie öffnete hierauf ein verborgenes Fach, das im Deckel angebracht war.
Dort hatte sie kleine Zettelchen und Briefe Eduards, mancherlei
aufgetrocknete Blumenerinnerungen früherer Spaziergänge, eine Locke
ihres Geliebten und was sonst noch verborgen.
Noch eins fügte sie hinzu—es war das Porträt ihres Vaters—und
verschloß das Ganze, worauf sie den zarten Schlüssel an dem goldnen
Kettchen wieder um den Hals an ihre Brust hing.
Mancherlei Hoffnungen waren indes in dem Herzen der Freunde rege
geworden.
Charlotte war überzeugt, Ottilie werde auf jenen Tag wieder zu
sprechen anfangen; denn sie hatte bisher eine heimliche Geschäftigkeit
bewiesen, eine Art von heiterer Selbstzufriedenheit, ein Lächeln, wie
es demjenigen auf dem Gesichte schwebt, der Geliebten etwas Gutes und
Erfreuliches verbirgt.
Niemand wußte, daß Ottilie gar manche Stunde in großer Schwachheit
hinbrachte, aus der sie sich nur für die Zeiten, wo sie erschien durch
Geisteskraft emporhielt.
Mittler hatte sich diese Zeit öfters sehen lassen und war länger
geblieben als sonst gewöhnlich.
Der hartnäckige Mann wußte nur zu wohl, daß es einen gewissen Moment
gibt, wo allein das Eisen zu schmieden ist.
Ottiliens Schweigen sowie ihre Weigerung legte er zu seinen Gunsten
aus.
Es war bisher kein Schritt zu Scheidung der Gatten geschehen; er
hoffte das Schicksal des guten Mädchens auf irgendeine andere günstige
Weise zu bestimmen; er horchte, er gab nach, er gab zu verstehen und
führte sich nach seiner Weise klug genug auf.
Allein überwältigt war er stets, sobald er Anlaß fand, sein
Räsonnement über Materien zu äußern, denen er eine große Wichtigkeit
beilegte.
Er lebte viel in sich, und wenn er mit andern war, so verhielt er sich
gewöhnlich nur handelnd gegen sie.
Brach nun einmal unter Freunden seine Rede los, wie wir schon öfter
gesehen haben, so rollte sie ohne Rücksicht fort, verletzte oder
heilte, nutzte oder schadete, wie es sich gerade fügen mochte.
Den Abend vor Eduards Geburtstage saßen Charlotte und der Major
Eduarden, der ausgeritten war, erwartend beisammen; Mittler ging im
Zimmer auf und ab; Ottilie war auf dem ihrigen geblieben, den
morgenden Schmuck auseinanderlegend und ihrem Mädchen manches
andeutend, welches sie vollkommen verstand und die stummen Anordnungen
geschickt befolgte.
Mittler war gerade auf eine seiner Lieblingsmaterien gekommen. Er
pflegte gern zu behaupten, daß sowohl bei der Erziehung der Kinder als
bei der Leitung der Völker nichts ungeschickter und barbarischer sei
als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen.
"Der Mensch ist von Hause aus tätig", sagte er; "und wenn man ihm zu
gebieten versteht, so fährt er gleich dahinter her, handelt und
richtet aus.
Ich für meine Person mag lieber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen
so lange dulden, bis ich die entgegengesetzte Tugend gebieten kann,
als daß ich den Fehler los würde und nichts Rechtes an seiner Stelle
sähe.
Der Mensch tut recht gern das Gute, das Zweckmäßige, wenn er nur dazu
kommen kann; er tut es, damit er was zu tun hat, und sinnt darüber
nicht weiter nach als über alberne Streiche, die er aus Müßiggang und
langer Weile vornimmt.
Wie verdrießlich ist mirs oft, mit anzuhören, wie man die Zehn Gebote
in der Kinderlehre wiederholen läßt.
Das vierte ist noch ein ganz hübsches, vernünftiges, gebietendes Gebot.
'Du sollst Vater und Mutter ehren'. Wenn sich das die Kinder recht in
den Sinn schreiben, so haben sie den ganzen Tag daran auszuüben.
Nun aber das fünfte, was soll man dazu sagen?
'Du sollst nicht töten'.
Als wenn irgendein Mensch im mindesten Lust hätte, den andern
totzuschlagen!
Man haßt einen, man erzürnt sich, man übereilt sich, und in Gefolg von
dem und manchem andern kann es wohl kommen, daß man gelegentlich einen
totschlägt.
Aber ist es nicht eine barbarische Anstalt, den Kindern Mord und
Totschlag zu verbieten?
Wenn es hieße: 'sorge für des andern Leben, entferne, was ihm
schädlich sein kann, rette ihn mit deiner eigenen Gefahr; wenn du ihn
beschädigst, denke, daß du dich selbst beschädigst': das sind Gebote,
wie sie unter gebildeten, vernünftigen Völkern statthaben und die man
bei der Katechismuslehre nur kümmerlich in dem 'was ist das?'
nachschleppt.
Und nun gar das sechste, das finde ich ganz abscheulich!
Was?
Die Neugierde vorahnender Kinder auf gefährliche Mysterien reizen,
ihre Einbildungskraft zu wunderlichen Bildern und Vorstellungen
aufregen, die gerade das, was man entfernen will, mit Gewalt
heranbringen!
Weit besser wäre es, daß dergleichen von einem heimlichen Gericht
willkürlich bestraft würde, als daß man vor Kirch und Gemeinde davon
plappern läßt".
In dem Augenblick trat Ottilie herein.
"Du sollst nicht ehebrechen", fuhr Mittler fort.
"Wie grob, wie unanständig!
Klänge es nicht ganz anders, wenn es hieße: 'du sollst Ehrfurcht haben
vor der ehelichen Verbildung; wo du Gatten siehst, die sich lieben,
sollst du dich darüber freuen und teil daran nehmen wie an dem Glück
eines heitern Tages.
Sollte sich irgend in ihrem Verhältnis etwas trüben, so sollst du
suchen, es aufzuklären; du sollst suchen, sie zu begütigen, sie zu
besänftigen, ihnen ihre wechselseitigen Vorteile deutlich zu machen,
und mit schöner Uneigennützigkeit das Wohl der andern fördern, indem
du ihnen fühlbar machst, was für ein Glück aus jeder Pflicht und
besonders aus dieser entspringt, welche Mann und Weib unauflöslich
verbindet?" Charlotte saß wie auf Kohlen, und der Zustand war ihr um
so ängstlicher, als sie überzeugt war, daß Mittler nicht wußte, was
und wo ers sagte, und ehe sie ihn noch unterbrechen konnte, sah sie
schon Ottilien, deren Gestalt sich verwandelt hatte, aus dem Zimmer
gehen.
"Sie erlassen uns wohl das siebente Gebot", sagte Charlotte mit
erzwungenem Lächeln.
"Alle die übrigen", versetzte Mittler, "wenn ich nur das rette, worauf
die andern beruhen".
Mit entsetzlichem Schrei hereinstürzend rief Nanny: "sie stirbt!
Das Fräulein stirbt!
Kommen Sie!
Kommen Sie!" Als Ottilie nach ihrem Zimmer schwankend zurückgekommen
war, lag der morgende Schmuck auf mehreren Stühlen völlig ausgebreitet,
und das Mädchen, das betrachtend und bewundernd daran hin und her
ging, rief jubelnd aus: "sehen Sie nur, liebstes Fräulein, das ist ein
Brautschmuck, ganz Ihrer wert!" Ottilie vernahm diese Worte und sank
auf den Sofa.
Nanny sieht ihre Herrin erblassen, erstarren; sie läuft zu Charlotten;
man kommt.
Der ärztliche Hausfreund eilt herbei; es scheint ihm nur eine
Erschöpfung.
Er läßt etwas Kraftbrühe bringen; Ottilie weist sie mit Abscheu weg,
ja sie fällt fast in Zuckungen, als man die Tasse dem Munde nähert.
Er fragt mit Ernst und Hast, wie es ihm der Umstand eingab, was
Ottilie heute genossen habe.
Das Mädchen stockt; er wiederholt seine Frage; das Mädchen bekennt,
Ottilie habe nichts genossen.
Nanny scheint ihm ängstlicher als billig.
Er reißt sie in ein Nebenzimmer, Charlotte folgt, das Mädchen wirft
sich auf die Kniee, sie gesteht, daß Ottilie schon lange so gut wie
nichts genieße.
Auf Andringen Ottiliens habe sie die Speisen an ihrer Statt genossen;
verschwiegen habe sie es wegen bittender und drohender Gebärden ihrer
Gebieterin, und auch, setzte sie unschuldig hinzu, weil es ihr gar so
gut geschmeckt.
Der Major und Mittler kamen heran; sie fanden Charlotten tätig in
Gesellschaft des Arztes.
Das bleiche himmlische Kind saß, sich selbst bewußt, wie es schien, in
der Ecke des Sofas.
Man bittet sie, sich niederzulegen; sie verweigerts, winkt aber, daß
man das Köfferchen herbeibringe.
Sie setzt ihre Füße darauf und findet sich in einer halb liegenden,
bequemen Stellung.
Sie scheint Abschied nehmen zu wollen, ihre Gebärden drücken den
Umstehenden die zarteste Anhänglichkeit aus, Liebe, Dankbarkeit,
Abbitte und das herzlichste Lebewohl.
Eduard, der vom Pferde steigt, vernimmt den Zustand, er stürzt in das
Zimmer, er wirft sich an ihre Seite nieder, faßt ihre Hand und
überschwemmt sie mit stummen Tränen.
So bleibt er lange.
Endlich ruft er aus: "soll ich deine Stimme nicht wieder hören?
Wirst du nicht mit einem Wort für mich ins Leben zurückkehren?
Gut, gut!
Ich folge dir hinüber; da werden wir mit andern Sprachen reden!" Sie
drückt ihm kräftig die Hand, sie blickt ihn lebevoll und liebevoll an,
und nach einem tiefen Atemzug, nach einer himmlischen, stummen
Bewegung der Lippen: "versprich mir zu leben!" ruft sie aus, mit
holder, zärtlicher Anstrengung; doch gleich sinkt sie zurück.
"Ich versprech es!" rief er ihr entgegen, doch rief er es ihr nur nach;
sie war schon abgeschieden.
Nach einer tränenvollen Nacht fiel die Sorge, die geliebten Reste zu
bestatten, Charlotten anheim.
Der Major und Mittler standen ihr bei.
Eduards Zustand war zu bejammern.
Wie er sich aus seiner Verzweiflung nur hervorheben und einigermaßen
besinnen konnte, bestand er darauf, Ottilie sollte nicht aus dem
Schlosse gebracht, sie sollte gewartet, gepflegt, als eine Lebende
behandelt werden; denn sie sei nicht tot, sie könne nicht tot sein.
Man tat ihm seinen Willen, insofern man wenigstens das unterließ, was
er verboten hatte.
Er verlangte nicht, sie zu sehen.
Noch ein anderer Schreck ergriff, noch eine andere Sorge beschäftigte
die Freunde.
Nanny, von dem Arzt heftig gescholten, durch Drohungen zum Bekenntnis
genötigt und nach dem Bekenntnis mit Vorwürfen überhäuft, war
entflohen.
Nach langem Suchen fand man sie wieder, sie schien außer sich zu sein.
Ihre Eltern nahmen sie zu sich.
Die beste Begegnung schien nicht anzuschlagen, man mußte sie
einsperren, weil sie wieder zu entfliehen drohte.
Stufenweise gelang es, Eduarden der heftigsten Verzweiflung zu
entreißen, aber nur zu seinem Unglück; denn es ward ihm deutlich, es
ward ihm gewiß, daß er das Glück seines Lebens für immer verloren habe.
Man wagte es ihm vorzustellen, daß Ottilie, in jener Kapelle
beigesetzt, noch immer unter den Lebendigen bleiben und einer
freundlichen, stillen Wohnung nicht entbehren würde.
Es fiel schwer, seine Einwilligung zu erhalten, und nur unter der
Bedingung, daß sie im offenen Sarge hinausgetragen und in dem Gewölbe
allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt und eine immerbrennende
Lampe gestiftet werden sollte, ließ er sichs zuletzt gefallen und
schien sich in alles ergeben zu haben.
Man kleidete den holden Körper in jenen Schmuck, den sie sich selbst
vorbereitet hatte; man setzte ihr einen Kranz von Asterblumen auf das
Haupt, die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glänzten.
Die Bahre, die Kirche, die Kapelle zu schmücken, wurden alle Gärten
ihres Schmucks beraubt.
Sie lagen verödet, als wenn bereits der Winter alle Freude aus den
Beeten weggetilgt hätte.
Beim frühsten Morgen wurde sie im offnen Sarge aus dem Schloß getragen,
und die aufgehende Sonne rötete nochmals das himmlische Gesicht. Die
Begleitenden drängten sich um die Träger, niemand wollte vorausgehn,
niemand folgen, jedermann sie umgeben, jedermann noch zum letztenmale
ihre Gegenwart genießen.
Knaben, Männer und Frauen, keins blieb ungerührt.
Untröstlich waren die Mädchen, die ihren Verlust am unmittelbarsten
empfanden.
Nanny fehlte.
Man hatte sie zurückgehalten, oder vielmehr man hatte ihr den Tag und
die Stunde des Begräbnisses verheimlicht.
Man bewachte sie bei ihren Eltern in einer Kammer, die nach dem Garten
ging.
Als sie aber die Glocken läuten hörte, ward sie nur allzubald inne,
was vorging, und da ihre Wächterin aus Neugierde, den Zug zu sehen,
sie verließ, entkam sie zum Fenster hinaus auf einen Gang und von da,
weil sie alle Türen verschlossen fand, auf den Oberboden.
Eben schwankte der Zug den reinlichen, mit Blättern bestreuten Weg
durchs Dorf hin.
Nanny sah ihre Gebieterin deutlich unter sich, deutlicher,
vollständiger, schöner als alle, die dem Zuge folgten.
überirdisch, wie auf Wolken oder Wogen getragen, schien sie ihrer
Dienerin zu winken, und diese, verworren, schwankend, taumelnd,
stürzte hinab.
Auseinander fuhr die Menge mit einem entsetzlichen Schrei nach allen
Seiten.
Vom Drängen und Getümmel waren die Träger genötigt, die Bahre
niederzusetzen.
Das Kind lag ganz nahe daran; es schien an allen Gliedern
zerschmettert.
Man hob es auf; und zufällig oder aus besonderer Fügung lehnte man es
über die Leiche, ja es schien selbst noch mit dem letzten Lebensrest
seine geliebte Herrin erreichen zu wollen.
Kaum aber hatten ihre schlotternden Glieder Ottiliens Gewand, ihre
kraftlosen Finger Ottiliens gefaltete Hände berührt, als das Mädchen
aufsprang, Arme und Augen zuerst gen Himmel erhob, dann auf die Kniee
vor dem Sarge niederstürzte und andächtig entzückt zu der Herrin
hinaufstaunte.
Endlich sprang sie wie begeistert auf und rief mit heiliger Freude:
"ja, sie hat mir vergeben!
Was mir kein Mensch, was ich mir selbst nicht vergeben konnte, vergibt
mir Gott durch ihren Blick, ihre Gebärde, ihren Mund.
Nun ruht sie wieder so still und sanft; aber ihr habt gesehen, wie sie
sich aufrichtete und mit entfalteten Händen mich segnete, wie sie mich
freundlich anblickte!
Ihr habt es alle gehört, ihr seid Zeugen, daß sie zu mir sagte: 'dir
ist vergeben!'
Ich bin nun keine Mörderin mehr unter euch, sie hat mir verziehen,
Gott hat mir verziehen, und niemand kann mir mehr etwas anhaben".
Umhergedrängt stand die Menge; sie waren erstaunt, sie horchten und
sahen hin und wider, und kaum wußte jemand, was er beginnen sollte.
"Tragt sie nun zur Ruhe!" sagte das Mädchen; "sie hat das Ihrige getan
und gelitten und kann nicht mehr unter uns wohnen".
Die Bahre bewegte sich weiter, Nanny folgte zuerst, und man gelangte
zur Kirche, zur Kapelle.
So stand nun der Sarg Ottiliens, zu ihren Häupten der Sarg des Kindes,
zu ihren Füßen das Köfferchen, in ein starkes eichenes Behältnis
eingeschlossen.
Man hatte für eine Wächterin gesorgt, welche in der ersten Zeit des
Leichnams wahrnehmen sollte, der unter seiner Glasdecke gar
liebenswürdig dalag.
Aber Nanny wollte sich dieses Amt nicht nehmen lassen; sie wollte
allein, ohne Gesellin bleiben und der zum erstenmal angezündeten Lampe
fleißig warten.
Sie verlangte dies so eifrig und hartnäckig, daß man ihr nachgab, um
ein größeres Gemütsübel, das sich befürchten ließ, zu verhüten.
Aber sie blieb nicht lange allein; denn gleich mit sinkender Nacht,
als das schwebende Licht, sein volles Recht ausübend, einen helleren
Schein verbreitete, öffnete sich die Türe, und es trat der Architekt
in die Kapelle, deren fromm verzierte Wände bei so mildem Schimmer
altertümlicher und ahnungsvoller, als er je hätte glauben können, ihm
entgegendrangen.
Nanny saß an der einen Seite des Sarges.
Sie erkannte ihn gleich; aber schweigend deutete sie auf die
verblichene Herrin.
Und so stand er auf der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmut,
auf sich selbst zurückgewiesen, starr, in sich gekehrt, mit
niedergesenkten Armen, gefalteten, mitleidig gerungenen Händen, Haupt
und Blick nach der Entseelten hingeneigt.
Schon einmal hatte er so vor Belisar gestanden.
Unwillkürlich geriet er jetzt in die gleiche Stellung; und wie
natürlich war sie auch diesmal!
Auch hier war etwas unschätzbar Würdiges von seiner Höhe herabgestürzt;
und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermögen in einem
Manne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden, wenn
Eigenschaften, die der Nation, dem Fürsten in entscheidenden Momenten
unentbehrlich sind, nicht geschätzt, vielmehr verworfen und
ausgestoßen worden, so waren hier soviel andere stille Tugenden, von
der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen,
durch ihre gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt, seltene,
schöne, liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die
bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit
sehnsüchtiger Trauer vermißt.
Der Jüngling schwieg, auch das Mädchen eine Zeitlang; als sie ihm aber
die Tränen häufig aus dem Auge quellen sah, als er sich im Schmerz
ganz aufzulösen schien, sprach sie mit so viel Wahrheit und Kraft, mit
so viel Wohlwollen und Sicherheit ihm zu, daß er, über den Fluß ihrer
Rede erstaunt, sich zu fassen vermochte und seine schöne Freundin ihm
in einer höhern Region lebend und wirkend vorschwebte.
Seine Tränen trockneten, seine Schmerzen linderten sich, knieend nahm
er von Ottilien, mit einem herzlichen Händedruck von Nanny Abschied,
und noch in der Nacht ritt er vom Orte weg, ohne jemand weiter gesehen
zu haben.
Der Wundarzt war die Nacht über ohne des Mädchens Wissen in der Kirche
geblieben und fand, als er sie des Morgens besuchte, sie heiter und
getrosten Mutes.
Er war auf mancherlei Verirrungen gefaßt; er dachte schon, sie werde
ihm von nächtlichen Unterredungen mit Ottilien und von andern solchen
Erscheinungen sprechen, aber sie war natürlich, ruhig und sich völlig
selbstbewußt.
Sie erinnerte sich vollkommen aller früheren Zeiten, aller Zustände
mit großer Genauigkeit, und nichts in ihren Reden schritt aus dem
gewöhnlichen Gange des Wahren und Wirklichen heraus als nur die
Begebenheit beim Leichenbegängnis, die sie mit Freudigkeit oft
wiederholte: wie Ottilie sich aufgerichtet, sie gesegnet, ihr
verziehen und sie dadurch für immer beruhigt habe.
Der fortdauernd schöne, mehr schlaf—als todähnliche Zustand Ottiliens
zog mehrere Menschen herbei.
Die Bewohner und Anwohner wollten sie noch sehen, und jeder mochte
gern aus Nannys Munde das Unglaubliche hören; manche, um darüber zu
spotten, die meisten, um daran zu zweifeln, und wenige, um sich
glaubend dagegen zu verhalten.
Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum
Glauben.
Die vor den Augen aller Welt zerschmetterte Nanny war durch Berührung
des frommen Körpers wieder gesund geworden; warum sollte nicht auch
ein ähnliches Glück hier andern bereitet sein?
Zärtliche Mütter brachten zuerst heimlich ihre Kinder, die von
irgendeinem übel behaftet waren, und sie glaubten eine plötzliche
Besserung zu spüren.
Das Zutrauen vermehrte sich, und zuletzt war niemand so alt und so
schwach, der sich nicht an dieser Stelle eine Erquickung und
Erleichterung gesucht hätte.
Der Zudrang wuchs, und man sah sich genötigt, die Kapelle, ja außer
den Stunden des Gottesdienstes die Kirche zu verschließen.
Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen.
Er lebte nur vor sich hin, er schien keine Träne mehr zu haben, keines
Schmerzes weiter fähig zu sein.
Seine Teilnahme an der Unterhaltung, sein Genuß von Speis und Trank
vermindert sich mit jedem Tage.
Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schlürfen, das
ihm freilich kein wahrhafter Prophet gewesen.
Er betrachtet noch immer gern die verschlungenen Namenszüge, und sein
ernstheiterer Blick dabei scheint anzudeuten, daß er auch jetzt noch
auf eine Vereinigung hoffe.
Und wie den Glücklichen jeder Nebenumstand zu begünstigen, jedes
Ungefähr mit emporzuheben scheint, so mögen sich auch gern die
kleinsten Vorfälle zur Kränkung, zum Verderben des Unglücklichen
vereinigen.
Denn eines Tages, als Eduard das geliebte Glas zum Munde brachte,
entfernte er es mit Entsetzen wieder; es war dasselbe und nicht
dasselbe; er vermißt ein kleines Kennzeichen.
Man dringt in den Kammerdiener, und dieser muß gestehen, das echte
Glas sei unlängst zerbrochen und ein gleiches, auch aus Eduards
Jugendzeit, untergeschoben worden.
Eduard kann nicht zürnen, sein Schicksal ist ausgesprochen durch die
Tat; wie soll ihn das Gleichnis rühren?
Aber doch drückt es ihn tief.
Der Trank scheint ihm von nun an zu widerstehen; er scheint sich mit
Vorsatz der Speise, des Gesprächs zu enthalten.
Aber von Zeit zu Zeit überfällt ihn eine Unruhe.
Er verlangt wieder etwas zu genießen, er fängt wieder an zu sprechen.
"Ach!" sagte er einmal zu dem Major, der ihm wenig von der Seite kam,
"was bin ich unglücklich, daß mein ganzes Bestreben nur immer eine
Nachahmung, ein falsches Bemühen bleibt!
Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und doch, um dieser
Seligkeit willen bin ich genötigt, diese Pein zu übernehmen.
Ich muß ihr nach, auf diesem Wege nach; aber meine Natur hält mich
zurück und mein Versprechen.
Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen.
Ich fühle wohl, Bester, es gehört Genie zu allem, auch zum
Märtyrertum".
Was sollen wir bei diesem hoffnungslosen Zustande der ehegattlichen,
freundschaftlichen, ärztlichen Bemühungen gedenken, in welchen sich
Eduards Angehörige eine Zeitlang hin und her wogten?
Endlich fand man ihn tot.
Mittler machte zuerst diese traurige Entdeckung.
Er berief den Arzt und beobachtete, nach seiner gewöhnlichen Fassung,
genau die Umstände, in denen man den Verdacht des getroffen hatte.
Charlotte stürzte herbei; ein Verdacht des Selbstmordes regte sich in
ihr; sie wollte sich, sie wollte die andern einer unverzeihlichen
Unvorsichtigkeit anklagen.
Doch der Arzt aus natürlichen und Mittler aus sittlichen Gründen
wußten sie bald vom Gegenteil zu überzeugen.
Ganz deutlich war Eduard von seinem Ende überrascht worden.
Er hatte, was er bisher sorgfältig zu verbergen pflegte, das ihm von
Ottilien übriggebliebene in einem stillen Augenblick vor sich aus
einem Kästchen, aus einer Brieftasche ausgebreitet: eine Locke, Blumen,
in glücklicher Stunde gepflückt, alle Blättchen, die sie ihm
geschrieben, von jenem ersten an, das ihm seine Gattin so zufällig
ahnungsreich übergeben hatte.
Das alles konnte er nicht einer ungefähren Entdeckung mit Willen
preisgeben.
Und so lag denn auch dieses vor kurzem zu unendlicher Bewegung
aufgeregte Herz in unstörbarer Ruhe; und wie er in Gedanken an die
Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig nennen.
Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, daß
niemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde.
Unter dieser Bedingung machte sie für Kirche und Schule, für den
Geistlichen und den Schullehrer ansehnliche Stiftungen.
So ruhen die Liebenden nebeneinander.
Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte Engelsbilder
schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein freundlicher
Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.
Ende dieses Projekt BookishMall.com Etexes "Die Wahlverwandtschaften" von
Johann Wolfgang von Goethe.
.
1 comment