Wer würde das Wahre von dem Falschen, das Scheingut von dem wahren Gute unterscheiden helfen? Wer würde unsern Willen zu festen und glücklichen Entschließungen bringen, wenn es nicht der Verstand täte? Und würden Sie wohl so liebenswürdig geworden sein, wenn Sie nicht immer verständig gewesen wären?
JULCHEN. Herr Magister, Sie sind ja nicht auf Ihrer Studierstube. Was quälen Sie mich mit Ihrer Gelehrsamkeit? Ich mag ja nicht[388] so weise sein als Sie. Ich kann es auch nicht sein, weil ich nicht so viel Geschicklichkeit besitze.
DER MAGISTER. Zu eben der Zeit, da Sie wünschen, daß sie keine Vernunft haben möchten, beweisen Sie durch Ihre Bescheidenheit, daß Sie ihrer sehr viel haben. Ich fordere keine Gelehrsamkeit von Ihnen. Ich will sogar die meinige vergessen, indem ich mit Ihnen spreche. Sie sollen heute den Schritt zu Ihrem Glücke tun. Es scheint aber nicht, daß Sie dazu entschlossen sind. Gleichwohl wünscht es Ihr Herr Vater herzlich. Ich habe ihm versprochen, Ihnen einige kleine Vorstellungen zu tun. Und ich wünschte, daß Sie solche anhören und mir Einwürfe dagegen machen möchten. Dies kann ich, so alt ich bin, doch wohl leiden. Die Liebe ist eine der schönsten, aber auch der gefährlichsten Leidenschaften. Sie rächt sich an uns, wenn wir sie verschmähen; und sie rächt sich auch, wenn wir uns in unserm Gehorsame übereilen.
JULCHEN. Sie sind etwas weitläufig in Ihren Vorstellungen. Allein Sie sollen ohne Einwurf recht haben. Lassen Sie mich nur in Ruhe. Mein Verstand ist freilich nicht so stark an Gründen als eine Philosophie. Dennoch ist er noch immer stark genug für mein Herz gewesen.
DER MAGISTER. Wissen Sie nicht, daß uns unsere Leidenschaften am ersten besiegen, wenn sie am ruhigsten zu sein scheinen? Das Herz der Menschen ist der größte Betrüger. Und der Klügste weiß oft selbst nicht, was in ihm vorgeht. Wir lieben und werden es zuweilen nicht eher gewahr, als bis wir nicht mehr geliebt werden. Dieses alles sollen Sie nicht glauben, weil ich's sage. Nein, weil es die größten Kenner des menschlichen Herzens, ein Sokrates, ein Plato, ein Seneka und viele von den neuern Philosophen gesagt haben.
JULCHEN. Ich kenne alle diese Männer nicht und verlange sie auch nicht zu kennen. Aber wenn sie so weise gewesen sind, wie Sie behaupten, so werden sie wohl auch gesagt haben, daß man ein unruhiges Herz durch viele Vorstellungen nicht noch unruhiger machen soll. Und ich traue dem Plato und Seneka, und wie sie alle heißen, so viel Einsicht und Höflichkeit zu, daß sie Sie bitten würden, mich zu verlassen, wenn sie zugegen wären. Sobald ich die Leidenschaften und insonderheit die Liebe nicht mehr regieren kann: so will ich Ihre Philosophie um Beistand ansprechen.
DER MAGISTER. Ihre Aufrichtigkeit gefällt mir, ob sie mir gleich zu[389] widersprechen scheint.
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