Gegen elf Uhr kam Martine, bevor sie das Mittagessen aufs Feuer stellte, zu Clotilde heraus, mit dem ewigen Strumpf, an dem sie sogar im Gehen strickte, wenn sie im Haus nichts zu tun hatte.

»Wissen Sie, daß er immer noch wie ein Wolf da oben eingesperrt ist und sein komisches Zeug zusammenbraut?«

Clotilde zuckte die Achseln, ohne die Augen von ihrer Stickerei zu heben.

»Und wenn ich Ihnen sagen würde, Mademoiselle, was man sich so erzählt! Madame Félicité hatte gestern ganz recht, als sie sagte, daß es wahrhaftig Grund gibt, schamrot zu werden … Mir hat man˜s ins Gesicht geschleudert, mir, die ich hier zu Ihnen spreche, daß er schuld ist am Tode des alten Boutin, Sie entsinnen sich doch, dieses armen Alten, der an Fallsucht litt und der auf einer Landstraße gestorben ist.«

Schweigen trat ein. Als Martine dann sah, wie sich das Gesicht des jungen Mädchens noch mehr verdüsterte, beschleunigte sie die rasche Bewegung ihrer Finger und fuhr fort:

»Ich verstehe ja nichts davon, aber das bringt mich in Wut, was er da herstellt … Und Sie, Mademoiselle, billigen Sie denn, was er da zusammenbraut?«

Jäh blickte Clotilde auf und ließ sich von der Woge der Leidenschaft überwältigen, die sie hinwegriß.

»Hör zu, ich will davon nicht mehr verstehen als du, aber ich glaube, daß er sehr großen Sorgen entgegengeht … Er liebt uns nicht …«

»O doch, Mademoiselle, er liebt uns!«

»Nein, nein, nicht so, wie wir ihn lieben! Wenn er uns liebte, dann wäre er hier bei uns, anstatt sich da oben um sein Seelenheil, um sein Glück und um unser Glück zu bringen, weil er durchaus die Welt retten will!«

Und die beiden Frauen schauten einander in ihrem eifersüchtigen Zorn eine Weile an, mit Augen, die vor zärtlicher Liebe brannten. Sie machten sich wieder an die Arbeit und sprachen kein Wort mehr, in Schatten getaucht.

Oben in seinem Zimmer arbeitete Doktor Pascal mit der gelassenen Heiterkeit vollkommener Freude. Er hatte nach seiner Rückkehr aus Paris bis zu dem Tage, da er sich auf die Souleiade zurückzog, kaum ein Dutzend Jahre als Arzt praktiziert. Zufrieden mit den etwa hunderttausend Francs, die er verdient und klug angelegt hatte, widmete er sich fortan fast nur noch seinen Lieblingsstudien, behielt lediglich ein paar Freunde als Patienten, weigerte sich aber auch nicht, einen Krankenbesuch zu machen, ohne jemals seine Rechnung zu schicken. Wenn man ihn bezahlte, warf er das Geld in ein Schubfach seines Sekretärs und betrachtete das als Taschengeld für seine Versuche und seine Launen, als Zuschuß zu seinen Jahreszinsen, mit denen er durchaus auskam. Und er machte sich gar nichts draus, daß er wegen seines Gebarens in dem schlechten Ruf stand, ein Sonderling zu sein, er war glücklich nur bei seinen Forschungen über Probleme, die ihn leidenschaftlich interessierten. Für viele war es eine Überraschung, daß dieser Wissenschaftler mit seinen genialen Gaben, denen nur eine zu lebhafte Phantasie Abbruch tat, in Plassans geblieben war, in dieser entlegenen Stadt, die ihm nicht einmal das notwendige Arbeitsmaterial zu bieten schien. Aber er wußte zu erklären, welche Annehmlichkeiten er dort entdeckt hatte: zunächst einmal Zurückgezogenheit, verbunden mit großer Ruhe, und dann bot sich ihm in diesem Provinzwinkel, wo er jede Familie kannte, wo er die geheimgehaltenen Phänomene durch zwei oder drei Generationen verfolgen konnte, ein ungeahntes Betätigungsfeld für sein Lieblingsstudium, die ständigen Untersuchungen vom Gesichtspunkt der durch die Vererbung gegebenen Fakten aus. Andererseits wohnte er hier nahe am Meer, er verbrachte fast jeden Sommer am Meer, um in der Tiefe der weiten Wasser das Leben zu studieren, das unendliche Gewimmel, in dem es entsteht und sich fortpflanzt. Und schließlich gab es im Krankenhaus von Plassans einen Seziersaal, den er fast als einziger benutzte, einen großen, hellen und ruhigen Saal, in dem seit mehr als zwanzig Jahren alle Leichen, auf die niemand Anspruch erhob, unter sein Skalpell gekommen waren. Da er übrigens sehr bescheiden und lange Zeit hindurch von einer menschenscheuen Schüchternheit war, hatte er sich damit begnügt, mit seinen alten Professoren und einigen neuen Freunden einen Briefwechsel über sehr bemerkenswerte Denkschriften zu unterhalten, die er gelegentlich bei der Medizinischen Akademie einreichte. Jeder streitbare Ehrgeiz ging ihm ab.

Anfangs waren es Arbeiten über die Schwangerschaft, die Doktor Pascal dazu bewogen, sich besonders mit den Gesetzen der Vererbung zu befassen. Wie immer hatte auch hier der Zufall seine Hand im Spiel, der ihm eine ganze Reihe von Leichen schwangerer Frauen lieferte, die während einer Choleraepidemie gestorben waren. Später hatte er bei jedem Todesfall achtgegeben und so die Reihe ergänzt und die Lücken ausgefüllt, um endlich die Entstehung des Embryos und dann die Entwicklung des Fötus an jedem Tage seines Lebens im Mutterleib kennenzulernen; und er hatte so ein Verzeichnis der klarsten, der entscheidendsten Forschungsergebnisse aufgestellt. Von diesem Zeitpunkt an stellte sich ihm die Frage nach dem erregenden Geheimnis der Empfängnis, mit der alles beginnt. Warum und wieso ein neues Wesen? Welches waren die Gesetze des Lebens, dieses reißenden Stroms von Wesen, die die Welt ausmachten? Er ließ es nicht bei den Leichen bewenden, er dehnte seine Sezierungen auf die lebende Menschheit aus, weil er verblüfft war über gewisse feststehende Fakten bei seinen Patienten; und er unterzog vor allem seine eigene Familie, die sein wichtigstes Experimentierfeld geworden war, weil sich in ihr die Fälle so genau und so vollständig darstellten, einer sorgfältigen Beobachtung. Von da an hatte er in dem Maße, wie sich die Fakten häuften und in seine Aufzeichnungen einordnen ließen, eine allgemeine Theorie der Vererbung aufzustellen versucht, die ausreichen könnte, alle diese Fakten zu erklären.

Ein schwieriges Problem, um dessen Lösung er sich seit Jahren bemühte. Er war ausgegangen vom Prinzip der Erfindung und vom Prinzip der Nachahmung: Vererbung oder Fortpflanzung von Lebewesen unter der Herrschaft der Konstanz, Angeborensein oder Fortpflanzung von Lebewesen unter der Herrschaft der Veränderlichkeit. Bei der Vererbung hatte er nur vier Fälle gelten lassen: die direkte Vererbung, bei der Eigenschaften des Vaters und der Mutter in der physischen und psychischen Natur des Kindes auftreten; die indirekte Vererbung, bei der Eigenschaften aus Seitenlinien – Onkel und Tanten, Vettern und Basen – auftreten; die überspringende Vererbung, bei der Merkmale von Vorfahren nach einer oder mehreren Generationen auftreten; schließlich die Vererbung einer Nachwirkung, bei der Eigenschaften früherer Partner auftreten, zum Beispiel Eigenschaften des ersten Mannes, der das Weib für die künftige Empfängnis gleichsam gezeichnet hat, selbst wenn er nicht mehr Urheber dieser Empfängnis ist. Im Falle des Angeborenseins vereinigen sich die physischen und psychischen Merkmale der Eltern, ohne daß sich von ihnen irgend etwas in dem neuen oder neu scheinenden Wesen wiederzufinden scheint. Später hatte er, auf diese beiden Bezeichnungen – Vererbung, Angeborensein – zurückgreifend, sie wieder untergliedert, wobei er die Vererbung in zwei Fälle teilte, die Elektion des Vaters oder der Mutter beim Kind, die Wahl, die individuelle Dominanz oder die Mischung der Merkmale beider, eine Mischung, die drei Formen annehmen und vom unvollkommensten bis zum vollkommensten Zustand gehen konnte: Verschweißung, Dissemination, Verschmelzung. Für das Angeborensein hingegen gab es nur einen möglichen Fall, die Verbindung, die chemische Verbindung, die bewirkt, daß zwei zusammentreffende Körper einen neuen Körper bilden können, der völlig verschieden ist von denen, die ihn erzeugt haben. Dies war das Ergebnis unzähliger Beobachtungen, nicht nur in der Anthropologie, sondern auch in der Zoologie, im Obstbau und im Gartenbau.