Einen Augenblick lang erging sie sich auf der Terrasse, an deren beiden Enden hundertjährige Zypressen standen, zwei riesige düstere Kerzen, die drei Meilen weit zu sehen waren. Dann fiel das Gelände ab bis zur Eisenbahn, mörtellos gefügte Steinmauern gaben den roten Äckern Halt, wo die letzten Rebstöcke eingegangen waren, so daß auf diesen Äckern, die wie riesige Treppen aussahen, nur noch kümmerliche Reihen von Öl und Mandelbäumen mit dürren Blättern wuchsen. Die Hitze war bereits erdrückend, Clotilde betrachtete die kleinen Eidechsen, die über die locker gewordenen Platten huschten und zwischen die dichtbelaubten Kapernsträucher flüchteten.
Wie erbost über den weiten Horizont, durchquerte sie dann den Obstgarten und den Gemüsegarten, den Martine trotz ihres Alters eigensinnig selber pflegte und in den sie nur zweimal in der Woche einen Mann für die schweren Arbeiten kommen ließ; sie ging nach rechts hinauf in einen Pinienhain, ein kleines Gehölz, alles, was übriggeblieben war von den herrlichen Pinien, die einstmals auf diesem Plateau standen. Aber auch dort fühlte sie sich unbehaglich: die trockenen Nadeln knisterten unter ihren Füßen, erstickend kam harziger Duft von den Zweigen herab. Und sie eilte an der Einfriedungsmauer entlang, ging an der Eingangspforte vorbei, die, fünf Minuten von den ersten Häusern von Plassans entfernt, auf den Weg nach Les Fenouillères führte, und kam schließlich bei der Tenne heraus, einer ungeheuren Tenne von zwanzig Meter Durchmesser, die allein schon zur Genüge bewies, wie bedeutend dieses Besitztum einst gewesen war. Ach, diese uralte, wie zur Römerzeit mit runden Kieselsteinen gepflasterte Tenne, die wie ein weites Festungsglacis aussah, das kurzes, trockenes, wie Gold wirkendes Gras mit einem dicken Wollteppich zu bedecken schien. Welch schöne Spaziergänge hatte sie früher hierher unternommen, um zu rennen, um sich im Grase zu wälzen, um stundenlang auf dem Rücken ausgestreckt dazuliegen, wenn an dem grenzenlosen Himmel die Sterne aufgingen.
Sie hatte wieder ihren Sonnenschirm aufgespannt, sie ging langsam über die Tenne. Nun befand sie sich links von der Terrasse, sie hatte den Rundgang um das Besitztum vollendet. Deshalb kehrte sie wieder hinter das Haus zurück unter die Gruppe riesiger Platanen, die hier dichten Schatten spendeten. Nach dieser Seite zu lagen auch die beiden Fenster vom Zimmer des Doktors. Und sie schaute hoch, denn sie war nur in der jähen Hoffnung näher getreten, ihn endlich zu sehen. Aber die Fenster blieben geschlossen, und sie fühlte sich dadurch gekränkt, wie wenn sie lieblos behandelt worden wäre. Da erst merkte sie, daß sie immer noch ihr Brötchen in der Hand hielt und ganz vergessen hatte, es zu essen; und sie ging unter die Bäume und biß mit ihren schönen jungen Zähnen ungeduldig in das Brötchen.
Ein köstlicher Schlupfwinkel war diese alte Kreuzpflanzung von Platanen, noch ein Überbleibsel des vergangenen Glanzes der Souleiade. Unter diesen Riesen mit den ungeheuren Stämmen war es nie richtig hell, an brennendheißen Sommertagen herrschte hier ein grünliches Licht von köstlicher Kühle. Einst war hier ein französischer Garten gewesen, von dem jetzt nur noch die Buchsbaumeinfassungen übrig waren, die sich sicher an diesen Schatten gewöhnt hatten, denn sie waren kräftig gewachsen und groß wie Sträucher. Und den Zauber dieses so schattigen Winkels machte ein Brunnen aus, ein einfaches Bleirohr, das man in den Schaft einer Säule eingelassen hatte und aus dem sogar während der größten Trockenheit unaufhörlich ein Rinnsal von der Dicke des kleinen Fingers floß. Ein Stück weiter speiste dieses Rinnsal ein breites moosiges Becken, dessen grünüberzogene Steine nur alle drei oder vier Jahre gesäubert wurden. Wenn alle Ziehbrunnen in der Nachbarschaft versiegten, behielt die Souleiade ihre Quelle, deren hundertjährige Kinder gewiß die großen Platanen waren. Seit Jahrhunderten sang dieses immer gleiche und stetige dünne Rinnsal Tag und Nacht dasselbe reine Lied mit kristallenen Schwingungen.
Nachdem Clotilde zwischen den Buchsbaumbüschen, die ihr bis zur Schulter reichten, umhergeirrt war, ging sie ins Haus zurück, um eine Stickerei zu holen, und setzte sich dann an einen steinernen Tisch neben dem Brunnen. Man hatte dort ein paar Gartenstühle hingestellt und pflegte an dieser Stelle den Kaffee zu trinken. Und sie blickte nun absichtlich nicht mehr auf, als wäre sie ganz in ihre Arbeit versunken. Von Zeit zu Zeit schien sie jedoch einen kurzen Blick zwischen den Stämmen der Bäume hindurch in die glühenden Fernen zu werfen, zu der wie ein Glutofen blendenden Tenne, auf der die Sonne brannte. Aber in Wirklichkeit glitt ihr Blick hinter ihren langen Wimpern hervor zu den Fenstern des Doktors hoch. Nichts zeigte sich dort, nicht ein Schatten. Und in ihr wuchsen die Traurigkeit, der Groll, daß er sie so vernachlässigte und so geringschätzig behandelte nach ihrem gestrigen Streit. Dabei war sie mit einem so großen Verlangen, sofort Frieden zu schließen, aufgestanden! Er hatte es also nicht eilig, er liebte sie also nicht, wenn es ihm nichts ausmachte, daß sie miteinander böse waren? Und allmählich wurde sie mißmutig, sie dachte wieder daran, den Kampf fortzuführen, und sie war von neuem entschlossen, in nichts nachzugeben.
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