Aber da ist der Tod des armen alten Boutin …«

»Oh!« rief er aus, ohne sie ausreden zu lassen. »Ein Epileptiker, der bei einem Schlaganfall gestorben ist! Hör mal, da du schlechter Laune bist, wollen wir nicht mehr darüber sprechen: du würdest mir weh tun, und das würde mir den Tag verderben.«

Es gab weichgekochte Eier, Koteletts, eine Nachspeise. Und Schweigen breitete sich aus, in dem sie trotz ihres Schmollens tüchtig drauflosaß, denn sie hatte einen gesegneten Appetit, den sie nicht aus Koketterie zu verbergen suchte. Daher sagte er schließlich lachend:

»Mich beruhigt ja nur, daß du einen guten Magen hast … Martine, gebt doch dem Fräulein noch Brot.«

Wie gewöhnlich wurden sie von Martine bedient, die ihnen mit ihrer ruhigen Vertrautheit beim Essen zusah. Oft plauderte sie sogar mit ihnen.

»Herr Doktor«, sagte sie, als sie Brot geschnitten hatte, »der Fleischer hat seine Rechnung gebracht, soll ich sie bezahlen?«

Er blickte auf und sah das Dienstmädchen überrascht an.

»Warum fragt Ihr mich das? Bezahlt Ihr sonst nicht auch, ohne mich zu fragen?«

Tatsächlich führte Martine die Kasse. Das bei Herrn Grandguillot, Notar in Plassans, angelegte Geld brachte die runde Summe von sechstausend Francs Jahreszinsen. Jedes Vierteljahr verblieben die fünfzehnhundert Francs in den Händen Martines, und sie verfügte darüber zum Besten der Interessen des Hauses, kaufte und bezahlte alles mit äußerster Sparsamkeit, denn sie war geizig, weswegen man sie sogar ständig neckte. Clotilde, die nur sehr wenig ausgab, hatte keine eigene Kasse. Der Doktor nahm das Geld für seine Experimente und sein Taschengeld von den drei oder viertausend Francs, die er jährlich noch verdiente und die er in ein Schubfach des Sekretärs warf, so daß er dort einen kleinen Schatz von Goldstücken und Banknoten hatte, ohne jemals genau zu wissen, wieviel es war.

»Gewiß, Herr Doktor, ich bezahle«, sagte Martine, »aber nur, wenn ich die Ware entgegengenommen habe; und diesmal ist die Rechnung so hoch wegen all der Gehirne, die der Fleischer Ihnen geliefert hat …«

Der Doktor unterbrach sie abrupt.

»Ach so! Sagt mal, wollt vielleicht auch Ihr Euch gegen mich stellen? Nein, nein! Das wäre zuviel! Gestern habt ihr mir alle beide viel Kummer bereitet, und ich war zornig. Aber das muß aufhören, ich will nicht, daß das Haus zur Hölle wird … Zwei Frauen gegen mich, und noch dazu die einzigen, die mich ein wenig gern haben! Wißt ihr, lieber suche ich sofort das Weite!«

Er wurde nicht böse, er lachte, obgleich man am Beben seiner Stimme die Unruhe seines Herzens merkte. Und er fügte in seiner fröhlichen, gutmütigen Art hinzu:

»Wenn Ihr Angst habt, nicht bis zum Monatsende zu reichen, Martine, so sagt dem Fleischer, er soll mir meine Rechnung extra schicken … Und seid unbesorgt, niemand verlangt von Euch, daß Ihr etwas von dem Euren hinzulegt, Eure Sous können ruhig schlafen.«

Das war eine Anspielung auf das kleine persönliche Vermögen Martines. In dreißig Jahren hatte sie bei vierhundert Francs Lohn zwölftausend Francs verdient, von denen sie nur das für ihren Unterhalt unbedingt Notwendige in Anspruch genommen hatte; und gemästet, fast verdreifacht durch die Zinsen, belief sich die Summe ihrer Ersparnisse heute auf gut dreißigtausend Francs, die sie aus einer Laune heraus nicht bei Herrn Grandguillot hatte anlegen wollen, in dem Wunsch, ihr Geld für sich zu haben. Es war anderswo in sicheren Wertpapieren angelegt.

»Die schlafenden Sous sind ehrbare Sous«, sagte sie ernst. »Aber der Herr Doktor hat recht, ich werde dem Fleischer sagen, er soll eine Extrarechnung schicken, da ja doch alle diese Gehirne für die Küche vom Herrn Doktor bestimmt sind und nicht für meine.«

Über diese Erklärung mußte Clotilde lächeln, die sich immer amüsierte, wenn sich jemand über Martines Geiz lustig machte; und so ging das Mittagessen fröhlicher zu Ende. Der Doktor wollte den Kaffee unter den Platanen einnehmen, da er, wie er sagte, frische Luft brauchte, nachdem er sich den ganzen Vormittag eingeschlossen hatte. Der Kaffee wurde also auf dem Steintisch neben dem Brunnen serviert. Und wie angenehm war es hier im Schatten, in der singenden Frische des Wassers, während ringsumher der Pinienhain, die Tenne, das ganze Besitztum in der Mittagssonne brannte!

Pascal hatte selbstgefällig die Phiole mit der Nervensubstanz mitgebracht und betrachtete sie nun, nachdem er sie auf den Tisch gestellt hatte.

»So, mein Fräulein«, begann er wieder in mürrisch scherzhaftem Ton, »Sie glauben nicht an mein Auferstehungselixier, und doch glauben Sie an Wunder!«

»Meister«, erwiderte Clotilde, »ich glaube, daß wir nicht alles wissen.«

Er machte eine ungeduldige Bewegung.

»Aber einmal wird man alles wissen müssen … Begreife doch, du kleiner Starrkopf, daß man wissenschaftlich niemals eine einzige Abweichung von den unveränderlichen Gesetzen festgestellt hat, die das Universum regieren. Bis zum heutigen Tage hat allein der menschliche Verstand versucht, Einfluß zu nehmen, und ich wette, daß du keinen wirklichen Willen, keine Absicht irgendwelcher Art außerhalb des Lebens findest … Und darin ist alles begründet, es gibt auf der Welt keinen anderen Willen als jene Kraft, die alles zum Leben treibt, zu einem mehr und mehr entwickelten, höheren Leben.«

Mit weit ausholender Gebärde war er aufgestanden, und ein solcher Glaube beseelte ihn, daß das junge Mädchen ihn anschaute, überrascht, ihn unter seinem weißen Haar so jung zu finden.

»Soll ich dir mein Glaubensbekenntnis sagen, da du mich beschuldigst, nichts von dem deinen wissen zu wollen? Ich glaube, daß die Zukunft der Menschheit auf dem Fortschritt der Vernunft durch die Wissenschaft beruht. Ich glaube, daß die Suche nach der Wahrheit mit Hilfe der Wissenschaft das göttliche Ideal ist, das sich der Mensch vornehmen soll. Ich glaube, daß außerhalb des Schatzes der langsam erworbenen und unverlierbaren Wahrheiten alles Illusion und Eitelkeit ist. Ich glaube, daß die Summe dieser ständig vermehrten Wahrheiten dem Menschen eines Tages eine noch nicht abzuschätzende Macht geben wird und die Heiterkeit der Seele, wenn nicht das Glück … Ja, ich glaube an den schließlichen Triumph des Lebens.«

Und mit noch weiter ausholender Gebärde umfaßte er den unendlichen Horizont, als wollte er das in Flammen stehende Land, in dem die Säfte aller Lebewesen brodelten, zum Zeugen nehmen.

»Doch das fortwährende Wunder, mein Kind, das ist das Leben … Mach doch die Augen auf, schau hin!«

Sie schüttelte den Kopf.