»Ich mache sie auf, und ich sehe nicht alles … Du, Meister, bist ein Starrkopf, wenn du nicht zugeben willst, daß sich dahinter ein Unbekanntes verbirgt, in das du niemals eindringen wirst. Oh, ich weiß, du bist zu klug, um das nicht zu wissen. Nur willst du es nicht wahrhaben, du weist das Unbekannte von dir, weil es dir bei deinen Forschungen im Wege wäre … Du magst mir noch so oft sagen, ich solle das Mysterium beiseite lassen, vom Bekannten ausgehen zur Eroberung des Unbekannten – ich kann es nicht! Das Mysterium packt mich sofort und beunruhigt mich.«
Er hörte ihr lächelnd zu, glücklich, daß sie sich so ereiferte, und er streichelte mit der Hand ihre blonden Locken.
»Ja, ja, ich weiß, du bist wie die anderen, du kannst nicht ohne Illusion und ohne Lüge leben … Nun, laß nur gut sein, wir werden uns trotzdem verstehen. Bleib schön gesund, das ist schon die halbe Weisheit und das halbe Glück.«
Dann wechselte er das Thema.
»Aber du wirst mich wenigstens auf meinem Gang begleiten und mir bei meinen Wundern helfen … Heute ist Donnerstag, mein Besuchstag. Wenn die Hitze etwas nachgelassen hat, gehen wir zusammen los.«
Sie lehnte zunächst ab, damit es nicht so schien, als gäbe sie nach, aber schließlich willigte sie ein, da sie merkte, welchen Kummer sie ihm bereitete. Gewöhnlich begleitete sie ihn. Sie blieben lange unter den Platanen sitzen, bis zu dem Augenblick, da der Doktor hinaufging, sich anzuziehen. Als er wieder herunterkam, tadellos in einen eng anliegenden Gehrock gekleidet, einen breitrandigen Seidenhut auf dem Kopf, sprach er davon, Bonhomme anzuspannen, das Pferd, das ihn ein Vierteljahrhundert lang zu seinen Krankenbesuchen gefahren hatte. Doch das arme alte Tier wurde blind, und aus Dankbarkeit für seine Dienste, aus Liebe zu ihm ließ man es meist in Ruhe. An jenem Nachmittag war es ganz verschlafen, seine Augen waren trübe, seine Beine lahm vom Rheumatismus. Und so drückten der Doktor und das junge Mädchen, die in den Stall gegangen waren, um nach Bonhomme zu sehen, ihm einen dicken Kuß links und rechts neben die Nüstern und sagten ihm, es solle sich ausruhen auf einer Schütte guten Strohs, das Martine herbeibrachte. Und sie beschlossen, zu Fuß zu gehen.
Clotilde hatte ihr weißes, rotgepunktetes Leinenkleid anbehalten und nur einen breiten, mit einem Fliedertuff geschmückten Strohhut aufgesetzt. Sie war bezaubernd mit ihren großen Augen, ihrem Gesicht wie Milch und Blut im Schatten der breiten Krempe. Wenn sie so Arm in Arm ausgingen – sie schlank, hochgewachsen und so jung, er strahlend, das Gesicht vom Weiß des Bartes erhellt, so kraftvoll noch, daß er sie hochhob und über die Bäche trug –, lächelte man, wenn sie vorbeikamen; man drehte sich um und schaute ihnen nach, so schön und fröhlich waren sie. Als sie an jenem Tage, den Weg von Les Fenouillères kommend, am Stadttor von Plassans anlangten, unterbrach eine Gruppe von Klatschbasen jäh ihr Geschwätz. Man hätte ihn für einen jener alten Könige halten können, die man auf Gemälden sieht, einen jener mächtigen und mildtätigen Könige, die nicht mehr älter werden, die Hand auf die Schulter eines Kindes gelegt, das schön ist wie der Tag und dessen strahlende und demütige Jugend ihnen Kraft gibt.
Sie bogen auf den Cours Sauvaire ein, um zur Rue de la Banne zu gelangen, da hielt ein großer, brünetter junger Mann von etwa dreißig Jahren sie an.
»Ach, Meister, Sie haben mich vergessen! Ich warte noch immer auf Ihre Notiz über die Schwindsucht.«
Es war Doktor Ramond, der sich seit zwei Jahren in Plassans niedergelassen hatte und sich dort eine gute Praxis aufbaute. Ein prachtvoller Kopf, im vollen Glanz strahlender Männlichkeit, wurde er von den Frauen vergöttert, und er besaß glücklicherweise viel Verstand und viel Klugheit.
»Sieh an, Ramond! Guten Tag! Aber ganz und gar nicht, lieber Freund, ich vergesse Sie nicht. Diesem kleinen Mädchen da habe ich gestern die Notiz zum Abschreiben gegeben, und sie hat noch nichts daran getan.«
Die beiden jungen Leute hatten sich mit dem Ausdruck herzlicher Vertrautheit die Hand gedrückt.
»Guten Tag, Fräulein Clotilde.«
»Guten Tag, Herr Ramond.«
Während einer glücklicherweise gutartigen Schleimhautentzündung, die sich das junge Mädchen im Vorjahr zugezogen hatte, hatte Doktor Pascal so den Kopf verloren, daß er an seiner eigenen Kunst zweifelte; und er hatte darauf bestanden, daß sein junger Kollege ihm half, ihn beruhigte. Und so war ein vertraulicher Umgang, eine Art Kameradschaft zwischen den dreien entstanden.
»Sie bekommen Ihre Notiz morgen früh, ich verspreche es«, sagte Clotilde lachend.
Und Ramond begleitete sie ein Stück bis zum Ende der Rue de la Banne, wo die Altstadt beginnt und wo Pascal seine Besuche zu machen hatte. Und in der Art, wie Ramond sich lächelnd zu Clotilde neigte, lag eine ganze verschwiegene, langsam gewachsene Liebe, die geduldig der Stunde harrte, welche die einzig vernünftige Lösung bringen würde. Im übrigen hörte er ehrerbietig Doktor Pascal zu, dessen Arbeiten er sehr bewunderte.
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