Und er schwieg wieder, er nahm die Schere, nachdem er den Artikel gelesen hatte, schnitt ihn aus und klebte ihn auf ein Blatt Papier, auf das er mit seiner groben und unregelmäßigen Schrift einige Bemerkungen schrieb. Dann ging er zum Schrank zurück, um diesen neuen Vermerk dort einzuordnen. Aber er mußte sich einen Stuhl nehmen, denn das obere Brett war so hoch, daß er trotz seiner Größe nicht hinaufreichen konnte.

Auf diesem oberen Brett waren, methodisch geordnet, eine ganze Reihe riesiger Aktenstücke übersichtlich abgelegt. Es waren die verschiedensten Dokumente, handgeschriebene Blätter, Aktenstücke auf Stempelpapier, ausgeschnittene Zeitungsartikel, zusammengeheftet in Aktendeckeln aus starkem blauem Papier, und auf jedem dieser Aktendeckel stand in großen Buchstaben ein Name geschrieben. Man spürte, wie diese Unterlagen mit liebevoller Aufmerksamkeit laufend ergänzt, wie sie unaufhörlich zur Hand genommen und sorgfältig wieder an ihren Platz zurückgelegt wurden, denn im ganzen Schrank war allein diese Ecke aufgeräumt.

Als Pascal, der auf den Stuhl gestiegen war, das gesuchte Aktenstück, eine der dicksten Mappen, auf der der Name »Saccard« stand, gefunden hatte, fügte er diesen neuen Vermerk hinzu und legte dann das Ganze wieder an seinen Platz nach der alphabetischen Reihenfolge zurück. Einen Augenblick verweilte er noch, richtete mit selbstzufriedener Miene einen Stapel wieder auf, der zusammenzufallen drohte. Und als er endlich vom Stuhl sprang, sagte er:

»Hörst du, Clotilde? Wenn du aufräumst, sollst du die Akten da oben nicht anrühren.«

»Gut, Meister!« antwortete sie zum drittenmal folgsam.

Er lachte jetzt wieder mit seiner natürlichen Fröhlichkeit.

»Das ist verboten.«

»Ich weiß, Meister!«

Und er schloß den Schrank mit einer kräftigen Umdrehung des Schlüssels wieder ab und warf den Schlüssel in ein Schubfach seines Arbeitstisches. Das junge Mädchen wußte über seine Forschungen so weit Bescheid, daß sie ein wenig Ordnung in seine Manuskripte bringen konnte; und er beschäftigte Clotilde auch gern als Sekretärin, er ließ sie seine Aufzeichnungen abschreiben, wenn ein Kollege und Freund wie Doktor Ramond ihn um eine der Unterlagen bat. Aber sie war keine Wissenschaftlerin, er verbot ihr einfach, das zu lesen, was sie seiner Ansicht nach nicht zu erfahren brauchte.

Mittlerweile wunderte er sich jedoch über die tiefe Aufmerksamkeit, in die sie, wie er spürte, versunken war.

»Was hast du denn, daß du den Mund nicht aufmachst? Malst du diese Blumen mit solcher Leidenschaft ab?«

Auch das war eine jener Tätigkeiten, die er ihr oft übertrug, die Anfertigung von Zeichnungen, Aquarellen, Pastellgemälden, die er dann als Illustrationen seinen Arbeiten beilegte. So stellte er seit fünf Jahren sehr merkwürdige Versuche an einer Sammlung von Stockrosen an; durch künstliche Befruchtung hatte er eine ganze Reihe neuer Farbtöne erzielt. Clotilde legte bei diesem Abmalen eine solche Gründlichkeit, eine solche Genauigkeit in bezug auf Zeichnung und ungewöhnliche Farbgebung an den Tag, daß er sich immer über eine derartige Zuverlässigkeit wunderte und zu ihr sagte, daß sie »ein hübsches kleines klares festes rundes Köpfchen« habe.

Aber als er dieses Mal näher trat und ihr über die Schulter blickte, stieß er einen Aufschrei gespielter Wut aus.

»Ach, verflixt noch mal! Diesmal willst du also selbst was erfinden … Willst du das gefälligst gleich zerreißen!«

Sie hatte sich aufgerichtet, das Blut war ihr in die Wangen gestiegen, die Augen flammten vor Leidenschaft für ihr Werk, ihre schmalen Finger waren fleckig von Pastellfarben, vom Rot und Blau, das sie zerdrückt hatte.

»Oh, Meister!«

Und in diesem zärtlichen »Meister« voll schmeichlerischer Unterwürfigkeit, in diesem Wort voll gänzlicher Hingabe, mit dem sie ihn anredete, um nicht die Worte »Onkel« oder »Pate« gebrauchen zu müssen, die sie dumm fand, war zum erstenmal eine Flamme des Aufbegehrens spürbar, der Anspruch eines Wesens auf sein Recht – eines Wesens, das sich wieder auf sich selbst besinnt und sich behauptet.

Vor ungefähr zwei Stunden hatte sie das genau und brav gezeichnete Abbild der Stockrosen beiseite geschoben und eine ganze Traube von Phantasieblüten, von überspannten und herrlichen Traumblüten auf ein anderes Blatt Papier geworfen. So etwas gab es mitunter bei ihr: ein sprunghaftes Wechseln, ein Bedürfnis, inmitten der genauesten Wiedergabe in irre Phantasien zu enteilen. Sofort verschaffte sie sich Befriedigung, vertiefte sich von neuem in diese wundersame Blütenpracht mit einem solchen Begeisterungsschwung, einem solchen Einfallsreichtum, daß sie sich niemals wiederholte, und sie schuf Rosen mit blutenden Herzen, die Schwefeltränen weinten, Lilien, die kristallenen Urnen glichen, ja sogar Blüten von gänzlich unbekannter Gestalt, die Sternenstrahlen aussandten und Blumenkronen wie Wolkenschleier flattern ließen. An diesem Tage sah man auf dem mit großen schwarzen Kreidestrichen wie mit Säbelhieben bearbeiteten Blatt einen Regen blasser Sterne, ein wahres Geriesel unendlich lieblicher Blütenblätter, während sich in einer Ecke ein unnennbares Erblühen, eine Knospe mit keuschen Schleiern auftat.

»Wieder ein Bild, das du mir da hinnageln wirst!« fuhr der Doktor fort und zeigte auf die Wand, an der sich bereits ebenso seltsame Pastellgemälde aneinanderreihten. »Aber was soll das denn darstellen? frage ich dich.«

Sie blieb sehr ernst, beugte sich zurück, um ihr Werk besser betrachten zu können.

»Ich weiß nicht, es ist einfach schön.«

In diesem Augenblick kam Martine herein, ihr einziges Dienstmädchen; in den ungefähr dreißig Jahren, die sie bei Doktor Pascal im Dienst stand, war sie die wahre Herrin des Hauses geworden. Obwohl schon über sechzig, wirkte auch sie noch jung, rührig und schweigsam. In ihrem ewigen schwarzen Kleid und mit der weißen Haube sah sie wie eine Nonne aus mit ihrem bleichen, ruhigen kleinen Gesicht, in dem die aschfarbenen Augen erloschen zu sein schienen.

Sie redete nicht, sie setzte sich vor einem Sessel, dessen alter Bezug einen Riß hatte, so daß das Roßhaar herausquoll, auf den Fußboden, zog eine Nadel und ein weißes Wollbündel aus ihrer Tasche und fing an, den Bezug auszubessern.