Seit drei Tagen wartete sie darauf, eine Stunde erübrigen zu können, um diese Ausbesserung vorzunehmen, die ihr keine Ruhe ließ.

»Da Ihr gerade hier seid, Martine«, rief Pascal scherzend und nahm den aufbegehrenden Kopf Clotildes in seine beiden Hände, »näht mir doch auch dieses Köpfchen hier wieder zusammen, das ebenfalls Risse hat.«

Martine blickte mit ihren blassen Augen auf und sah ihren Meister mit ihrer üblichen verehrungsvollen Miene an.

»Warum sagen Sie mir das, Herr Doktor?«

»Weil ich glaube, meine alte Gute, daß Ihr mit Eurer ganzen Frömmigkeit in dieses hübsche kleine klare feste runde Köpfchen Ideen von der anderen Welt hineingestopft habt.«

Die beiden Frauen tauschten einen Blick des Einverständnisses.

»Oh, Herr Doktor, die Religion hat noch nie jemandem Böses getan … Und wenn man nicht dieselben Vorstellungen hat, dann ist es sicher besser, gar nicht erst darüber zu reden.«

Ein verlegenes Schweigen trat ein. Das war die einzige Meinungsverschiedenheit, die mitunter zu Streitigkeiten zwischen diesen drei Wesen führte, die einander so verbunden waren, die so innig zusammen lebten. Martine war erst neunundzwanzig Jahre alt gewesen, ein Jahr älter als der Doktor, als sie bei ihm in Dienst getreten war, zu jener Zeit, da er als Arzt in Plassans in einem kleinen hellen Haus der Neustadt seine Praxis eröffnete. Und als dreizehn Jahre später Saccard, ein Bruder Pascals, ihm nach dem Tode seiner Frau seine siebenjährige Tochter Clotilde aus Paris schickte, zu dem Zeitpunkt, da er sich wieder verheiratete, war Martine es gewesen, die die Kleine aufzog, sie in die Kirche mitnahm und ein wenig von der frommen Glut auf sie übertrug, die immer in ihr gebrannt hatte; der Doktor, der darin großzügig dachte, ließ die beiden zu ihrer Glaubensfreude gehen, denn er fühlte sich nicht berechtigt, irgend jemandem das Glück des Glaubens zu verbieten. Er begnügte sich später damit, Clotildes Erziehung zu beaufsichtigen und ihr in allen Dingen genaue und gesunde Vorstellungen zu vermitteln. Seit fast achtzehn Jahren lebten sie so alle drei zurückgezogen auf der Souleiade, einem in einer Vorstadt gelegenen Anwesen, eine Viertelstunde von der Kathedrale SaintSaturnin entfernt; das Leben war glücklich dahingeflossen, ausgefüllt mit geheimgehaltenen großen Arbeiten, ein wenig getrübt jedoch durch ein wachsendes Unbehagen, das immer heftiger werdende Aufeinanderprallen ihrer Glaubensbekenntnisse.

Finster ging Pascal eine Weile auf und ab. Als ein Mann, der mit seiner Meinung nicht zurückhält, sagte er dann:

»Siehst du, liebes Kind, dieses ganze Blendwerk des Mysteriums hat dein hübsches Gehirn verdorben … Dein lieber Gott brauchte dich gar nicht, ich hätte dich für mich allein behalten sollen, und es würde dir dabei nur besser gehen.«

Aber Clotilde, bebend, blickte mit ihren hellen Augen kühn und fest in die seinen und bot ihm die Stirn.

»Dir, Meister, würde es besser gehen, wenn du dich nicht darauf beschränktest, nur mit deinen leiblichen Augen zu sehen … Es gibt noch etwas anderes, warum willst du es nicht sehen?«

Und Martine kam ihr in ihrer Aus drucks weise zu Hilfe.

»Das stimmt, Herr Doktor. Sie, der Sie ein Heiliger sind, wie ich überall sage, Sie sollten mit uns zusammen in die Kirche gehen … Sicher wird Gott Sie retten. Aber bei dem Gedanken, daß Sie nicht geradeswegs ins Paradies kommen könnten, zittere ich am ganzen Leibe.«

Er war stehengeblieben, er hatte sie nun beide gegen sich in hellem Aufruhr, sie, die sonst so folgsam waren und ihm zu Füßen lagen mit der zärtlichen Liebe von Frauen, die er durch seine Fröhlichkeit und seine Güte für sich gewonnen hatte. Schon öffnete er den Mund, um hart zu antworten, als ihm plötzlich die Nutzlosigkeit jeder Diskussion klar wurde.

»Ach, laßt mich doch in Frieden. Es ist besser, ich mache mich an meine Arbeit … Und daß mich vor allem niemand stört!«

Und mit raschem Schritt ging er in sein Zimmer, in dem er eine Art Laboratorium eingerichtet hatte, und schloß sich darin ein. Dieses Zimmer zu betreten war ausdrücklich verboten. Hier widmete er sich der Herstellung besonderer Präparate, von denen er zu niemandem sprach. Fast unmittelbar darauf hörte man das regelmäßige Geräusch eines Stößels in einem Mörser.

»So«, sagte Clotilde lächelnd, »da ist er nun wieder in seiner Teufelsküche, wie Großmutter immer sagt.«

Und sie machte sich bedächtig wieder daran, den Stockrosenstengel abzumalen. Sie gab dessen Zeichnung mit mathematischer Genauigkeit wieder, sie traf den richtigen Ton der gelbgestreiften violetten Blütenblätter sogar im zartesten Blaß der Schattierungen.

»Ach«, murmelte Martine, die wieder auf dem Fußboden saß und den Sessel ausbesserte, nach einem Augenblick, »was für ein Unglück, daß ein so heiliger Mann seine Seele absichtlich ins Verderben stürzt! Denn man mag sagen, was man will, ich kenne ihn nun seit dreißig Jahren, und niemals hat er irgend jemandem ein Leid zugefügt. Und ein Mann mit einem wahrhaft goldenen Herzen, der den letzten Bissen fortgeben würde … Und dabei freundlich, und immer wohlauf, und immer fröhlich, ein wahrer Segen! Es ist ein Verhängnis, daß er nicht seinen Frieden mit dem lieben Gott machen will. Nicht wahr, Mademoiselle, man muß ihn dazu zwingen.«

Überrascht, Martine so lange hintereinander reden zu hören, stimmte Clotilde mit ernster Miene zu.

»Gewiß, Martine, das haben wir geschworen. Wir werden ihn zwingen.«

Wieder trat Schweigen ein, da hörte man die Klingel unten an der Eingangstür. Man hatte sie dort angebracht, um in dem für die drei Personen allzu geräumigen Hause zu merken, wenn jemand kam. Martine schien erstaunt und brummelte unverständliche Worte vor sich hin: wer mochte wohl bei einer solchen Hitze kommen? Sie war aufgestanden, öffnete die Tür, beugte sich über das Treppengeländer, kam dann zurück und sagte:

»Es ist Madame Félicité.«

Lebhaft trat die alte Frau Rougon ein.