Ihr Stolz, der von der zwiefachen Heldentat lebte, von der die Einwohner noch immer sprachen, wachte mit eifersüchtiger Sorgfalt darüber, daß nur die schönen Beweisstücke erhalten blieben, jene Sage, die bewirkte, daß sie gegrüßt wurde wie eine gefallene Majestät, wenn sie durch die Stadt ging.

Sie war bis an die Tür des Zimmers vorgedrungen und lauschte auf das Geräusch des Stößels. Dann kam sie mit sorgenumwölkter Stirn zu Clotilde zurück.

»Was stellt er da bloß an, mein Gott! Du weißt, daß er sich mit seiner neuen Droge den größten Schaden zufügt. Man hat mir neulich erzählt, er hätte einen seiner Patienten beinahe umgebracht.«

»Ach, Großmutter!« rief das junge Mädchen.

Aber Félicité war in Fahrt.

»Jawohl! Die guten Frauen sagen noch ganz andere Dinge … Geh sie doch fragen draußen in der Vorstadt. Sie werden dir erzählen, daß er die Knochen von Toten im Blut von Neugeborenen zerstampft.«

Sogar Martine erhob jetzt Einspruch, und Clotilde, die in ihrer zärtlichen Liebe verletzt war, wurde böse.

»Ach, Großmutter, wiederhol doch nicht solch abscheuliches Gerede! Unser Meister, der ein so großes Herz hat, der nur das Glück aller im Sinn hat!«

Als Félicité sah, wie sich die beiden entrüsteten, begriff sie, daß sie die Dinge zu sehr überstürzt hatte, und versuchte es wieder auf die schmeichlerische Art.

»Aber mein Kätzchen, ich erzähle doch nicht solch gräßliche Geschichten. Ich wiederhole doch nur das dumme Gerede, das die anderen in Umlauf setzen, damit du begreifst, daß es falsch ist von Pascal, auf die öffentliche Meinung keine Rücksicht zu nehmen … Er glaubt, ein neues Heilmittel gefunden zu haben, so weit, so gut! Und ich will sogar annehmen, daß er alle Welt heilen wird, wie er es erhofft. Bloß warum dieses geheimnisvolle Gehabe, warum redet er nicht laut darüber, und vor allem: warum probiert er es nur an diesem Lumpenpack aus der Altstadt und auf dem Lande aus, anstatt mit den vornehmen Leuten aus der Stadt aufsehenerregende Kuren zu machen, die ihm zur Ehre gereichen würden? Nein, siehst du, mein Kätzchen, dein Onkel hat niemals etwas so machen können wie die anderen Leute.«

Sie hatte einen bekümmerten Ton angeschlagen und senkte die Stimme, um diese geheime Wunde ihres Herzens zu offenbaren.

»Gott sei Dank fehlt es in unserer Familie nicht an bedeutenden Leuten, meine anderen Söhne haben mir genug Freude bereitet! Nicht wahr, dein Onkel Eugène ist ziemlich hoch gestiegen, zwölf Jahre lang Minister, beinahe Kaiser! Und auch dein Vater hat Millionengeschäfte gemacht und war zur Genüge an den großen Unternehmungen beteiligt, die Paris umgestaltet haben! Ich rede nicht von deinem Bruder Maxime, der so reich, so vornehm ist, auch nicht von deinen Vettern, von Octave Mouret, ein Bahnbrecher des neuen Handelswesens, und von unserem lieben Abbé Mouret, der ein wahrer Heiliger ist. Nun ja! Warum lebt Pascal, der in ihrer aller Spuren hätte wandeln können, hartnäckig in seinem Loch als halb verrücktes Genie?«

Da das junge Mädchen wiederum aufbegehrte, verschloß sie ihm den Mund mit einer liebkosenden Handbewegung.

»Nein, nein! Laß mich ausreden … Ich weiß wohl, daß Pascal kein Dummkopf ist, daß er Beachtliches geleistet hat, daß er sich mit seinen Einsendungen an die Medizinische Akademie sogar unter den Wissenschaftlern einen Namen gemacht hat … Aber was ist das schon im Vergleich zu dem, was ich mir für ihn erträumt hatte? Alle vornehmen Leute der Stadt als Patienten, ein großes Vermögen, das Kreuz der Ehrenlegion13, kurzum, eine ehrenvolle, der Familie würdige Stellung … Ach, siehst du, mein Kätzchen, darüber beklage ich mich: er gehört nicht zur Familie, er wollte nie zur Familie gehören. Wahrhaftig, schon als er noch ein Kind war, habe ich zu ihm gesagt: ›Wo stammst du bloß her? Du gehörst nicht zu uns!‹ Ich habe alles der Familie geopfert, ich würde mich in Stücke hauen lassen, damit die Familie für immer groß und glorreich dasteht!«

Sie reckte ihre kleine Gestalt, sie wurde richtig groß in der einzigen Leidenschaft, die ihr Leben ausgefüllt hatte: Stolz und Genießen! Sie wanderte wieder auf und ab, als sie plötzlich zusammenzuckte, weil sie auf dem Fußboden die Nummer von »Le Temps« erblickte, die der Doktor weggeworfen hatte, nachdem er den Artikel ausgeschnitten und zu dem Aktenstück Saccard gelegt hatte. Beim Anblick der ausgeschnittenen Zeitungsseite wurde ihr zweifellos alles klar, denn auf einmal wanderte sie nicht mehr auf und ab, sondern ließ sich auf einen Stuhl sinken, als wüßte sie nun endlich, was sie erfahren wollte.

»Dein Vater ist zum Direktor von ›L˜Epoque‹ ernannt worden«, fing sie plötzlich wieder an.

»Ja«, sagte Clotilde seelenruhig. »Der Meister hat es mir gesagt, es stand in der Zeitung.«

Mit aufmerksamer und besorgter Miene sah Félicité sie an, denn diese Ernennung Saccards, diese Aussöhnung mit der Republik war eine ungeheure Sache. Nach dem Sturz des Kaiserreiches hatte er es gewagt, nach Frankreich zurückzukehren, obwohl er als Direktor der Banque Universelle, deren kolossaler Bankrott dem des Regimes vorausging, verurteilt worden war. Neue Einflüsse, ganz außerordentliche Machenschaften mußten ihn wieder auf die Beine gebracht haben. Er war nicht nur begnadigt worden, er fing auch von neuem an, beachtliche Geschäfte zu machen, nachdem er sich in den großen Journalismus gestürzt hatte und wieder seinen Anteil an allen Schmiergeldern erhielt. Und die Erinnerung beschwor die einstigen Streitigkeiten zwischen ihm und seinem Bruder Eugène Rougon wieder herauf, den er so oft kompromittiert hatte und den er infolge einer ironischen Umkehr der Dinge nun vielleicht protegieren sollte, da der ehemalige Minister des Kaiserreiches nur noch ein einfacher Abgeordneter war und sich mit der Rolle abgefunden hatte, nur noch seinen gefallenen Herrn14 zu verteidigen, mit der gleichen Starrköpfigkeit, mit der seine Mutter ihre Familie verteidigte. Sie gehorchte noch immer folgsam den Befehlen ihres ältesten Sohnes, dieses selber vom Blitz getroffenen Adlers; aber auch Saccard lag ihr, was immer er tun mochte, wegen seines unbändigen Verlangens nach Erfolg sehr am Herzen; und außerdem war sie stolz auf Maxime, Clotildes Bruder, der sich nach dem Kriege wieder in seinem vornehmen Stadthaus in der Avenue du BoisdeBoulogne niedergelassen hatte, wo er das von seiner Frau hinterlassene Vermögen verzehrte; er war klug geworden und besaß die Weisheit eines Mannes, der, bis ins Mark getroffen, voller Verschlagenheit gegen die drohende Paralyse ankämpft.

»Direktor von ›L˜Epoque‹«, wiederholte sie, »das ist ein richtiger Ministerposten, den dein Vater da erobert hat … Und ich vergaß dir zu sagen, ich habe noch an deinen Bruder geschrieben, um ihn zu bewegen, uns zu besuchen. Das würde ihn ablenken, würde ihm guttun. Außerdem ist da dieses Kind, dieser arme Charles …«

Sie ließ sich nicht weiter darüber aus, das war auch eine der Wunden, an denen ihr Stolz blutete: ein Sohn, den Maxime mit siebzehn Jahren von einem Dienstmädchen bekommen hatte und der jetzt, etwa fünfzehn Jahre alt und schwachsinnig, in Plassans bald bei dem einen, bald bei dem anderen lebte und allen zur Last fiel.

Einen Augenblick wartete sie noch, weil sie hoffte, Clotilde werde eine Bemerkung machen, die ihr erlauben würde, auf das zu sprechen zu kommen, worüber sie sprechen wollte. Als sie aber sah, daß das junge Mädchen gleichgültig blieb und nur damit beschäftigt war, die Papiere auf dem Pult zu ordnen, faßte sie einen Entschluß, nachdem sie einen kurzen Blick auf Martine geworfen hatte, die gleichsam stumm und taub weiter den Sessel ausbesserte.