»Dein Onkel hat also den Artikel aus ›Le Temps‹ ausgeschnitten?«

Clotilde lächelte sehr ruhig.

»Ja, der Meister hat ihn zu den Akten gelegt. Ach, was er da an Aufzeichnungen begräbt! Die Geburten, die Todesfälle, die geringsten Vorkommnisse des Lebens, alles kommt dort hinein. Da ist auch der Stammbaum, du weißt doch, unser berühmter Stammbaum, den er laufend ergänzt.«

Die Augen der alten Frau Rougon waren aufgeflammt. Sie sah das junge Mädchen starr an.

»Du kennst diese Akten?«

»O nein, Großmutter! Niemals hat der Meister mit mir darüber gesprochen, und er verbietet mir auch, sie anzurühren.«

Aber Félicité glaubte ihr nicht.

»Ganz ehrlich, du brauchst sie doch nur zu nehmen, du hast sie doch sicher auch gelesen.«

Von neuem lächelnd, antwortete Clotilde voll gelassener Aufrichtigkeit schlicht und einfach:

»Nein, wenn der Meister mir etwas verbietet, so hat er seine Gründe dafür, und ich richte mich danach.«

»Nun gut, mein Kind«, rief Félicité heftig, die sich von ihrer Leidenschaft hinreißen ließ. »Da dich Pascal sehr gern hat und vielleicht auf dich hört, solltest du ihn anflehen, das alles zu verbrennen, denn wenn er einmal stirbt und man diese gräßlichen Sachen findet, die da drin stehen, wären wir alle entehrt.«

Ach, diese abscheulichen Akten, sie sah sie nachts in ihren Alpträumen in feurigen Buchstaben die wahren Geschichten, die physiologischen Schandflecke der Familie, die ganze Kehrseite ihres Ruhms zur Schau stellen, die sie am liebsten auf ewig vergraben hätte samt den bereits toten Vorfahren! Sie wußte, wie der Doktor auf den Einfall gekommen war, diese Dokumente zusammenzutragen, wie er gleich zu Anfang seiner großen Untersuchungen über die Vererbung dahin gelangt war, seine eigene Familie als Beispiel zu nehmen, verblüfft über die typischen Fälle, die in ihr auftraten und als Bestätigung der von ihm entdeckten Gesetze dienen konnten. War das nicht ein ganz natürliches Beobachtungsfeld, das da in seiner Reichweite lag und das er genau kannte? Und mit der schönen unbekümmerten Dreistigkeit des Wissenschaftlers sammelte er seit dreißig Jahren die intimsten Auskünfte über die Seinen, hob alles auf, ordnete alles ein und stellte den Stammbaum der Rougon Macquart auf, zu dem die umfangreichen Aktenstücke nur den mit Belegen vollgestopften Kommentar bildeten.

»Ach ja«, fuhr die alte Frau Rougon glühend fort, »ins Feuer, ins Feuer mit all diesem Papierkram, der uns beschmutzen würde!«

In diesem Augenblick erhob sich das Dienstmädchen, um hinauszugehen, weil sie sah, welche Wendung das Gespräch nahm, aber Félicité hielt sie mit einer raschen Gebärde auf.

»Nein, nein, Martine, bleibt nur! Ihr seid hier nicht überflüssig, denn Ihr gehört ja nun zur Familie.« Dann fuhr sie mit zischender Stimme fort: »Ein Haufen Fälschungen, Klatschereien, sämtliche Lügen, die unsere Feinde einst gegen uns in Umlauf gesetzt haben, weil sie außer sich waren über unseren Triumph! Denk ein bißchen daran, mein Kind. So viele Greuelgeschichten über uns alle, über deinen Vater, über deine Mutter, über deinen Bruder, über mich!«

»Greuelgeschichten, Großmutter? Woher weißt du das?«

Félicité war einen Augenblick verwirrt.

»Oh, ich ahne das … In welcher Familie gibt es keine Mißgeschicke, die man falsch auslegen kann? So zum Beispiel unser aller Mutter, die teure und verehrungswürdige Tante Dide, deine Urgroßmutter – ist sie nicht seit einundzwanzig Jahren im Irrenhaus in Les Tulettes? Wenn Gott ihr die Gnade erwiesen hat, sie hundertundvier Jahre alt werden zu lassen, so hat er sie doch grausam geschlagen, indem er ihr den Verstand nahm. Gewiß, das ist keine Schande; aber es bringt mich auf, und es darf nicht sein, daß man dann sagt, wir sind alle verrückt … Und sieh mal, über deinen Großonkel Macquart hat man auch beklagenswerte Gerüchte in Umlauf gesetzt! Macquart hat früher Fehler begangen, ich nehme ihn gar nicht in Schutz. Aber lebt er heute nicht brav auf seinem kleinen Besitztum in Les Tulettes, zwei Schritte von unserer unglücklichen Mutter entfernt, auf die er als guter Sohn aufpaßt? Und noch ein letztes Beispiel. Dein Bruder Maxime hat schwer gefehlt, als er mit einem Dienstmädchen diesen armen Charles zeugte, und man kann auch nicht leugnen, daß das bemitleidenswerte Kind nicht ganz richtig im Kopf ist. Aber wie dem auch sei, würdest du dich wohl freuen, wenn man dir sagt, daß dein Neffe degeneriert ist, daß sich in ihm nach drei Generationen seine Ururahne wiederholt, die teure Frau, zu der wir ihn manchmal mitnehmen und bei der es ihm immer so gut gefällt? Nein, es ist keine Familie mehr möglich, wenn man anfängt, alles zu untersuchen, von dem einen die Nerven, von dem anderen die Muskeln. Das kann einem ja das Leben verleiden!«

Clotilde, wie sie so dastand in ihrem langen schwarzen Kittel, hatte aufmerksam zugehört. Sie war wieder ernst geworden, ihre Arme hingen herab, und sie blickte zu Boden. Schweigen herrschte, dann sagte sie langsam:

»Das ist die Wissenschaft, Großmutter.«

»Die Wissenschaft?« rief Félicité und trippelte von neuem hin und her. »Eine schöne Wissenschaft, die gegen alles angeht, was geheiligt ist auf der Welt! Wenn sie erst alles heruntergemacht haben, werden sie weit gekommen sein! Sie töten die Achtung, sie töten die Familie, sie töten den lieben Gott …«

»Ach, sagen Sie das nicht, Madame!« warf Martine, deren beschränkte Frömmigkeit blutete, in schmerzlichem Ton ein. »Sagen Sie das nicht, daß der Herr Doktor den lieben Gott tötet!«

»Doch, mein armes Kind, er tötet ihn … Und seht, vom Standpunkt der Religion aus ist es ein Verbrechen, sich so um die ewige Seligkeit zu bringen. Ihr liebt ihn nicht, sage ich euch, nein, ihr liebt ihn nicht, ihr beide, die ihr so glücklich seid zu glauben, denn ihr tut nichts, um ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen … Ach, ich an eurer Stelle würde diesen Schrank mit der Axt zerhauen, ich würde ein tolles Freudenfeuer entfachen mit all den Beleidigungen des lieben Gottes, die darin enthalten sind!«

Sie hatte sich vor dem riesigen Schrank aufgepflanzt, sie maß ihn mit ihrem Feuerblick, als wollte sie ihn trotz der vertrockneten Hagerkeit ihrer achtzig Jahre im Sturm nehmen, plündern, vernichten. Dann sagte sie mit einer Gebärde spöttischer Geringschätzung:

»Wenn er mit seiner Wissenschaft wenigstens alles herausbekommen könnte!«

Clotilde verharrte gedankenversunken und starrte ins Leere. Die beiden anderen vergessend, sagte sie halblaut vor sich hin:

»Das stimmt, er kann nicht alles herausbekommen … Immer gibt es noch etwas anderes … Das ärgert mich, das bringt uns manchmal dazu, miteinander zu streiten; denn ich kann nicht wie er das Mysterium beiseite lassen: das beunruhigt mich, ja, es quält mich sogar … Alles Wollen und Tun desjenigen, der im Schauer des Dunkels wirkt, all die unbekannten Kräfte …«

Ihre Stimme war nach und nach langsamer geworden und in ein undeutliches Murmeln übergegangen.

Da mischte sich Martine ein, die seit einer Weile mit düsterer Miene dastand.

»Wenn es nun wahr wäre, Mademoiselle, daß sich der Herr Doktor mit all diesen gräßlichen Papieren noch um sein Seelenheil bringt! Sollen wir ihn dann gewähren lassen? Sehen Sie, wenn er mir sagen würde, ich soll mich die Terrasse hinunterstürzen, würde ich die Augen schließen und mich hinunterstürzen, weil ich weiß, daß er immer recht hat. Aber für sein Seelenheil würde ich auch gegen seinen Willen etwas tun, oh, wenn ich es nur könnte! Mit allen Mitteln würde ich ihn zwingen, jawohl, denn der Gedanke ist mir doch zu grausam, daß er nicht mit uns zusammen in den Himmel kommen soll.«

»Das ist sehr gut, mein Kind«, sagte Félicité zustimmend. »Ihr liebt wenigstens Euern Herrn auf vernünftige Weise.«

Clotilde dagegen schien noch unentschlossen. Ihr Glaube beugte sich nicht der strengen Regel des Dogmas, ihr religiöses Gefühl vergegenständlichte sich nicht in der Hoffnung auf ein Paradies, auf eine Stätte der Wonnen, wo man die Seinen wiederfindet.