In ihr lebte lediglich ein Verlangen nach dem Jenseits, eine Gewißheit, daß die weite Welt nicht aufhört mit den Sinnesempfindungen, daß es noch eine ganz andere, unbekannte Welt gibt, mit der man rechnen muß. Aber ihre so alte Großmutter und das so ergebene Dienstmädchen machten sie wankend in ihrer besorgten, zärtlichen Liebe zu ihrem Onkel. Liebten die beiden anderen ihn nicht noch mehr, auf eine aufgeklärtere und aufrechtere Art, wenn sie ihn ohne Makel wollten, erlöst von den Süchten des Wissenschaftlers, rein genug, um unter den Auserwählten zu sein? Sätze aus frommen Büchern kamen ihr wieder in den Sinn, die Schlacht, die ständig mit dem Geist des Bösen ausgetragen wird, der Ruhm der Bekehrungen, die in edlem Kampfe erlangt werden. Wenn sie sich an dieses heilige Werk machte, wenn sie ihn gegen seinen Willen rettete! Und nach und nach ergriff eine Verzückung ihren Geist, der sich gern abenteuerlichen Unternehmungen zuwandte.
»Gewiß«, sagte sie schließlich, »ich wäre sehr glücklich, wenn er sich nicht den Kopf damit zerbräche, diese Papierfetzen zu stapeln, sondern mit uns in die Kirche käme.«
Und als Frau Rougon sah, daß Clotilde geneigt war nachzugeben, rief sie, man müsse handeln, und Martine machte ihren ganzen Einfluß geltend. Sie waren näher getreten, redeten auf das junge Mädchen ein, senkten die Stimmen wie bei einer Verschwörung, bei der eine wundersame Wohltat, eine göttliche Freude herauskommen sollte, die das ganze Haus mit ihrem Duft erfüllen würde. Welch ein Triumph, wenn man den Doktor mit Gott aussöhnte! Und welche Wonne, dann in der himmlischen Gemeinschaft ein und desselben Glaubens zusammen zu leben!
»Also, was soll ich tun?« fragte Clotilde, besiegt, gewonnen.
Aber in diesem Augenblick setzte inmitten des Schweigens der Stößel des Doktors mit seinem regelmäßigen Rhythmus wieder lauter ein. Und die siegreiche Félicité, die gerade sprechen wollte, wandte besorgt den Kopf und schaute kurz auf die Tür zum Nebenzimmer. Dann sagte sie halblaut:
»Du weißt, wo der Schlüssel zu dem Schrank ist?«
Clotilde antwortete nicht, machte lediglich eine Gebärde, um ihren ganzen Widerwillen, auf diese Art ihren Meister zu verraten, zum Ausdruck zu bringen.
»Du bist doch wirklich ein Kindskopf! Ich schwöre dir, daß ich nichts nehme, ich werde nicht einmal etwas von seinem Platz rücken … Bloß, da wir allein sind und Pascal doch nicht vor dem Abendessen auftaucht, könnten wir uns vergewissern, was da drin ist, nicht wahr? Oh, nur einen kurzen Blick hineinwerfen, mein Ehrenwort!«
Reglos stand das junge Mädchen da und willigte immer noch nicht ein.
»Und außerdem, vielleicht irre ich mich, möglicherweise ist da gar nichts von den schlimmen Sachen drin, von denen ich dir erzählt habe.«
Das gab den Ausschlag, Clotilde holte rasch den Schlüssel aus dem Schubfach und öffnete selber den Schrank ganz weit.
»Da, Großmutter, die Aktenstücke sind da oben!«
Ohne ein Wort hatte sich Martine vor der Tür zum Nebenzimmer aufgepflanzt, lauschte, horchte auf den Stößel, während Félicité, vor Erregung wie am Boden festgenagelt, die Akten betrachtete. Da waren sie nun endlich, diese furchtbaren Akten, dieser Alpdruck, der ihr Leben vergiftete! Sie sah sie, sie würde sie gleich berühren, wegnehmen! Und sie reckte sich hoch, vor Eifer schienen ihre kurzen Beine länger zu werden.
»Es ist zu hoch, mein Kätzchen«, sagte sie. »Hilf mir, gib sie mir!«
»Oh, das nicht, Großmutter! Nimm einen Stuhl!«
Félicité nahm einen Stuhl und stieg geschwind hinauf. Aber sie war immer noch zu klein. Mit einer ungewöhnlichen Anstrengung stellte sie sich auf die Zehen, und es gelang ihr, sich so groß zu machen, daß sie mit der Spitze ihrer Fingernägel die blauen Aktendeckel berührte; und ihre Finger strichen darauf herum, griffen wie mit kratzenden Krallen danach. Auf einmal gab es ein Gepolter: sie hatte eine Gesteinsprobe, ein Marmorstück, das auf einem der unteren Bretter lag, heruntergerissen.
Sofort hielt der Stößel inne, und Martine sagte mit erstickter Stimme:
»Vorsicht, er kommt!«
Aber Félicité, die ganz verzweifelt war, hörte nicht, ließ nicht los, als Pascal rasch ins Zimmer trat. Er hatte geglaubt, ein Unglück sei geschehen, es sei jemand gestürzt, und er war entgeistert angesichts dessen, was er da sah: seine Mutter auf dem Stuhl, den Arm noch hoch erhoben, während Martine beiseite getreten war und Clotilde sehr blaß dastand und abwartete, ohne die Augen abzuwenden. Als er begriffen hatte, wurde er selber kreideweiß. Ein furchtbarer Zorn stieg in ihm hoch.
Die alte Frau Rougon verlor keineswegs die Fassung. Sobald sie sah, daß die Gelegenheit verpaßt war, sprang sie vom Stuhl und erwähnte die garstige Beschäftigung, bei der er sie überrascht hatte, mit keinem Wort.
»Sieh an, da bist du ja! Ich wollte dich nicht stören … Ich war nur gekommen, um Clotilde guten Tag zu sagen. Aber nun schwatze ich schon seit fast zwei Stunden, und jetzt mache ich mich rasch davon. Ich werde zu Hause erwartet, man wird sich schon wundern, wo ich geblieben bin … Auf Wiedersehen am Sonntag!«
Ganz unbekümmert ging sie davon, nachdem sie ihrem Sohn zugelächelt hatte, der sich ihr gegenüber aus Ehrerbietung stumm verhielt. Diese Haltung nahm er schon seit langer Zeit ein, um eine Auseinandersetzung zu vermeiden, die, wie er fühlte, grausam werden müßte und vor der er sich stets fürchtete. Er kannte sie, er wollte ihr alles verzeihen mit der großen Duldsamkeit des Wissenschaftlers, der die Vererbung, die Umwelt und die Umstände in Betracht zog.
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