»Ach, mein liebes Kind, und du, armes Mädchen, ihr tut das um meines Glückes willen, nicht wahr? O Gott, wie unglücklich werden wir sein!«
Kapitel II
Am nächsten Morgen erwachte Clotilde bereits um sechs Uhr. Böse auf Pascal, war sie zu Bett gegangen; sie schmollten miteinander. Und ihr erstes Gefühl war ein Unbehagen, ein dumpfer Kummer, das Bedürfnis, sich sogleich wieder mit ihm auszusöhnen und die schwere Last loszuwerden, die ihr noch immer auf dem Herzen lag.
Rasch sprang sie aus dem Bett und öffnete einen Spalt breit die Läden der beiden Fenster. Die Sonne, die schon hoch am Himmel stand, schien herein und durchschnitt den Raum mit zwei goldenen Bahnen. In dieses verschlafene Zimmer, das ganz erfüllt war vom Duft der Jugend, brachte der helle Morgen linde Lüfte von frischer Heiterkeit, während das junge Mädchen, das sich wieder auf den Rand des Bettes gesetzt hatte, eine Weile verträumt verharrte, lediglich mit ihrem engen Hemd bekleidet, in dem sie noch schmaler wirkte mit ihren langen schlanken Beinen, ihrem hochaufgeschossenen kräftigen Körper mit dem runden Busen, dem runden Hals, den runden und biegsamen Armen; und ihr Nacken, ihre anbetungswürdigen Schultern waren rein wie Milch, weißseiden, glatt, von unendlicher Zartheit. Im Backfischalter von zwölf bis achtzehn Jahren hatte sie lange Zeit so groß gewirkt, schlaksig – ein Mädchen, das auf die Bäume kletterte wie ein Junge. Aus der geschlechtslosen Hopfenstange hatte sich dann dieses zarte Geschöpf voll Anmut und Liebreiz entwickelt.
Mit verlorenen Blicken betrachtete sie die Wände des Zimmers. Die Souleiade stammte aus dem vorigen Jahrhundert, doch hatte man sie unter dem Ersten Kaiserreich15 wohl neu eingerichtet, denn die Wände waren mit einer alten bedruckten Indienne16 bespannt, auf der Sphinxbüsten in Gewinden von Eichenkränzen dargestellt waren. Diese Indienne, einst grellrot, war rosa geworden, ein unbestimmtes Rosa, das ins Orange spielte. Die Vorhänge der beiden Fenster und des Bettes waren noch vorhanden, aber man hatte sie reinigen müssen, wodurch sie noch mehr verblaßt waren. Und dieser verblichene Purpur, dieser so zarte und sanfte Farbton der Morgenröte war wahrhaft auserlesen. Das mit dem gleichen Stoff bespannte Bett war so altersschwach gewesen, daß man es durch ein anderes Bett aus einem Nebenzimmer ersetzt hatte, wiederum ein EmpireBett, niedrig und sehr breit, aus massivem Mahagoni mit Kupferbeschlägen; die vier Ecksäulen trugen ebenfalls Sphinxbüsten, die denen auf den Wandbespannungen glichen. Die übrigen Möbel waren passend dazu ausgesucht: ein Säulenschrank mit massiven Türen, eine Kommode mit einer von einem Geländer eingefaßten weißen Marmorplatte, ein monumentaler hoher Wandspiegel, eine Chaiselongue mit steifen Füßen, Sessel mit geraden, lyraförmigen Rückenlehnen. Aber eine Paradedecke, die aus einem alten seidenen Frauenrock aus der Zeit Ludwigs XV. gemacht war, gab dem majestätischen Bett, das die Mitte des Paneels gegenüber den Fenstern einnahm, etwas Heiteres; ein ganzer Haufen von Kissen machte die harte Chaiselongue schön weich; und dann waren da noch zwei Etageren und ein Tisch, ebenfalls mit alten blumenbestickten Seidenstoffen bedeckt, die man ganz hinten in einem Wandschrank entdeckt hatte.
Schließlich zog Clotilde ihre Strümpfe an und schlüpfte in einen Morgenrock aus weißem Pikee; sie nahm mit den Fußspitzen ihre grauleinenen Pantoffeln auf, schlupfte hinein und lief in ihren Ankleideraum, der nach hinten lag, zur anderen Seite hinaus. Sie hatte ihn lediglich mit ungebleichtem, blaugestreiftem Zwillich ausschlagen lassen, und es standen darin nur Möbel aus gebeiztem Tannenholz: der Waschtisch, zwei Schränke, Stühle. Dennoch spürte man dort eine natürliche, feine, sehr weibliche Koketterie. Die hatte sich bei ihr zur gleichen Zeit entwickelt wie die Schönheit. Clotilde war zwar manchmal noch starrköpfig und jungenhaft, aber im Grunde war sie eine fügsame, eine zärtliche Frau, die gern geliebt sein wollte. Die Wahrheit war, daß sie in völliger Freiheit herangewachsen war, niemals etwas anderes gelernt hatte als Lesen und Schreiben und sich erst dadurch, daß sie ihrem Onkel half, eine ziemlich umfangreiche Bildung angeeignet hatte. Aber das war nach keinem Plan vor sich gegangen, Clotilde hatte sich lediglich für Naturgeschichte begeistert, wodurch sich ihr alles über Mann und Frau offenbarte. Doch sie hütete ihre jungfräuliche Züchtigkeit wie eine Frucht, die noch von keiner Hand berührt ward, zweifellos dank ihrer unbewußten, frommen Erwartung der Liebe, und dieses tiefe Empfinden des Weibes ließ sie das Geschenk ihres ganzen Seins, ihr Aufgehen in dem Mann, den sie lieben würde, bewahren.
Sie steckte ihr Haar hoch und wusch sich gründlich; ihrer Ungeduld nachgebend, öffnete sie dann leise die Tür ihres Zimmers und wagte es, auf Zehenspitzen geräuschlos durch das geräumige Arbeitszimmer zu gehen. Die Fensterläden waren noch geschlossen, aber sie sah deutlich genug, um nicht gegen die Möbel zu stoßen. Als sie am anderen Ende vor der Tür zum Zimmer des Doktors angelangt war, beugte sie sich vor und hielt den Atem an. War er bereits aufgestanden? Was mochte er wohl tun? Sie hörte deutlich, wie er mit kleinen Schritten auf und ab ging, zweifellos war er beim Anziehen. Niemals betrat sie dieses Zimmer, in dem er bestimmte Arbeiten zu verbergen liebte und das abgeschlossen blieb wie ein Tabernakel.
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