Bangigkeit hatte sie erfaßt, die Bangigkeit, hier von ihm angetroffen zu werden, falls er die Tür aufstieß; und eine große Verwirrung war in ihr, ein Aufbegehren ihres Stolzes und zugleich ein Verlangen, ihre Unterwerfung zu zeigen. Einen Augenblick wurde ihr Bedürfnis, sich auszusöhnen, so stark, daß sie drauf und dran war anzuklopfen. Als sich dann das Geräusch von Schritten näherte, rannte sie wie irre davon.
Bis acht Uhr lebte Clotilde in immer größer werdender Ungeduld. Jede Minute sah sie nach der Stutzuhr auf dem Kamin ihres Zimmers, eine Empire Stutzuhr aus vergoldeter Bronze, eine Schmucksäule mit Amor, der lächelnd die schlummernde Zeit betrachtet. Gewöhnlich ging Clotilde um acht Uhr nach unten, um gemeinsam mit dem Doktor im Eßzimmer das Frühstück einzunehmen. Inzwischen machte sie überaus sorgfältig Toilette, kämmte sich die Haare, zog sich die Schuhe an, streifte ein Kleid aus weißem, rotgepunktetem Leinen über. Und weil sie noch eine Viertelstunde totzuschlagen hatte, folgte sie einem alten Verlangen; sie setzte sich, um an einer kleinen Spitze zu nähen, einer Imitation von ChantillySpitze an ihrem Arbeitskittel, dem schwarzen Kittel, der ihr allmählich zu jungenhaft und nicht weiblich genug vorkam. Aber da es acht Uhr schlug, ließ sie von ihrer Arbeit ab und ging rasch hinunter.
»Sie werden allein frühstücken müssen«, sagte Martine seelenruhig im Eßzimmer.
»Wieso das?«
»Ja, der Herr Doktor hat mich gerufen, und ich mußte ihm sein Ei durch die Tür, die nur einen Spalt breit geöffnet war, hineinreichen. Der kommt wieder mal nicht los von seinem Mörser und seinen Filtriergeräten. Den kriegen wir vor Mittag nicht zu Gesicht.«
Clotilde stand betroffen da, ihre Wangen waren blaß. Sie trank ihre Milch im Stehen, nahm ihr Brötchen mit und folgte dem Dienstmädchen in die Küche. Im Erdgeschoß befand sich außer dem Eßzimmer und dieser Küche nur noch ein Salon, der nicht benutzt wurde und in dem man die Kartoffelvorräte aufbewahrte. Früher, als der Doktor noch Patienten bei sich zu Hause empfing, hielt er in diesem Raum seine Sprechstunden ab; aber schon vor Jahren hatte man den Schreibtisch und den Sessel in sein Zimmer hochgeschafft. Und dann war da nur noch ein anderer kleiner Raum, in den man von der Küche aus gelangte, das Zimmer des alten Dienstmädchens, ein sehr sauberes Zimmer, in dem eine Nußbaumkommode und ein klösterliches Gurtbett mit weißen Vorhängen standen.
»Du glaubst, daß er wieder angefangen hat, seine Flüssigkeit herzustellen?« fragte Clotilde.
»Freilich! Was soll es sonst sein. Sie wissen ja, daß er Essen und Trinken vergißt, wenn ihn das packt.«
Da machte sich der ganze Ärger des jungen Mädchens in einer tiefen Klage Luft.
»Ach, mein Gott! Mein Gott!«
Und während Martine nach oben ging, um Clotildes Zimmer zu machen, nahm diese vom Garderobenständer im Hausflur einen Sonnenschirm und ging aus dem Haus, um ihr Brötchen draußen zu essen. Sie war ganz verzweifelt, weil sie nicht mehr wußte, womit sie bis Mittag ihre Zeit verbringen sollte.
Vor ungefähr siebzehn Jahren hatte Doktor Pascal die Souleiade für etwa zwanzigtausend Francs gekauft, nachdem er sich entschlossen hatte, sein Haus in der Neustadt aufzugeben. Es war sein Wunsch, sich etwas abseits niederzulassen und außerdem der kleinen Clotilde, die ihm ihr Bruder aus Paris geschickt hatte, mehr Platz und mehr Freude zu geben. Die Souleiade, hier vor den Toren der Stadt auf einer erhöhten Fläche gelegen, von der aus man die Ebene überschaute, war ehemals ein ansehnliches Besitztum gewesen, dessen weitläufige Ländereien inzwischen auf weniger als zwei Hektar zusammengeschrumpft waren, weil man nach und nach sehr viel verkauft und weil der Bau der Eisenbahn die letzten Äcker verschlungen hatte. Das Haus selber war durch eine Feuersbrunst zur Hälfte zerstört worden. Es stand nur noch einer der beiden Flügel des Gebäudes, ein mit dicken rosa Dachziegeln gedeckter quadratischer Bau aus vier »Mauerfeldern«, wie man in der Provence sagt, mit fünf Fenstern an jeder Seite. Und der Doktor, der es samt Einrichtung gekauft hatte, hatte nur die Einfriedungsmauern ausbessern und ergänzen lassen, um daheim seine Ruhe zu haben.
Gewöhnlich liebte Clotilde diese Einsamkeit leidenschaftlich, dieses kleine Reich, das sie in zehn Minuten besichtigen konnte und das dennoch Eckchen aufwies, die an seine vergangene Herrlichkeit gemahnten. Aber an diesem Morgen trug sie einen dumpfen Zorn mit sich herum.
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