Er war erstaunt über die Nähe des Landes, welches nun auf einmal nur acht Meilen unter dem Winde entfernt war, während er es in einer Entfernung von dreißig bis vierzig vermuthete. Die Strömungen hatten diesen erbärmlichen Menschen, der eben nur Routinier war, ganz aus seiner gewöhnlichen Bahn herausgerissen und unversehens erfaßt.
Indeß das schnelle Manoeuvre John Mangles' hatte soeben den Macquarie von den Klippen entfernt. Aber John kannte gleichwohl seine Position nicht, vielleicht war er in einen förmlichen Riffgürtel hineingedrängt. Der Wind blies voll aus Westen, und bei jeder schwankenden Bewegung konnte man aufrennen. Und in der That, das Getöse der Brandung verdoppelte sich vom Steuerbord aus nach der Spitze zu. Man mußte noch mehr vor den Wind drehen. John ließ die Raaen nach und braßte möglichst scharf.
Die Klippen mehrten sich unter dem Vordersteven der Brigg, und es wurde nöthig, noch mehr vor den Wind zu wenden, um die offene See zu gewinnen. Würde dieses Manoeuvre mit einem Schiff von so schlechtem Gleichgewicht, unter einer theilweise zerrissenen Takelage auch glücken? Das war ungewiß, doch man mußte es versuchen.
»Den Helmstock herunter, ganz!« schrie John Mangles Wilson zu.
Der Macquarie begann sich der neuen Klippenreihe zu nähern. Und bald schäumte das Meer auf, so oft sich seine Wogen an den Felsen brachen.
Das war ein unbeschreiblicher Augenblick der Angst. Der Schaum ließ die Wellen leuchtend erscheinen. Man hätte sagen können, daß ein phosphorescirendes Phänomen sie plötzlich erleuchtete.
Das Meer grollte und tobte, als ob es die Stimme jener alten Klippen besäße, welche durch die heidnische Mythologie als lebende Wesen dargestellt sind. Wilson und Mulrady, gebeugt unter dem Rade des Steuerruders, drückten mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers darauf. Der Helmstock schleifte dahin.
Plötzlich, ein dröhnender Stoß – der Macquarie saß auf einem Felsen fest. Die Spließgangen des Bugspriets brachen und machten so die Haltbarkeit des Fockmastes zweifelhaft. Konnte man die Vierung ohne weiteren Schaden vollenden?
Nein, denn eine kurze Windstille trat plötzlich ein, das Schiff folgte dem Winde. Seine Bewegung hörte auf einmal auf, eine mächtige Woge erfaßte es von unten, trug es vorwärts auf die Riffe und dort warf sie es von sich ab mit einer furchtbaren Gewalt.
Der Fockmast mit seinem Takelwerk brach herunter. Die Brigg stieß zweimal mit ihrem Kiele auf und blieb dann unbeweglich und auf der Steuerbordseite um dreißig Grade geneigt, festsitzen.
Die Fenster der Treppenkappe waren in Scherben zertrümmert. Die Passagiere stürzten auf Deck, aber die Wellen fegten gleichsam das Verdeck von einem Ende zum anderen, und deshalb konnten sie sich dort ohne Gefahr nicht aufhalten. John Mangles, welcher wußte, daß das Schiff vollständig im Sande festsaß, bat sie in ihre Koje zurückzukehren.
»Die Wahrheit, John? fragte kalt Glenarvan.
– Die Wahrheit, Mylord, antwortete John Mangles, ist, daß wir nicht sinken werden. Ob wir zertrümmert werden, das ist freilich eine andere Frage, aber wir haben Zeit, Rath zu schaffen.
– Es ist Mitternacht?
– Ja, Mylord, man muß eben warten, bis es Tag wird.
– Kann man das Boot nicht in See lassen?
– Bei dieser hohlen See und in dieser Finsterniß ist es unmöglich. Und überdies, an welcher Stelle sollten wir anlegen?
– Nun gut, John, bleiben wir hier bis zum Tagesanbruch.«
Doch Will Halley lief wie ein Narr umher auf dem Decke seines Schiffes. Seine Matrosen, welche von ihrem starren Schrecken sich wieder erholt hatten, schlugen einem Faß Branntwein den Boden aus und begannen zu trinken. John sah voraus, daß ihre Trunkenheit bald schreckliche Scenen herbeiführen würde.
Man konnte nicht auf den Kapitän rechnen, um sie im Zaume zu halten.
Dieser Elende raufte sich die Haare aus und rang die Hände. Er dachte nur an seine Ladung, welche nicht versichert war.
»Ich bin ruinirt, verloren!« schrie er laut, während er von einer Seite des Schiffes nach der anderen lief.
John Mangles beruhigte sich keineswegs. Er ließ seine Gefährten sich bewaffnen und bereit halten, die Matrosen, welche von dem Branntwein schon voll waren, und deshalb schreckliche Lästerungen ausstießen, energisch zurückzuweisen.
»Den Ersten dieser Elenden, welcher sich der Koje naht, sagte ruhig der Major, tödte ich wie einen Hund.«
Die Matrosen sahen ohne Zweifel, daß die Passagiere entschlossen waren, sich Achtung zu verschaffen, denn nach einigen Versuchen, sie zu plündern, verschwanden sie.
John Mangles beschäftigte sich nicht weiter mit diesen Trunkenbolden, sondern erwartete ruhig den Tag.
Das Schiff lag vollständig unbeweglich. Das Meer beruhigte sich ein wenig, der Wind ließ nach, das wrackartige Schiff konnte also während einiger Stunden noch Widerstand leisten. Bei Tagesanbruch sollte John die Küste untersuchen. Wenn sie eine zugängliche Landungsstelle bot, sollte die Jolle, jetzt nur noch das einzige Boot an Bord, zum Transport der Passagiere und Mannschaft dienen. Man berechnete, daß man wenigstens drei Fahrten machen müsse, denn es war darin nur für vier Personen Platz. Das große Boot war ja durch eine Sturzwelle bereits weggeschwemmt worden.
Während John Mangles die Gefahr der ganzen Situation reiflich erwog, hörte er, gestützt auf die Treppenkappe, das Brausen der Brandung.
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