Er suchte mit seinen Blicken die tiefe Finsterniß zu durchdringen, und fragte sich, in welcher Entfernung sich wohl dieses so ersehnte und doch gefürchtete Land befinden möchte. Die Klippen erstrecken sich oft einige Meilen von der Küste in's Meer hinaus. Würde das zerbrechliche kleine Boot im Stande sein, eine längere Hin- und Rückfahrt auszuhalten?
Während John so überlegte, und den nächtlichen Himmel um Rath anflehte, ruhten die Passagiere, seinen Worten vertrauend, in ihren Hängematten. Die Unbeweglichkeit der Brigg sicherte ihnen einige Stunden Ruhe. Glenarvan, John und ihre Kameraden stärkten sich, als sie das Schreien und Lärmen der trunkenen Mannschaft nicht mehr hörten, durch einen kurzen Schlaf, so daß um ein Uhr ein tiefes Schweigen an Bord des Schiffes herrschte, das in seinem sandigen Bette gleichsam selbst schlummerte.
Gegen vier Uhr begann es im Osten zu dämmern, die Wolken färbten sich leicht in dem blassen Lichte der Morgenröthe. John stieg wiederum auf das Verdeck. Der Horizont war durch einen Nebelschleier verdeckt. Unbestimmte Contouren schwankten hin und her in den Morgendünsten, doch in einer ziemlichen Höhe. Das Meer ging nicht mehr so hohl, die Wogen der hohen See verloren sich mitten in unbeweglichen dicken Wolken. John wartete. Das Licht nahm allmälig zu, der Horizont färbte sich leicht mit röthlichem Scheine. Der Nebelschleier zog langsam hin über das weite Panorama im Hintergrunde. Schwarze Klippen ragten mit ihren Spitzen über die Oberfläche des Meeres hervor. In ihrer Nähe zeichnete sich als Schaumstreifen eine Linie ab, ein einzelner Punkt leuchtete hell hervor, wie ein Leuchtthurm auf einer Bergspitze, auf welche die ersten Strahlen der emporsteigenden Sonne fallen. Dort war das Land, wenigstens neun Meilen entfernt.
»Land!« rief John Mangles.
Seine Gefährten, geweckt durch seine Stimme, stürzten eilig auf das Deck und betrachteten schweigend die Küste, welche sich dunkel am Horizont abzeichnete. Gastlich oder verhängnißvoll, sie sollte ihnen ein Zufluchtsort sein.
»Wo ist Will Halley? fragte Glenarvan.
– Ich weiß es nicht, Mylord, antwortete John Mangles.
– Und seine Matrosen?
– Verschwunden wie er.
– Wie er ohne Zweifel voll und trunken, fügte Mac Nabbs hinzu.
– Man gehe sie suchen, sagte Glenarvan, man kann sie auf diesem Schiffe nicht zurücklassen.«
Mulrady und Wilson stiegen in die Kajüte des Vorderdecks hinab und kamen zwei Minuten später wieder. Sie war leer. Darauf durchsuchten sie das Zwischendeck und endlich das ganze Schiff bis auf den Kiel hinab. Aber sie fanden weder Will Halley, noch seine Matrosen.
»Wie! Niemand? rief Glenarvan.
– Sind sie in's Meer gefallen? fragte Paganel.
– Alles ist möglich«, antwortete John Mangles, sehr besorgt über dieses Verschwinden.
Sie wandten sich nach dem Hintertheil.
»Zum Boot!« rief er aus.
Wilson und Mulrady folgten ihm, um die Jolle in See zu bringen. Sie war verschwunden.
Fünftes Capitel.
Die improvisirten Matrosen.
Will Halley und seine Mannschaft waren ohne Zweifel, die Nacht und den Schlummer der Passagiere benutzend, auf dem einzigen Boote der Brigg entflohen. Dieser Kapitän, dessen Pflicht es war, der Letzte an Bord zu sein, hatte das Schiff zuerst verlassen.
»Die Schurken sind fort, sagte John Mangles. Nun, desto besser, Mylord. Sie ersparen uns nur unangenehme Auftritte!
– Ich denke ebenso, antwortete Glenarvan; außerdem haben wir immer noch einen Kapitän an Bord, Dich, John, und wenn auch nicht geschickte, so doch muthige Matrosen, Deine Gefährten. Befiehl, wir sind bereit, Dir zu gehorchen.«
Der Major, Paganel, Robert, Wilson, Mulrady sogar Olbinett, stimmten den Worten Glenarvan's bei, und sich auf dem Verdeck aufstellend, waren sie der Befehle John Mangles' gewärtig.
»Was ist zu thun?« fragte Glenarvan.
Der junge Kapitän schaute auf's Meer und auf das unvollständige Mastwerk der Brigg und sagte nach einigen Augenblicken des Nachdenkens:
»Wir können uns nur auf zweierlei Art aus dieser Lage ziehen, Mylord; entweder das Fahrzeug wieder flott machen und in See stechen, oder auf einem leicht zu bauenden Floß das Land erreichen.
– Wenn das Fahrzeug wieder flott gemacht werden kann, erwiderte Glenarvan, ist es das Beste, was wir thun können, nicht wahr?
– Ja, Ew. Herrlichkeit, denn was sollte am Lande ohne Transportmittel aus uns werden?
– Vermeiden wir die Küste, sagte Paganel. Neu-Seeland muß man mißtrauen.
– Um so mehr, als wir sehr abgefallen sind. Durch Halley's Nachlässigkeit sind wir nach Süden verschlagen worden, das ist klar. Zu Mittag werde ich unsere Lage aufnehmen, und wenn wir uns, wie ich vermuthe, unterhalb Auckland befinden, will ich versuchen, mit dem Macquarie die Küste entlang wieder hinaufzufahren.
– Aber die Schäden an der Brigg? fragte Lady Glenarvan.
– Ich halte sie nicht für so schlimm, Madame, antwortete John Mangles. Ich werde vorn einen Nothmast aufrichten, um den Fockmast zu ersetzen, und wir werden, wenn auch langsam, doch dahin segeln, wohin wir wollen.
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