»Betet zu Gott, Herr Hennicke!« sprach sie; »aber getröstet Euch nicht, daß Euch das Kind behalten bleibe!«

Er fuhr zusammen und wandte rasch den Kopf. Das Weib erschrak fast, als er sie mit seinen schwarzen Augen ansah. »Das Kind? Was meinst du?« rief er. »Daß auch das Kind noch sterben sollte?«

Die Alte wurde fast verwirrt; er sprach so laut; doch weder Schreck noch Kummer war in seiner Stimme. »Das liegt in Christi Händen«, sagte sie; »aber saht Ihr's denn nicht? Es steht ein Lächeln um der Leiche Mund; so liegen nur, die bald ihr Liebstes nach sich ziehen.«

Sie trat zurück, um von der Toten Angesicht das Linnen abzudecken; aber Herr Hennicke packte raschen Griffes ihren Arm. »Geschwätz«, stieß er mit heiserem Laut hervor, »wenn du nichts anderes zu berichten weißt!«

»Laßt mich, Herr Hennicke!« sagte die alte Frau. »Ihr seid ein großer Herr; aber der Toten Angesichter versteh ich besser doch als Ihr! Harret eine Viertelstunde hier an Eures Kindes Wiege, so werdet Ihr die Gichter kommen sehen.«

Und Herr Hennicke blieb und sah die Gichter in dem kleinen Antlitz zucken. Dann schritt er aus der Kammer und durch den Saal; aber er sah nicht auf, wo seines Weibes Bildnis hing. Eilends stieg er in den Hof hinab, und bald saß er zu Pferde, und seine großen Hunde neben sich, ritt er über die Brücke in die schon dunkelnde Nacht hinaus. Er ritt auf dem engen Wege um den Wald herum, quer über die Felder um das ganze Gutsgebiet; seine Blicke streiften über das dämmernde Land mit einer Sicherheit, wie sie es nie getan. Der Erbe dieses Grundbesitzes lag sterbend in der Wiege; er aber war der Vater und der Erbe dieses Erben! Er stieß seinem Pferde die Sporen in die Weichen, daß es bäumend in die Luft stieg; aber er zwang es nieder auf die Vorderfüße, seine Faust war kräftiger als je. »Vorwärts! Wir traben bald auf eigenem Grund und Boden!« Seine Brust hob sich; mit Mühe bändigte er ein Jauchzen, das fast die stille Nacht erschüttert hätte. Als er zu Hause von dem schäumenden Rappen stieg, kam ihm die Bauerndirne, die als Kindesmagd war gemietet worden, mit Geheul entgegen: das Kind lag abermals in seinen Gichtern.

Am andern Morgen kam der Arzt, und am folgenden Tage kam er wieder; und während er an der Wiege des Kindes war, ging Herr Hennicke in atemlosem Wandern in der Winterstube auf und ab; aber die Waage stand immer noch zwischen Tod und Leben. Als am dritten Tage der Doktor zu ihm ins Gemach trat, streckte er Herrn Hennicke die Hand entgegen und sprach mit heiteren Augen: »Die edle Tote hat Euch ein teueres Pfand gelassen; Gott hat geholfen, Euer Kind wird leben!«

Seit jenem Augenblicke haßte Herr Hennicke den alten Arzt; noch mehr aber seinen eigenen Sohn.

 

Das Wesen des Mannes wurde seit dem Tode der sanften Frau noch finsterer und gewaltsamer. Wenn die Hörigen säumig waren oder die Pachtbauern mit ihrem Zinse oder den Mast- und Schweinegeldern im Rückstand blieben, ließ er die einen in den Block legen oder peitschen, für die andern suchte er alte, längst vergessene Strafen aus dem Staube der Archive. Freilich, der Gelder konnte er nicht entraten; denn er liebte Weiber und Gelage und war auf Wochen oftmals in der Stadt, im fröhlichen Verkehre mit des Herzogs Leuten; und wenn auch noch auf zwei Jahrzehnte der Gutsertrag in seine Kasse floß, er war noch jung, und die Mündigkeit des Kindes traf noch in seine besten Mannesjahre. Wenn der Geburtstag seines Sohnes sich jährte, es war ihm nur ein Merkmal der ihm drohenden Verarmung. Überdies war schwere Zeit damals in den siebenziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts; Kriegs- und andere Lasten drückten, und der mitregierende König achtete weder des Volkes noch der Stände Rechte. Es half Herrn Hennicke nicht viel, daß er jeden Anlaß nahm, um Bauernfeld in Hoffeld umzuwandeln; es wurde not, nach einer zweiten Erbtochter mit freiem Eigen auszuschauen; vielleicht in einer Zeit, wo er weniger als je dazu den Antrieb spürte.

Allein es wollte nicht so glücken wie das erste Mal. Auf mehreren Herrensitzen hatte er schon angeklopft; aber die Töchter waren meistens aus der andern Tür gegangen, wenn er zur einen eingetreten war. Die niedrige Stirn des Mannes unter dem schwarzen, kurzgeschorenen Kraushaar wollte ihnen nicht gefallen; sie sahen lieber auf ihre Vettern und Freunde, welche schon die zierliche, von Herrn Hennicke stets verschmähte französische Perücke auf ihren jungen Köpfen trugen; auch munkelte es stark, daß trotz des Freierganges der schwarze Mann von einer niederen Leidenschaft gehalten sei und, gleich dem Bauern, nur das Gut freien gehe.

So kam es endlich, daß er zu einem lang gemiedenen saueren Weg sich rüstete.

Hinter dem Walde von Eekenhof, von dessen Herrenhaus nur eine halbe Stunde fern, saß eine Erbtochter ganz allein auf ihrem nicht gar großen, aber schuldenfreien Hofe. Sie war ein Waisenkind von etlichen dreißig Jahren, eine herbe wirtschaftliche Jungfrau, deren farbloses Antlitz mit dem glatt gescheitelten Flachshaar stets so sauber gehalten war wie die tannenen Fußböden ihrer Zimmer, von denen die Bauern sagten, daß man den Braten von den Dielen essen könne. Vor etwa zehn Jahren war die Meinung aufgekommen, ein armer Vetter werde bei der wohlhäbigen Base sich ein sicheres Nest erwerben; aber es war nicht dazu gekommen, und einem neugierigen Frager hatte mit verschmitztem Lächeln der junge Fant erwidert: »Wenn sie nur Brauen auf dem Schädelbogen hätte! Ich fürchte mich vor ihren nackten Augen!«

Seit jener Zeit hatte die Jungfrau an ihrer Aussteuer nur noch emsiger gesponnen als je zuvor. Des Tages über saß sie allein an ihrem Rade und spähte unterweilen aus ihren kleinen Augen auf die vorbeiführende Heerstraße, ob nicht zu Roß oder zu Wagen ein Freier angefahren komme; am Abend, zumal im Winter, wenn die Wirtschaftsarbeit abgetan war, schnurrten auch die Räder der leibeigenen Mägde um sie her, und war die Herrin zum Schlaf in ihre Kammer gegangen, so mußten die Dirnen stundenlang noch in der kalten Stube weiterspinnen; klagten sie am andern Morgen, daß sie mit den steifen Fingern den dicken Wocken, den sie ihnen zur Nacht noch aufzustecken pflegte, nicht völlig hätten zwingen können, so wickelte sie den Flachs um ihre Finger und sengte ihnen denselben daran ab. Sie soll dabei gesagt haben: »Nun wird's wohl heiß genug sein für die ganze Woche!«

Da, eines Morgens, als sie von ihrem Spinnrade in den grauen Regentag hinausäugte, kam ein Reiter mit zwei großen Hunden dem Tore ihres Hofes zugetrabt. Ihre dünnen Lippen verzogen sich zum Lächeln; denn es war Hennicke, den sie seit seiner Frauen Hingang schon jeden Tag erwartet hatte. Sie lächelte sogar noch, wenn auch ein wenig säuerlich, als mit Herrn Hennicke seine Hunde sich ins Zimmer drängten und ihre schmutzigen Tatzen auf die weißen Dielen setzten.

Herr Hennicke sah weder ihr süßes noch ihr saures Lächeln; bald aber ließ er sich von ihr treppauf, treppab im Hause umherführen; sie schloß ihm, einen nach dem andern, die schweren Eichenschränke auf und wies ihm prunkend die aufgespeicherten Gespinste; und da nun Land und Sand sich selber lobte, so lobte der Freier auch die Schätze in den Schränken. Die Dirnen aus der Küche aber schlichen ihnen nach, kicherten und guckten um die Ecken und hatten es bald heraus, daß hier ein Liebeswerk im besten Gange sei.

Nur eine Bedingung, vielleicht um sicherer die Zügel zu behalten, knüpfte die Jungfer Benedikte an die Vergabung ihrer Hand: der Bräutigam sollte zu ihr auf ihren Erbhof ziehen; sie wollte nicht auf fremdem Boden wirten. – Und so kam es, daß das alte Haus des Eekenhofs verlassen wurde und nichts zurückblieb als droben in der großen Sommerstube ein paar verblichene Sessel und die Bilder der Verstorbenen.

Auch der Erbe des alten Hofes, der kleine Junker Detlev, störte die junge Ehe nicht. Bei seines Vaters Hochzeit war er noch im Dorfe drunten in Kost und Pflege einer Bäuerin; dann aber hatte die lustige Base den Knaben zu sich in die Stadt genommen; denn ein Gerücht hatte sich erhoben, daß auf dem Eekenhof das Bild der toten Frau in hellen Mondnächten aus dem Rahmen steige und ihr Kind durch alle leeren Kammern ihres Hauses suche.