Als er sie erblickte, schien sein schwarzes Auge licht zu werden; er streckte ihr die freie Hand entgegen, als wolle er nach einem Glücke greifen. Da sie dennoch scheu und schweigend an der Schwelle blieb, sprach er: »Weshalb kommst du nicht näher, Heilwig, da du doch gekommen bist?«
Da trat sie näher zu ihm hin. »Herr Pate«, sprach sie, doch so leise, daß er sein Ohr zu ihrem Munde neigen mußte; »ich komme, ich wollte Euch um etwas bitten!«
Wie eine Freudenbotschaft hat das Wort dem finsteren Manne geklungen; er warf sein Jagdgewehr beiseite und ergriff die beiden Hände des Mädchens. »Bitte nur, Heilwig!« sagte er, sie heftig schüttelnd; »du hast mich nie gebeten, nun mach's gleich so, daß ich es fühlen kann!«
Doch als sie darauf sprach: »Herr Pate, so lasset doch den armen Stier am Leben!«, da fuhr er auf und schrie: »Wer hat dich hergeschickt? Du redest mit Frau Benediktes Zunge!« Dann wieder, da das Kind ob seiner Heftigkeit in Tränen ausbrach, hat er sie plötzlich auf den Arm gehoben und ist mit ihr die Treppe nach dem Hof hinabgestürmt. Erst vor der Zelle, aus der das dröhnende Gebrüll hervorbrach, ließ er sie zur Erde. Als aber die Bohlentür geöffnet war und Heilwig, von den blutroten Augen des rasenden Tiers erschreckt, entfliehen wollte, hielt er sie fest und hieß einem Hofjungen ein Bündel Heu herbeiholen, so groß er es mit beiden Armen fassen könne. »Nun, Heilwig«, rief Herr Hennicke, als jetzt der Stier den duftigen Haufen stampfend und schnaubend mit dem rauchenden Maul durchwühlte; »da hast du deinen Willen, nun aber sollst du für dich selber bitten!«
Das jetzt zwölfjährige Mädchen, das nur mit Widerstreben festgehalten wurde, zuckte bei diesem Wort erschreckt zusammen; dann aber hob sie sich auf den Zehen zu dem großen Mann empor, und ihre blauen Augen glänzten plötzlich, nicht wie eines Kindes, sondern wie die Augen eines Weibes.
»Sprich!« sagte er erwartungsvoll.
Da sprach sie, aber es klang fast mehr wie zornig als wie bittend: »Herr Pate, so sollet Ihr den Junker Detlev wiederkommen lassen!«
Herr Hennicke zuckte jäher noch zusammen als vorhin Heilwig; er antwortete nicht, er ließ nur die Hand des Mädchens fahren. Und so standen beide wortlos nebeneinander, bis das erneute Gebrüll des Tieres kundgab, daß auch das vorgeworfene Futter seinen Hunger noch nicht gestillt habe.
– – Als es Winter wurde, kam eine Rede über den Junker Detlev, er sei von Lübeck aus mit einem Spanienfahrer als Schiffsjunge in die weite Welt gegangen; zugleich erhob sich das Gerücht, im Rittersaale auf Eekenhof steige wiederum das Bild aus seinem Rahmen, in hellen Nächten zeige sich die tote Frau am Fenster und schaue aus nach dem Verstoßenen.
Als das zu Herrn Hennickes Ohren drang, ergrimmte er heftig und verschwor sich, er wolle dem verfluchten Spuk ein Ende machen. Mit blankem Jagdmesser, so heißt es, habe er vor dem Bilde gestanden, um es zu zerstören; aber die stillen Augen hätten ihn angeschaut, daß sein zum Stoße schon erhobener Arm herabgesunken sei.
Nach diesem ist der Saal von keinem mehr betreten worden; wie einst der Letzte des Geschlechts es ausgesprochen hatte, die Bilder der Abgeschiedenen sind jetzt alle wie in einer Gruft beisammen gewesen. Nur wenn in Mondnächten sich die weite Himmelsferne öffnete, zumal wenn im Äquinoktium die Stürme tobten, soll jene nächtliche Erscheinung sich noch oftmals wiederholt haben.
Die beiden Bewohnerinnen von Eekenhof hatten nichts davon gesehen; nur einmal, da sie nachts in ihrer Schlafkammer, welche unter dem Saale lag, vom Sturm erwachten, haben sie über sich ein Rauschen wie von Frauengewändern hören können und haben dann für den Junker Detlev und für die tote Frau ein still Gebet gesprochen.
Manches Jahr war dahingegangen; längst war der Informator in das statt Ehrensoldes ihm verheißene Pfarramt eingetreten; in dem Hause auf Eekenhof wohnte eine halbblinde Greisin mit einer frisch erblühten Jungfrau, deren wehendes Kraushaar jetzt in schweren Flechten gefesselt lag. Nur zum Kirchgange an Sonn- und Feiertagen, oder wenn ihr Pate sie zu sich kommen hieß, und auch dann nur für kurze Stunden, verließ Heilwig die Großmutter und den einsamen Bezirk des Hofes. Doch wenn der Tag sich neigte, zumal im Frühjahr, wenn vom Norden her die Vogelschwärme zogen, schritt sie manchmal über die Landstraße nach einem jenseits belegenen Heidehügel und spähte in die Ferne, bis das Abendgold verglommen war. Mitunter, am Sonntagabend, kam der junge Pastor die Straße heraufgewandert; dann lief sie ihm entgegen, und sie gingen Hand in Hand über die Brücke und nach dem Hause zu der blinden Großmutter.
Im Dorfe hieß es eine Zeitlang, der junge Pastor freie um das schwarze Mädchen auf Eekenhof. Allein sie irrten; er war es nicht, nach welchem das Mädchen in die Nacht hinaussah.
– – Drüben in der Stadt, in einer Maienwoche, war wieder einmal Landgericht gehalten worden; sechs königliche Trompeter und ein herzoglicher Heerpauker, durch die Straßen reitend, hatten es verkündigt; und von allen Seiten war man herbeigekommen, sei es, um alten Streit zu schlichten oder um neue Rechte zu begründen.
Auch Herr Hennicke war dort gewesen. Schon zuvor hatte er durch Zeugen dargetan, daß sein jetzt mündiger Sohn aus erster Ehe vor nunmehr fast zehn Jahren auf einem Lübischen Kauffahrer nach dem Mittelmeer das Land verlassen habe und daß von Schiff und Mannschaft später keine Kunde laut geworden sei; nun hatte er es so gut wie unter Brief und Siegel, daß der Junker Detlev als ein Verschollener durch Spruch des Landgerichts für tot erklärt und somit der Eekenhof des Vaters Erb und Eigen werde.
Aber noch ein anderes wollte Herr Hennicke in der Stadt betreiben. Etwas war doch auf Erden, woran seine Seele hing; nicht etwa seine anderen Söhne, die beiden Füchse, welche jetzt schon gleich dem Vogte zwischen den Leibeigenen die Peitsche führten; es war noch immer das Kind mit dem schwarzen Haar, gleich seinem, und mit jenen Augen, aus denen ein längst verblichenes Antlitz wider ihn zu klagen schien. War es auch zur schlanken Jungfer aufgewachsen, das alte Spiel war geblieben; noch immer floh sie ihren wilden Paten, und noch immer dürstete ihn nach einem trauten Wort aus ihrem Munde. Nun aber – und Herr Hennicke, der auf der Heimreise war, ließ bei dem Gedanken seinen Gaul in Sprüngen tanzen –, nun sollte sie ihm bald nicht mehr entrinnen können! Frau Benediktes Zunge war in den letzten Jahren immer schärfer und spitziger geworden; das Schlüsselbund zu Kammer und Keller hielt sie so fest in ihren mageren Fingern, daß selbst Herr Hennicke es ihr nicht zu entreißen wagte; aber auch ihre Backenknochen traten spitz hervor, der Strom ihrer Rede wurde oft durch dumpfes Hüsteln unterbrochen, und es schien unvermeidlich, daß zum nächsten Frühjahr nur noch ein gespenstiger Nachhall ihres wirtschaftlichen Waltens auf Trepp' und Gängen das Gesinde schrecken werde. Herr Hennicke aber sah daraus das Kräutlein »Hoffnung« grünen; er wollte dann das Kind, das einzige, das ihm im Sinne lag, nach Recht und Ordnung zu dem seinen machen; mit ihr allein wollte er dann auf seinem neuen Eigen hausen, und später sollte sie seine Erbin sein; die beiden Füchse mochten sich auf ihrem mütterlichen Gute nähren.
Schon jetzt hatte er wegen des erforderlichen Gnadenbriefes bei des Herzogs Kanzler vorgefragt und auch hierüber, wie er meinte, für den eintretenden Fall einen guten Zuspruch mitbekommen.
Auf halbem Wege war Herr Hennicke bei einem Nachbar zum zweiten Morgenimbiß eingekehrt. »Was bringst du, Henne?« frug ihn dieser; »dein schwarzes Antlitz leuchtet wie die gute Zeit!« Und dabei schenkte er ihm von neuem in das weite Glas. Herr Hennicke trank; aber er war nicht der Mann, seine Gedanken beim Weine zu verraten. Er wollte freilich plaudern, aber anderswo.
Fröhlich nickend schwang er sich in den Sattel; und immer schneller ging der Ritt, vorüber an Frau Benediktes Haus, dann auf der Straße fort nach Eekenhof. Als er an die schmale Holzbrücke kam, scheute das Pferd und wollte nicht mehr vorwärts; aber der Reiter drückte ihm die scharfen Sporen in die Weichen, daß es mit donnerndem Hufschlag hinüberflog; oben aus den Eichenwipfeln fuhr krächzend eine Schar von schwarzen Krähen, die seit Junker Detlevs Fortgang dort Besitz genommen hatten.
Nur mit Mühe brachte Herr Hennicke sein Pferd zum Stehen; dann rief er: »Heilwig! Heilwig!« nach dem Hause zu. Und als sie kam und zögernd näher trat, ergriff er ihre Hand und zog das erschreckte Mädchen hart bis an die Hufen seines unruhig stampfenden Pferdes. Seine schwarzen Augen glänzten in dem von Wein und wilden Hoffnungen geröteten Antlitz, und während sie wie betäubt zu ihm emporsah, überschüttete er sie mit dunkeln und verworrenen Andeutungen seiner Zukunftsträume. »Geduld nur, Heilwig!« rief er. »Nicht mehr im Unterbau; da droben in den großen Stuben sollst du wohnen; die Toten kommen nicht wieder; aber die dummen Bilder sollen fort; ich will die begrabenen Augen nicht mehr um mich haben!« Dann plötzlich riß er das Pferd herum und jagte fort, so wie er eben erst gekommen war.
Eine Weile starrte ihm das schlanke Mädchen nach; dann floh sie ins Haus zurück und warf sich weinend zu den Füßen der halbblinden Greisin. Nur eines aus den wüsten Reden ihres Paten hatte sie herausgehört; ihr war, als habe er ihr Junker Detlevs Tod verkünden wollen.
Aber die Großmutter strich ihr die schwarzen Löckchen von der Stirn. »Sei ruhig, Heilwig«, sprach sie; »der Stieglitz hat noch nicht gesungen!«
Und als Heilwig meinte: »Großmutter, hier singen keine Vögel mehr; die schwarzen Krähen haben sie alle ja zerrissen«, da erhob die Greisin ihren Finger, als wolle sie oben nach dem Saale weisen: »Den einen nicht, Heilwig, den einen nicht; der ist kein Futter für die Krähen!«
Nicht lange danach, an einem Sonntagnachmittage, als eben Frau Benedikte ein selbstgebrautes Kräutertränklein zum Kühlen in das offene Fenster stellte, ist auf dem Hofe dort ein Reiter von einer Schecken abgestiegen. Er ist noch jung gewesen, aber in einer Tracht, wie man sie einige Jahre früher, da die Pariser Moden noch nicht die Herrschaft gewonnen hatten, in Hamburg oder Lübeck an den vornehmeren Kaufherren hatte sehen können, die aber auswärts in den deutschen Handelsplätzen auch derzeit noch im Schwange sein mochte.
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