Ein ernstes Leben

Inhalt

Heinrich Mann - Ein ernstes Leben

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBENTES KAPITEL

Heinrich Mann - Nachwort 1960 in der DDR

EIN ERNSTES LEBEN - Kurzrezension - aus :„Kindlers Neues Literaturlexikon“

Heinrich Mann



Das Werk ist der letzte Roman aus der Reihe der »Romane der Republik« erschienen 1932. – Das Werk ist der letzte Roman aus der Reihe der
»Romane der Republik« und zugleich der letzte Roman, den Heinrich Mann vor seiner Flucht aus Deutschland veröffentlichte. Erzählt wird der Lebensweg eines jungen Mädchens namens Marie Lehning, hinter der sich
Heinrich Manns Freundin und spätere Ehefrau Nelly Kroeger verbarg, die der Autor als Bardame in Berlin kennengelernt hatte und deren »entwaffnende Frivolität«, die Hermann Kesten rühmte, das Mißfallen Thomas Mann’s auf sich zog.

© VERLAG DER NATION • BERLIN ca. 1961

ROMAN FÜR ALLE BAND 93





HEINRICH MANN

EIN ERNSTES LEBEN

VERLAG DER NATION



Umschlag und Titelgestaltung Heinz Bandschick




Umschlag und Titelgestaltung Heinz Bandschick
VERLAG DER NATION • BERLIN Mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlages, Berlin

Lizenz-Nr. 20 - 400/41/60
Gesamtherstellung: (140) Neues Deutschland, Berlin N 54 • 9986


ERSTES KAPITEL
Diesem Kind erschienen alle Jahreszeiten als halbe Fremde, nur nicht der Winter. Die Ostsee verbreitete Sturm und Kälte über ihren kahlen Strand, das hielt vor, und dann war es, wie es sein sollte. Die Sommerwochen dazwischen kamen für die Kinder der Badegäste, nicht für Marie und ihre Geschwister, die nur die gute Gelegenheit benutzten, um auch zu genießen. Der Sommer dieses Kindes war zauberhaft und nicht ganz glaubwürdig. Des Nachts im Traum vergaß es den Juli und sah die See hochgehn. Donnernd rollte sie heran, jeder Anlauf türmte ihre Wassermassen höher, und beim nächsten, beim nächsten verschlangen die Wellen den Katen, worin Marie schlief!
Ihr Vater hieß Lehning und war Landarbeiter. Auch die Mutter Elisabeth diente bei einem Bauern. Trotzdem wohnten sie mit allen ihren Knaben und Mädchen unter dem Strohdach eines Katens unmittelbar neben der See, an der Stelle, wo die Promenade aufhört. Auch das steinerne Bollwerk endet dort, den Katen schützte es nicht mehr. Sie hausten darin auf gut Glück und immer gefährdet. Marie aber litt mehr Furcht als alle anderen.
Mehrere der Geschwister, die im ganzen dreizehn gewesen wären, ließen sich von der See holen - verschwanden eins nach dem anderen, alle ihre Angehörigen suchten sie vergebens, während Eissplitter durch die verdunkelte Luft flogen. Am Morgen wurde doch noch etwas gefunden, zwei Holzpantinen standen droben auf dem Steindamm ordentlich beieinander, als wäre jemand schlafen gegangen.

Übrigens war Warmsdorf ein lustiger Ort; nur der Lehrer hatte die bittere Frage erfunden, warum Warmsdorf so heiße. Er prüfte hierüber seine Schüler jedes Jahr mehrmals, und die Antwort mußte heißen: wegen der Badegäste.

In Wahrheit fühlte die Bevölkerung sich wohler, wenn keine Fremden sie störten. Man mußte in den Häusern weniger leise auftreten, solange die guten Zimmer noch nicht vermietet waren. Die Fischer feierten den ganzen Winter ihre Familienfeste in Köhns Hotel, woran während der Saison nicht zu denken war.
Die Fischer stehen obenan. Sie sind untereinander alle verwandt, nie aber mit den anderen Schichten. Manche besitzen kleine Dampfschiffe. Sie brechen auf in eisiger Nacht, werden unsichtbar zwischen den Bergen aus brüllendem Wasser, und erscheinen sie wieder, sind zwanzig Stunden vergangen. Niemand außer ihnen selbst hält sich einer solchen Ausdauer für fähig. Anfrieren auf der Bank! Mit Eis im Bart! Dafür kehren sie zurück als große Seefahrer - am größten, wenn einer von ihnen nicht mehr zurückkehrt. war.
Dann sieht das Dorf ihre feierlichen Leichenbegängnisse, nicht einer der Überlebenden fehlt, und der Grog, nachher in Köhns Hotel, ist ein wichtiges Getränk, von Blaugekleideten eingenommen. Die Söhne der Fischer können im Sommer aussehen wie Badegäste. Ja, die Besitzer der kleinen Dampfschiffe haben manchmal einen Jungen, der lieber nicht mit hinausfährt und sogar im Winter seidene Hemden trägt.
Die Kaufleute und Gastwirte sind an Zahl zu gering, um gegen die Fischer aufzukommen, obwohl sie Stehkragen tragen, und das auch in Abwesenheit der Badegäste. Sie haben übrigens Schulden bei der Warmsdorfer Bankfiliale. Die Fischer arbeiten in wirtschaftlicher Hinsicht mit ihrer eigenen Genossenschaft und sind sonst freie Männer. Sie haben Knechte, die das ganze Jahr in Lohn stehen und auf See alt werden - anders als die Arbeiter der Bauern.

Die Bauern sitzen auf ihren Höfen hinter den Tannen.