,Mit einer Stricknadel!’ Dies war die Stimme der Mutter. Auf einmal meinte sie, auch Antje spreche zu ihr. Antje, die nie mehr ein Zeichen gegeben hatte, sollte sie je wieder eins geben? ,So wenig wie Frieda’, mußte Marie denken. Gleichzeitig erschien ihr das Gesicht eines Gendarmen, der schon längst nicht mehr im Dorf war, aber er hatte den Vater abgeholt, als die kleine Dörtje oben in den Tannen lag mit dem Rock über dem Kopf.

Sie fühlte Angst vor der allzu großen Deutlichkeit ihrer Erinnerungen, und grade die Furcht ihres Herzens versicherte ihr, daß sie dies alles nie vergessen werde. ,Jetzt weiß ich es’, dachte sie. ,So ist es!’ Immer beim Anblick der Liebespaare kamen ihr dieselben Worte. Des Abends auf der schwach beleuchteten Strandpromenade bewegten sich zwei Schatten unter diesem und jenem der Bäume, von denen die Blätter fielen. Die welken Blätter schwankten durch die Luft, bevor sie eine Strecke weiterhin den dunklen Boden berührten. Marie dachte: ,Jetzt weiß ich, wie das ist. Ich will auch nie mehr weinen. Meine Mutter weint nicht, und sie hat ein hartes Gesicht.’
Sie war ein herangewachsenes Mädchen, dreizehn, bald vierzehn, sollte eingesegnet werden, und daher ging natürlich auch sie schon mit ihrem Freund am Abend unter die Buchen. Mingo Merten hielt den Arm um ihre Schulter, sie umschlang die seine, und sie tuschelten wie alle anderen. Bei keiner hätte der Junge mehr Unschuld und kindliches Vertrauen finden können. Was das Rollen der See nicht zudeckte von ihren Worten, klang ernst und hingebend. Wenn das Mondlicht hervorkam, konnte er ihren weichsinnenden Blick erkennen. Soviel sie ohne ihn und fern von ihm alles hatte erlernen müssen, es blieb ihm unbekannt. Sie bedauerte nicht sich selbst, aber ihr lieber Freund tat ihr leid. Daher verriet sie nichts, und er ahnte niemals, diese Stimme, dieser Blick kämen aus einem Innern, das sich schon schützen und verhärten wollte. Einst fuhr sie in seinem Arm zusammen, er bemerkte, daß sie zitterte und wie sie fortstrebte”. Unglücklicherweise versuchte er, sie festzuhalten, da riß sie sich los; sie schrie auf.
„Laß mich!”
„Was hast du auf einmal?”

Sie hatte Boldt gesehen mit einem Mädchen. Der Verlobte Friedas stand mit einer anderen dort hinten unter dem Baum und küßte sie! Seinetwegen war Frieda tot! Er hatte gespart und wollte kein Kind, darum hatte sie sterben müssen, und jetzt küßte er die da! Marie sagte zu Mingo, ihr sei plötzlich schlecht geworden, und sie tat, als ob sie weinte. Er glaubte ihren Tränen, und sie durfte nach Hause.

Als sie auch noch erfuhr, daß Boldt jetzt wirklich das Geschäft gekauft hatte und die andere heiratete, kam Marie auf den Gedanken, ihm das Haus anzuzünden. Der Gedanke ergriff sie wie eine entsetzliche Krankheit; wo sie ging und stand, trug sie eine Welt von Fieber mit sich herum, fürchtete sich, war verzweifelt und haßte. Eine ganze Nacht verbrachte sie im Stall hinter dem Boldtschen Anwesen, um auszukundschaften, wie sie es anfinge. Der Morgen graute, sie kehrte aber nicht in den Katen zurück, sondern lief hinunter zum Wasser. Es wurde grade Frühling, der Sand war zum erstenmal ganz trocken, sie watete darin mit ihren bloßen Füßen stundenlang. Es ermüdete sie sehr, aber den Gedanken brachte es nicht zum Schweigen, die ganze Zeit sann sie nur auf das Mittel, sich viel, viel Brennstoff zu verschaffen.
Ein fremder Strand umgab sie endlich, so weit war sie gelaufen. Sie kehrte um, jetzt breitete sich über die Bucht das Morgenrot, eine von innen bunt erleuchtete Wolkenwand. Dagege n schwarz hingestellt, erblickte sie in der Ferne etwas, das vorher noch nicht dagewesen war, etwas Schweres, Massiges und Hartes, wer hatte es so schnell auf den Strand getragen? Trotz ihrem fieberhaften Denken wußte sie im Grunde, daß es ein Mensch war. Sie hielt an.

Der Mensch war der einzige weit und breit, und er stand reglos der See zugewendet.