Im Herbst war sie schon vor Abend oft sehr müde; sie hätte nicht geglaubt, daß es eine so große Müdigkeit gibt. Sie wurde damals zwölf Jahre alt. Eines Tages gegen Abend machte sie sich auf, um in den Tannen etwas Reisig zu sammeln. Der Weg rechts hinauf führt zum Friedhof. Das Bündel auf ihrem Rücken drückte Marie, sie wollte ausruhen in einem Winkel der Friedhofsmauer, wo es windgeschützt ist. Auf ihren bloßen Füßen näherte sie sich unhörbar, da saß in dem Winkel schon jemand, ein Mädchen, es hielt das Gesicht in den Händen.
„Frieda! Bist du das?”
Die ältere Schwester zeigte ihr Gesicht, um zu bestätigen, daß sie es sei. Sie sagte nichts.
„Was tust du da? Hast du keine Arbeit?”

Denn Frieda hatte immer Arbeit, seit sie zu Schlächter Heim gekommen war. Das geschah vor so langer Zeit, daß Marie es nicht mehr wußte, und sie kannte ihre Schwester nicht anders als von schnellen Begegnungen. Schon zwei Jahre war Frieda verlobt mit Karl Boldt, jetzt sah man sie noch seltener.

„Wo ist Boldt? Daß du hier so allein sitzt! Und bei Heim hast du doch sonst viel länger zu tun.”
„Ich hab gar nichts zu tun”, äußerte Frieda endlich. Sie hatte ein Gesicht wie immer, nur regungsloser. „Oder, was ich zu tun habe, ist meine Sache.”
Marie verstand dies nicht.
„Heiratet ihr denn nun im Frühling? Kauft Boldt das Geschäft?”
Frieda stand auf. „Ja, ja”, sagte sie. „Wir denken uns das alles so. Mir aber ist, als würde es nichts.”
„Fehlt dir etwas?” fragte Marie.
„Nein, nein. Und wenn, dann muß ich selbst zusehen.”
„Du bist doch in der Krankenkasse.”
„Aber nicht dafür!” Dies schrie das Mädchen. Hierauf begann sie merkwürdigerweise sich zu entschuldigen, weil sie so lange nicht mehr in den Katen gekommen war. Während alles dessen, was sie sprach, blickte sie über die Gräber hin.
„Ich war nie frei”, sagte sie. „Aber das ist es nicht. Ich konnte euch auch nichts mitbringen von Heim, ich hätte es selbst bezahlen müssen, und Boldt wollte alles sparen für das Geschäft. Jetzt ist das auch gleich.” Leise für sich wiederholte sie: „Auch gleich. Bezahlen” - als prägte sie sich die Worte ein.
Marie sah, daß Frieda noch schöner als Antje war, obwohl sie nur ein altes schwarzes Tuch um die Schultern trug. Aber Marie empfand Angst, sie gab vor, daß sie noch Holz sammeln müsse, und machte sich davon. Nachher tat es ihr leid, sie kehrte nochmals zu der Stelle zurück, da stand aber keine Frieda mehr.

Drei Tage später war Frieda tot. Marie erfuhr, was ihre Schwester getan hatte; aber seit der letzten Begegnung war ihr so viel durch den Kopf gegangen, daß sie schon selbst alles wußte. Mutter Lehning wanderte von dem entfernten Hof herbei, ihr Zorn war größer als ihr Schmerz. Sie ließ sich zu Marie über alles aus.

„Mit einer Stricknadel! Damit das Kind nicht kommt, und dabei sollten sie heiraten!”
,Sie hat sich ga nz schrecklich quälen müssen’, dachte Marie, ,bevor sie sterben konnte!’
„Dann hätte doch mal eine von uns ein besseres Leben gehabt!” sagte Mutter Lehning mit rauher Stimme.
Bei dem Begräbnis Friedas aber war das ganze Dorf, auch die Fischer, auch die Kaufleute und der Lehrer, der Pastor, der Arzt. Die Familie der Toten, so viele Kinder noch mitgehen konnten, drängte sich hinter dem Sarg zusammen, klein und erstaunt über das Ansehen, in dem ihre Frieda gestanden hatte. Ihnen folgten die guten Kleider, die guten Bratenröcke und der Zylinderhut, den jeder Älteste von seinem Vorgänger ererbt hatte. Als die Friedhofsmauer in Sicht kam, beugte Marie die Stirn und legte die Hände darüber - so, wie Frieda dagesessen hatte in jenem windgeschützten Winkel.

Sie mußte nicht sogleich wieder zur Schule gehen, auf einem Gang aber hörte sie die Kleinen drinnen singen, es war der Vers: „Lütt Matten gev Pot, de Voß bet em dot.” Hierbei dachte sie: ,Alles eins - bezahlen’, die letzten Worte ihrer Schwester. ,Mir aber ist, als würde es nichts’ - auch das fiel ihr wieder ein.