Aber halte die Ohren steif und vergiß nicht, daß Gott im Himmel keine Waise verläßt!«

Und nun kamen sie alle, der Reihe nach, schüttelten ihm die Hand und sagten ein paar Worte, meist ermahnenden Inhalts, stark zu sein; sie alle, von dem gelblichen Onkel Studier an bis zu dem dicken Hotelier Fritz Adam. Und keiner von ihnen allen sagte auch nur ein nettes Wort über Vater, der ihnen doch immer gefällig und hilfreich gewesen war, viel zu gefällig und viel zu hilfreich, dachte der Sechzehnjährige mit Erbitterung. Aber ich will nicht so gutmütig sein wie Vater, dachte er. Ich werde in meinem Leben stark und hart sein!

Sein Herz wurde gleich wieder weich, als nun nach all den Männern als einzige Frau die alte Minna am Grabe stand, Minna mit ihrem wie aus Holz geschnittenen Gesicht, die schon bei seiner Mutter gedient und ihn großgezogen, die jahraus, jahrein den heranwachsenden Sohn betreut hatte. Ein sanftes Gefühl machte ihn beben, als er sie so starr und tränenlos am Grabe stehen sah. Arme alte Minna, dachte er. Was wird nun aus dir? Sie umfaßte seine Hand mit einem Griff. »Mach schnell, daß du nach Hause kommst, Karl –«, flüsterte sie. »Du siehst schon ganz blau aus. Ich setze gleich was Warmes für dich auf!«

Nun gingen alle. Karl Siebrecht sah das Barett des Geistlichen schon nahe der Kirchhofspforte, ihm folgte in kleinem Abstande der Troß der Trauergäste. Alle hatten es eilig, aus dem eisigen Novemberwind zu kommen. »Nun mach schon zu, Karl!« drängte der Onkel Ernst Studier. »Deinem Vater ist auch nicht damit geholfen, daß wir hier stehen und frieren.«

»Recht hast du, Ernst!« stimmte der Hotelier Adam zu und setzte sich auf der anderen Seite Karl Siebrechts in Marsch. »Wir wollen sehen, daß wir rasch ins Warme kommen!«

Aber der Junge achtete gar nicht auf die lieblosen Worte der beiden. Ihm war es, als habe er hinter einem Grabstein etwas huschen sehen, nach dem Grabe des Vaters zu. Wirklich, es war Erika, seine kleine Nachbarin, die vierzehnjährige Tochter des Pastors Wedekind. Sie hatte sich heimlich zum Begräbnis geschlichen, und sie hätte doch in dieser Nachmittagsstunde im Handarbeitsunterricht sein müssen! Gute, kleine Erika – jetzt warf sie Blumen in das Grab …

»Was hast du denn, Karl?« rief der Onkel und hielt den Stolpernden. »Wo hast du denn deine Augen?«

»Süh mal süh«, sagte der Hotelier, und seine Augen waren vor heimlichem Vergnügen ganz klein geworden. »Ist das nicht Wedekinds Erika? Das sollte Pastor Wedekind wissen! Um deinen Vater ist die auch nicht hierhergekommen, Karl!«

»Das finde ich nicht hübsch von dir, Karl!« Onkel Ernst Studier führte den Jungen fast gewaltsam aus der Kirchhofspforte. »Am Begräbnistag deines lieben Vaters solltest du andere Dinge im Kopf haben! Und überhaupt: Du bist erst sechzehn, und sie kann kaum vierzehn sein …!«

»Was ihr auch immer gleich denkt!« rief der Junge zornig. »Wir sind nicht so, wie ihr – denkt!«

»Wir denken schon das Richtige – leider!« antwortete der Onkel streng. »Überhaupt, eine Pastorentochter steht viel zu hoch für dich«, erklärte er. »Du kannst froh sein, wenn dich irgendwer in die Lehre nimmt!«

»Das kannst du!« stimmte Adam zu. »Für einen Lehrling bist du mit deinen Sechzehn zu alt, und für die Schule ist kein Geld da!«

Aber Karl Siebrecht achtete nicht mehr auf ihr Geschwätz, er war nur froh, daß sie nicht mehr von Erika Wedekind sprachen. Mit Abneigung sah er auf die nüchternen Backsteinfassaden der märkischen Kleinstadt, auf die dürftigen Ladenauslagen der kleinen Krämer, wie der Onkel Ernst Studier einer war. Dreimal war er mit dem Vater in Berlin gewesen, immer nur auf ein paar Tage, aber doch hatte ihn die Großstadt bezaubert. Der Vater hätte gar nicht erst zu sagen brauchen: »Mach es nicht wie ich, Karl, setz dich nicht in einem solchen Nest fest. Alles wird klein und eng dort. Hier hat man Platz, hier kann man sich rühren.« Oh, er wollte sich rühren, die sollten ihn nicht halten können!

Vor dem Hotel »Hohenzollern« stand wartend ein ganzer Trupp der Leidtragenden.