Der Bocksbart, den ich schon in Dresden kultivierte, war
gewachsen, wie bei Garbers und so manchem Bildhauer und Maler
unseres Kreises. Die Kameradschaft, der ich mich angemengt, hatte
mir wohl etwas Landläufiges mitgeteilt – der
Thüringer Wald, wohin ich mich zunächst wandte, ebenso
wie meine Mutter, staunten nicht über solche Belanglosigkeit,
ich war mir übrigens gründlich gleichgeblieben, hatte
bitterwenig gelernt und gar nichts vergessen. Ich fuhr, als sollte
es nur immer so weiter gehen, fort, am Geisterroman zu schreiben,
trieb mich umher, hing wie ein frischer Schinken und räucherte
in der langsam garmachenden Zeit und bewies, da der Knüppel
beim Hund lag, eine gleichbleibende Hartnäckigkeit im
Beschicken von Redaktionen mit Zeichnungen, denn mein Geld war
verbraucht, und die Sorge, die ich selbst ernstlich nicht kannte,
begann meine Mutter zu beunruhigen. 1897 berief mich Garbers auf
vier Monate nach Paris zurück, um eine Figurengruppe mit
Faltenwürfen und Hand-, Kopf- und Fußdetails in meiner
schlecht überbietbaren Fingerfertigkeit zu versehen. Er
entgalt mir die Leistung nach Gebühr, und ich konnte wiederum
einige Zeit in Friedrichroda bleiben.
Ich fange an zu organisieren
Es begab sich irgendwann bei arglosem Hin- und Hertreiben eine
Abkehr vom unbedachten Hinnehmen jeder Zufallsform. Ich fiel
– wenigstens gelang das erst einmal, später nochmals und
am Ende nicht ganz selten – dem Erlesen zu, sei es einer
entschiedenen, starken, grotesken und lieblichen Form oder dem
nachspürenden Ahnen eines leisen, humorigen oder wüsten
Wertes hinter der Alltagsmaske. Zaghaft genug fing ich an
wegzulassen, was zur Stärkung einer unklar gewußten oder
gewollten Wirkung nicht beitragen konnte, war nicht mehr
schlechthin Dulder und Diener des sichtbaren Seins. Es unterlief
mir die Frechheit, es zu organisieren, wobei nun freilich die
Weiterfahrt oft genug stockte und ich nichts anderes vermochte, als
vom gedachten Organisieren in einen ornamentalen Schwung und
Schwall zu verfallen. Zwar hatte ich viel gesehen, aber es war
geschehen, ohne Schliff und Politur des Urteils und Gewissens zu
fördern.
Wie ich als Schüler mit Düsel durch das Stargarder Tor
in Neubrandenburg eingewandert kam und umschauend nicht mehr als
einen stumpfen Blick auf den Orgelsturm dieses
Architekturgefüges getan hatte, wie ich alte Dome und
Kathedralen, alles Edelste, was durch Bau an Majestät zur Welt
geboren war, vorwiegend als Rarität, als Brut- und
Nistgelegenheit für alle Arten von romantischer Vorstellung
oder als Anlaß zu empfindsamer Schwelgerei, als Nährboden
jedes Überschwangs ansah, so war das Verhalten des scheidenden
und erkennenden Ich vor der Natur bedauerlich infantil
geblieben.
In Friedrichroda noch fiel inmitten des pastoralen Ablaufs
der
Jahreszeiten Verzweiflung mich an, Marterung aus Unlust an mir
selbst und immer neues Gerichthalten und Verworfenwerden, wovon ich
gut tue, Einzelheiten zu verschweigen. Pest schlug meine
Getrostheit, es gab Bruch mit Behagen, und Vertrauen ins Sein ward
ein fragwürdiges Ding, das sich bequemen mußte zu
kuschen.
Auch der allgemeine Barlachsche Familientrost bekam Falten im
Gesicht und mußte seine jugendliche Glätte drangeben;
meine Brüder schlugen sich in Rußland oder Amerika durchs
Leben, Heil und Unheil jagten sie hin und her, die beiden
Jüngsten zerbrachen endlich an der Fremde, Hans kämpfte
sich hinauf, nur um desto furchtbarer zu stürzen.
Überhaupt kommt mir der fernere Wechsel von Zeit und Ort
immer mehr wie das Vorwärtsstürmen in einer heulenden
Unfaßlichkeit, wie Not und Drang zu gesolltem Wollen vor,
gegliedert durch Atempausen' der Stille und des Ruhens in Freiheit,
Dürfen und bewegtem Schweigen.
Ich komme ans Werk
Bis 1900 etwa blieben meine und Garbers' Nöte miteinander
verkettet. Ich experimentierte und suchte meinen Weg zwischen den
abgesteckten Grenzen seiner Aufträge im Hamburg-Altonaer
Felde. Wir gewannen in gemeinsamer Konkurrenz die Anwartschaft auf
ein Werk von plastischer Maßlosigkeit. Es handelte sich um die
Ausgestaltung des Rathausmarktes in der Umgebung des Schillingschen
Kaiserdenkmals, ein Sturm von wasserkantiger Unbändigkeit
sollte entfesselt werden. Aber wir waren geschäftsunkundige
und undiplomatische »djunge Leute« und wurden mit der
Begründung vom Plan der Vorgänge gewiesen, daß man
von plastischer Ausgestaltung der Anlage abzusehen durch
Beschluß der Kommission übergegangen sei. Als wir
dergestalt verblüfft vor der Tür standen, beschloß
man drinnen, den Beschluß aufzuheben, und übergab
Schilling unseren Gesamtplan, welcher Schilling unsern
Gesamtplan zur Hand nahm, leerte, verödete und glatt und reif
machte. Darüber ward ich fuchswild und verzog von Hamburg nach
Berlin. Später fütterte man uns mit einem Trost in einem
Auftrag für die Gestalt eines Neptun-Riesen auf dem
Gebäude der Hamburg-Amerika-Linie, ein zurechtgehadertes Ding
von grotesker Zusammenhanglosigkeit. Diesen letzten besinnungslosen
Ausfall will ich nicht ableugnen.
Als ich dann in Wedel niedersaß, einen bequemen Laden in
der Kuhstraße als Atelier bezogen, ein paar Grabplatten aus
stiller werdendem Gemüt bedächtig gefördert hatte,
als ich im Verborgenen ein Drama zu schreiben begann, war wohl
endlich ein Anfang zum Lassen des grenzenlosen Beliebens und
Gestaltung der überschätzten Absonderlichkeit
gemacht.
Karl Scheffler hatte als Kritiker während des kurzen
Berliner Aufenthalts einen Blick auf meine Arbeiten getan. Er
zuerst setzte sich für die Publikation einiger Zeichnungen und
Plastiken ein, die in der »Kunst für Alle« erschien,
mit Zusätzen seiner Feder, die mir den ersten Wink einer Hand
aus der suchend drängenden Zeit gaben, von der ich nicht
wußte, ob ich mit ihr oder weit seitwärts ihres Ganges
als zielgerichtetes oder lose in seiner Daseinsschicht
hängendes Treibstück hinflutete.
Mein Leben in Wedel ist wesentlich gezeichnet in dem Kapitel der
»Wedeler Tage« meines unfertig gebliebenen
Seespeck-Romans. Es war immer noch übervoll von Schwäche,
Irren, Maßlosigkeit und Verlorengehen an alles durchsichtig
Ungestaltbare, voll Ungegorenheit und doch immer lauterster
Hingebung an strömendes Geschehen und schwankende Weile. Auf
der breiten Elbe fand ich die weiteste Lust und die beseligendste
Selbsttäuschung.
Aber nachdem ich dann ein halbes Jahr als Lehrer an einer
rheinischen Fachschule für Keramik zwar tätig gewesen,
aber fruchtlos und unlustig, saß ich 1905 wieder in Berlin.
Hier gings nun allerdings heillos her; ich wußte, daß ich
in einer Hölle saß, und saß darin ringend um die
tagtägliche Überwindung des Bewußtwerdens
meiner ganzgänzlichen Überflüssigkeit.
Ich stellte eine kleine Bronze aus und ging, sie in der
großen Ausstellung zu sehen, doch war sie so gut verborgen,
daß ich sie nur schwer ausfindig machte – eine Halbheit,
kein voller Ton, nichts von dem, was ich als Mindestes zu sehen
erwartete: wenn auch nußgroß, so doch ein Stück
unbedingter und wenn nötig unbarmherziger
Selbstverständlichkeit. Als ich ihrer gewahr wurde, erlag ich
dem schwersten Überdruß an all diesem fruchtlosen
Mühen. So saß ich danach im Café Bauer und fand mich
im Dunkel des seitlichen Schiffes verborgen, unsichtbar, so recht
am gebührenden Platz, keiner Beachtung würdig und ihrer
kaum bedürftig. Es langte bei meinem Treiben mit dem
abhandengekommenen Mut sooft kaum zum Aufstehen, am liebsten
wäre ich um zehn Uhr früh schon wieder ins Bett geflohen,
ich wirtschaftete ab, und das Leben ebbte mit so starker
Strömung, als wollte es sich wie die Elbe beim Ostorkan
entleeren. Und doch hatte sich in diesen dunkelsten Zeiten ein
junges Leben auf den Weg gemacht, wie um meine Hand zu fassen und
mich in ein ansteigendes Dasein zurückzuleiten.
Es war also kein große Kunst, mich zur Reise nach
Rußland zu bestimmen, als mein Bruder Niko, damals
amerikamüde, mir bedeutete, ich hätte bis dann und dann
meinen Paß zu beschaffen, sonst ginge er ohne mich. Wir
reisten.
Ich finde freie Bahn
Schon als wir durch Warschau zum andern Bahnhof über die
Weichsel fuhren, schüttelte mich die Beglücktheit des
selig Erwachenden, der noch die Pein des mühsamen Sterbens
nicht vergessen hat – ich sah, daß das Feld schnittreif
meiner harrte.
Ich dachte: sieh, das ist außen wie innen, das ist alles
ohnemaßen wirklich. – Und trotz Fieber und endlosem
Bruderzwist fraß ich wie ein Gezücht und Landplage alle
Erscheinung von Stadt und Steppe in einen unersättlichen
Hungersack, in der Glut eines andern Fiebers, einer Angestecktheit
nicht durchs Klima, sondern aus unheilbarem Verfallensein, für
das ich bis zur Wehrlosigkeit zugerichtet war.
Hockende Bettlerin, Holzschnitt, 1918
Motiv aus den russischen Taschenbüchern von 1906
10,2 X 7,9 cm
Aus der Folge zu Reinhold von Walters Gedicht »Der
Kopf«,
Blatt 7 Verlag Paul Cassirer, Berlin 1919
Nichts Fremdes oder Bestürzendes – alles war mir wie
lang vertraute Kunde, aufgeschlossen, preisgegeben, widerstandslos
meinem Gefallen und Belieben erbötig.
Ich finde es überflüssig, mich gegen die Legende zu
wenden, daß ich »erst durch Rußland« zum
plastischen Ausdruck geführt sei – oder wie man sowas
sonst formuliert hat. Die Tatsache besteht, daß die
Wirklichkeit für mein Auge plastische Wirklichkeit war und
daß ich mein bisher unbefriedigtes Bedürfnis mit mir
heranführte, Bereitschaft und Fähigkeit zum Sehen nicht
der andern, sondern der plastischen Werte. Rußland gab mir
seine Gestalten, aber freilich und vermutlich bin ich nicht ohne
Anteil an dem Sosein des endlichen Ausfalls, denn als ich
zurückkehrte und die ersten beiden Bettler, diese Bettler, die
mir Symbole für die menschliche Situation in ihrer
Blöße zwischen Himmel und Erde waren, in Friedenau im
alten Stübchen anlegte, drang der alte Zweifel zu: wird das
nun auch endlich wirklich Plastik oder wieder Modellierarbeit?
Restlich mußte doch nicht schlecht gekämpft werden, und
der Dumme mag glauben, daß die in Rußland gewonnene Form
aus der reichen Hand beiläufig und trinkgeldmäßig in
meine arme gelegt sei.
Form – bloß Form? – Nein, die unerhörte
Erkenntnis ging mir auf, die lautete: du darfst alles Deinige, das
Äußerste, das Innerste, Gebärde der Frömmigkeit
und Ungebärde der Wut, ohne Scheu wagen, denn für alles,
heiße es höllisches Paradies oder paradiesische
Hölle, gibt es einen Ausdruck, wie denn wohl in Rußland
eines oder beides verwirklicht ist.
Als ich heimkehrte, konnte ich meinen Sohn sehen, und
während ich am ersten Tonbilde arbeitete, machte ich mich an
das Drama vom »Toten Tag«.
Im Frühjahr 1907 stellte ich zwei von Mutz gebrannte
Terrakotten in der Berliner Secession aus.
Es gab ein Aufatmen in meinem Gemüt und einen hübschen
kleinen Tumult in meinem Kopfe, als ich mit zwei solchen
Püppchen, wie die feiste Bettlerin und der betend
lamentierende blinde Bettler waren, den Beifall eines halben
Dutzend Männer fand, deren Urteil ich nur zu gerne als
unzweifelhaft verläßlich ansah. Der über alle
Maßen selbstlose August Gaul zeigte fast mehr Freude über
diesen Anfang, als ich selbst haben konnte.
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