Wir dursteten so tapfer,
wie wir kameradschaftlich hungerten, aber wir fanden es
läßlich, gelegentlich beim nächsten Tage eine
Anleihe zu machen, für den wir uns gegenseitig doppelt
tapferes Dursten und Hungern garantierten. Doch am Ende erkannten
wir diese Tapferkeit als unwirtschaftlich, sie sollte die Pariser
Zeit strecken und mit ihrer Länge unser Können fett
machen, aber sie kümmerte sich nicht ums Können, sondern
fraß unsere Kräfte. Für Garbers entfiel
überdies beim Aufgang von neuem Verdienstglück aus
Hamburg die Notwendigkeit strenger Lebensordnung, er blieb bei
Bofinger, ich mietete im Süden ein gartenwärts
idyllisch-kleinstädtisch gelegenes Atelier. Da hockte ich,
versorgte selbst den Tisch in meinem Haushalt, den ich alt für
fünfzig Francs gekauft, ungerechnet der zahllosen Wanzen,
rauchte langstielige Kalkpfeifen, zeichnete und schrieb und
traf Garbers zu Abend im Café. Nun hatte dieser Garbers immer
die Narrheit gehabt, mich für einen richtigen Bildhauer zu
halten, wo ich doch offenbar im ganzen ein braver Sonstjemand war,
etwa ein Genie im Finden von Erfreulichkeiten zwischen den Zeilen,
ein bißchen oder gar nicht wenig Eulenspiegel, bei andauernd
guter Führung vielleicht einst ein richtiger Zeichner –
was wußte ich! Er fand aber meine Anfänge in den
»Fliegenden Blättern« triste, eben ein Bildhauer
wäre ich, so ließ er nicht ab zu behaupten. Selbst ein
mehr gehauchtes als körperlich dingliches Relief, eine
Hannele-Vorstellung von engelhafter Rast auf Wolkenwegen, machte
ihn nicht irre – nur auf das Schreiben sah er scheel und
erschrak, als ich eines Abends beichtete, daß ich den ganzen
Tag »gedichtet« hätte – ich hatte aber nur die
Ritzen in meines dünnwandigen Ateliers Seitenluke vor der
nahenden Kälte dicht gemacht.
Es hat nicht lange gewährt, da entwöhnte ich mich des
Fremdseins und nahm willig die Nahrung an, die Paris mir bot.
Es wird mir leicht, Vertrauen zu fassen, und ich fühlte
mich bald am rechten Ort zwischen Straßen, Plätzen, Ufern
und herrlich gefaßten Weiten. Wie die Strömung des
gedehnten Raums, die denk- und schaubar gemachte Ungestalt der vier
Windrichtungen, wie die Leere, die durch Begrenzung Fülle
wird, mich einsogen und anglichen, so geschah es im Geklüft
des Louvre, das mich verschlang und tage-, wochen-, monatelang
behielt. Ich ging da um wie der unvermeidliche Hausgeist,
eingefleischt, zugehörig und des Dings gewohnt wie eine Ratte
ihres Lochs, oft nur eines Bewußtseins, »heim« zu
sein, froh.
Ich schrieb damals etwas wie einen Geisterroman, indem ich zwei
symbolische Gestalten miteinander ziehen und, nun eben in Paris,
abenteuern ließ. Zuviel Schnurrigkeit, absonderliches
Überschlagen aus der Alltäglichkeit ins Märchenhafte
und in Traumwillkür, kleinmäßig zufrieden
schwelgende Gemütlichkeit mögen seine Hauptfehler gewesen
sein. Ich sah eben trotz oft beliebter Grämlichkeit doch nicht
sauer ins Leben und vermochte nichts anderes als
gutgläubiges Behagen an der Welt auszusprechen, wo ich mirs
doch in ihren traumhaften und gespenstischen Winkeln wohl sein
ließ.
Solch ein Winkel war das Gärtchen, um das die Ateliers und
Zimmerchen des Osbertschen Grundstücks sich legten. Da wohnte
schrägüber der Dichter Degron, der von Verlaine nur als
vom »maître« sprach, mit seinem Weibchen, klimperte
aus seiner Ecke zur Nacht auf der Zupfgeige, ließ durch die
Spalten des Laubwerkes ein paar Strählchen seiner Lampe mit
den ebenso dünnen Tönen zu mir schlüpfen und klopfte
gar eines lauschigen Abends an meine Tür. Monsieur besaß
ein paar Franken, die aber im Augenblick nicht zur Hand waren und
doch benötigt wurden, und siehe, wie gut, daß er mir
solches nicht verschwieg – so bahnte sich ein nachbarliches
Vertrauen an.
Linker Hand, zwischen den Degronschen und Barlachschen Winkeln,
wohnte der Vlame Koos mit seinem Rubensschen Weibe. Er hatte
Einkommen, half dem hinfälligen Puvis de Chavannes beim
Auswiegen, Austragen und Ausführen seiner Werke und gesellte
sich gerne zu uns, wenn Garbers, ich und andere Deutsche beim Bier
saßen.
Dann suchte mich Osbert, unser aller Hauswirt, Führer der
»Artistes de l'âme«, inmitten meines Gerumpels auf
und wiegte seinen normannischen Piratenkopf über meinen
Blättern hin und her. »Tres philosophique«,
entschied er und wollte mich als Artiste de l'âme damit gelobt
haben. Voll freier Form, aber eben doch übervoll, von
gelenkiger Liebenswürdigkeit und knapp übertünchter
Schwäche, war er doch ein starker Gatte seiner, im Gegensatz
zu den beiden andern, ehelich verbundenen Frau. In seinem
weiträumigen Atelier fand ich mich zu den Mittwochabenden ein
und hörte Degron und wer sonst zusprach ihre Verse sagen, und
zwar deklamierten sie hinter dem Wandschirm hervor, da alsdann der
Wohllaut, zur Decke gedrängt, sich in schönem Bogen als
breite Welle auf die Zuhörer niedersenkte.
Taschenbuchblatt aus Paris, Kohlezeichnung,
1895
Besitzverhältnisse unbekannt
Abb.: Cicerone, Leipzig 1929, Heft 7, S. 194
Im ganzen war mit Degron, einem gut proportionierten
Männlein, dem man wohl anzusehen meinte, was man von ihm
erzählte, nämlich, daß er von Mutterseite Siamese
sei, am bequemsten zu verkehren. Er führte mich hinab in das
unterirdische Paris und zeigte sich in den
»Verbrecherlöchern« heimisch, wo arme Schlucker
genug herumsaßen, an denen vielleicht mehr verbrochen war, als
sie verbrechen konnten. Er blieb das ganze Jahr über der
Gleiche, es hatte einmal so begonnen, daß ich für die so
oft abwesenden Francs aufkam – warum solche Gewohnheit
ändern? Darüber waren wir einig, es genügte
durchaus, daß die Ordnung der Dinge hin und wieder als Sache
der Zukunft im Neben- oder Nachsatz der Unterhaltung abgetan
wurde.
Wie konnten mir die lebenden Meister in meinem einstweilen ganz
getrosten Irregehen helfen? Vor allem Rodin? Zu wenig sah ich von
ihm, und dies Wenige vermochte nichts über mich, ich suchte
auch kaum, so eifrig ich mich umtat und mit soviel gutem Glauben
ich durch die Säle und über die Plätze ambulierte,
nach Anhalt, Fingerzeig oder Vorbild. Es lebte sich gar zu
schön als Frischling schnüffelnd und schmausend im wilden
Wald!
Hinter Menschen war ich drein mit dem Blei und ebenso hinter
allem sonst, was sich als organisierte Masse oder Unform am Wege
fand. Vielleicht dürfte man sagen, daß ich mich im
Schatten des Zeichners Steinlen benagte, wenn es nicht richtiger
wäre, daß ich überhaupt kein Heil darin sah, mir
etwas vormachen zu lassen. Es ging hier wie im Thieleschen Atelier,
wo der Gehilfe Hartmann sich meiner erbarmte und mir das
übliche Verfahren beim Modellieren eines Puttos gutmütig
demonstrieren wollte. Er tat sein Bestes, aber ich schaute zum
Fenster hinaus.
Ich weiß nicht einmal, ob ich in Paris wirklich keinen
einzigen Daumier zu Gesichte bekommen habe, oder ob er mir, da dies
wohl unmöglich, nicht bei voller Wirklichkeit als ähnlich
elefantenhafter Schemen vorüberstrich, dem ich begegnete, als
ein Menagerietier bei dunkler Nacht durch die leere Straße
geführt wurde. Da hob sich umgrenzte Verdichtung aus der
über nichts seufzenden Späte, nahte und verschwamm zu
meiner Linken, ein Ungetüm und Leisetreter, eine
königlich gleitende Mächtigkeit auf demselben Steig mit
mir, immer auf Sohlen der Leichtigkeit und Heiterkeit schleifend,
schlürfend, schwebend. Gewalt – und doch dem Auge
verhangen, dem Gefühl unoffenbart, das Ohr nur streichelnd und
ihm entweichend. Es war zwischen drei und vier Uhr, ich kam aus dem
Garbersschen Atelier, denn es galt die kurzbefristete Lieferung
eines Ausbundes von Weinhebe für den Hamburger Ratskeller,
kokett und sehr sittsam, weinselig und brav – wir mußten
die Nacht zu Hilfe nehmen.
So, nach geschnapptem Abendbrot und sobald die fälligen
Sous durch meine täglich bewährte Unanstelligkeit im
Spiel verloren waren, hob der Wettlauf mit der weit
vorgeschrittenen Zeit an. Der eine schlief, der andere schuf, der
eine schuf, der andere schlief. Gegen Morgen zog ich zur totesten
Stunde vom tröpfelnd feuchten Herbst bespuckt heim. Es ging
uns damals mit der Mark wie Degron mit dem Franc, je weiter die
Arbeit vorankam, desto bürgerlicher hätten wir essen
können, wenn der abgearbeitete Teil des Honorars zur Hand
gewesen wäre. So hielten wir uns nach Eingang des Geldes an
billigen Austern schadlos und vermeinten, wunder wie zu
schlampampen.
Paris entließ mich im Frühling 1896 ein bißchen
frisiert.
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