Dann legte er seinen Arm aufs neue in die Lederschlinge und machte sich Gedanken über die beiden schlummernden Gestalten, bis zuletzt sein Geist wieder von ihnen abkam und abermals sich in die Bank und zu dem Grabe verirrte.
›Wie lange schon begraben?‹
›Fast achtzehn Jahre.‹
›Hattet Ihr alle Hoffnung aufgegeben, ausgegraben zu werden?‹
›Längst.‹
Diese Worte dröhnten noch so deutlich in seinen Ohren wie nur irgendein wirklich gesprochenes Wort, als der müde Reisende zu dem Bewußtsein erwachte, daß es Tag und die Schatten der Nacht dahin seien.
Er ließ das Fenster herunter und schaute nach der aufgehenden Sonne hinaus. Da war ein Strich umgepflügten Landes und der Pflug noch an derselben Stelle, wo man am Abend zuvor die Pferde ausgespannt hatte, auf dem Acker. Jenseits sah man ein Buschwäldchen, in dem noch viele Blätter von brennendem Rot oder goldigem Gelb an den Zweigen zitterten. Die Erde war kalt und feucht, der Himmel aber klar, und die Sonne erhob sich in ruhiger Pracht.
»Achtzehn Jahre!« sagte der Passagier, zur Sonne aufblickend. »Barmherziger Schöpfer des Tages! Achtzehn Jahre lang lebendig begraben zu sein!«
Viertes Kapitel
Die Vorbereitung
Als der Postwagen im Laufe des Vormittags glücklich Dover erreichte, öffnete wie gewöhnlich der Oberkellner des Hotels König Georg den Kutschenschlag. Er tat es mit einem gewissen zeremoniösen Schnörkel, denn im Winter war eine Postreise von London her ein Unternehmen, zu dessen Vollbringung man einen wagehalsigen Reisenden wohl beglückwünschen konnte.
Diesmal galt die Gratulation nur einem einzigen Passagier, denn die zwei anderen hatten sich unterwegs an ihren Bestimmungsorten absetzen lassen. Das moderige Innere des Wagens mit seinem nassen, schmutzigen Stroh, dem widerlichen Geruch und seiner Dunkelheit nahm sich ungefähr wie ein großer Hundestall aus, während Mr. Lorry, der Passagier, als er sich aus dem Loch und aus den Strohfesseln herausschüttelte, mit den dichten zottigen Umhüllungen, dem niederhängenden Hutrande und den bespritzten Beinen den dazugehörigen Hund vorstellen konnte.
»Geht morgen ein Schiff nach Calais, Kellner?«
»Ja, Sir, wenn das Wetter aushält und der Wind sich ordentlich macht. Die Flut wird nachmittags zwei Uhr der Ausfahrt zustatten kommen. Bett, Sir?«
»Das werde ich heute nacht nicht brauchen. Aber gebt mir ein Schlafzimmer und schickt mir einen Barbier.«
»Und ein Frühstück, Sir? Ja, Sir. Hier hinauf, Sir, wenn's beliebt! Führt den Herrn ins Concord! Den Reisesack des Gentlemans und heißes Wasser ins Concord! Zieht im Concord dem Gentleman die Stiefel aus! Ihr werdet ein schönes Steinkohlenfeuer finden, Sir! Schickt den Barbier nach dem Concord! Hurtig da, nach dem Concord!«
Das Concordzimmer wurde immer den Postreisenden angewiesen, und in Anbetracht des Umstandes, daß die Postpassagiere vom Kopf bis zu den Füßen eingemummt anzukommen pflegten, konnte man die interessante Wahrnehmung machen, daß nur eine einzige Art von Menschen hineinzugehen schien, während doch die allerverschiedensten wieder heraustraten. So kam es, daß ein anderer Kellner, zwei Portiers, mehrere Dienstmädchen und die Wirtin, die sich zufällig an verschiedenen Stellen des Wegs zwischen dem Concord- und dem Kaffeezimmer aufhielten, einen Gentleman von etwa Sechzig in einem förmlichen, zwar ziemlich verbrauchten, aber doch gut erhaltenen braunen Anzug mit breiten Armelaufschlägen und großen Taschenpatten auftauchen sahen, der hinunterging, um sein Frühstück einzunehmen.
An diesem Vormittag gab es im Kaffeezimmer keinen anderen Gast als den Gentleman in Braun. Der Frühstückstisch war vor den Kamin gerückt, und als der Fremde in der vollen Beleuchtung des Feuers dasaß und der Bedienung harrte, verhielt er sich so regungslos, als sei er im Begriff, sich porträtieren zu lassen. Die Hände auf die Knie gelegt, sah er sehr regelmäßig und ordentlich aus, und eine laute Uhr tickte in der Pattentasche der Weste eine helltönende Predigt, als wolle sie ihre Würde und ihr hohes Alter gegen den Leichtsinn und die rasche Vergänglichkeit der lodernden Flamme behaupten. Er hatte einen hübschen Fuß und war ein bißchen eitel darauf, denn die braunen Strümpfe vom feinsten Gewebe lagen glatt und knapp an, und auch seine Schnallenschuhe nahmen sich trotz ihrer Einfachheit recht sauber aus. Eine flachsfarbige Perücke mit kurzem krausem Haar, das jedoch eher aus Seiden- oder Glasfäden als aus natürlichen Haaren zu bestehen schien, bedeckte seinen Kopf. Die Leinwand entsprach an Feinheit allerdings nicht den Strümpfen, war aber so weiß wie der Schaum der Wellen, die sich am nahen Ufer brachen, oder wie die von der Sonne beleuchteten Reusenpunkte weit draußen in der See. Ein gewöhnlich ruhiges und beherrschtes Gesicht wurde unter der wunderlichen Perücke durch ein Paar feuchte klare Augen erhellt, mit denen ihr Eigentümer wohl manche Not gehabt haben mochte, bis sie im Lauf der Jahre an den zurückhaltenden und gemessenen Ausdruck von Tellsons Bank gewöhnt waren. Auf seinen Wangen lag ein frisches Rot, und sein furchiges Antlitz trug nur wenige Spuren der Sorge. Nun, vielleicht hatten die unverheirateten Kontoristen in Tellsons Bank hauptsächlich mit den Sorgen anderer Leute, mit Sorgen aus zweiter Hand zu tun, die wahrscheinlich wie die Kleider aus zweiter Hand schneller ein Ende nehmen.
Um das Bild des Mannes, der einem Porträtmaler sitzt, vollständig zu machen, schlummerte Mr. Lorry endlich ein. Die Ankunft des Frühstücks weckte ihn wieder. Als er seinen Stuhl an den Tisch rückte, sagte er zu dem Kellner:
»Ich wünsche, daß Ihr Vorbereitungen trefft für die Aufnahme eines jungen Frauenzimmers, das heute noch hier ankommen wird. Sie fragt vielleicht nach Mr. Jarvis Lorry, vielleicht auch einfach nach einem Herrn von Tellsons Bank. Habt die Güte, mich von ihrer Ankunft in Kenntnis zu setzen.«
»Ja, Sir. Tellsons Bank in London, Sir?«
»Ja.«
»Ja, Sir. Die Herren Reisenden dieses Hauses beehren uns auf dem Hin- und Herweg von London nach Paris oft mit ihrem Zuspruch, Sir. Tellson und Kompanie läßt mächtig viel reisen, Sir.«
»Ja.
1 comment