Wir sind ebensogut ein französisches wie ein englisches Bankhaus.«
»Ja, Sir. Ihr selbst aber seid wohl an das Reisen nicht sehr gewöhnt, Sir?«
»In letzter Zeit nicht mehr. Es ist schon fünfzehn Jahre her, seit wir … seit ich meine letzte Reise nach Frankreich machte.«
»Wirklich, Sir? Nun, damals war ich noch nicht im Hause, auch mein Prinzipal noch nicht, Sir. Der ›Georg‹ befand sich zu jener Zeit in anderen Händen, Sir.«
»Ganz recht.«
»Aber ich wollte eine schöne Wette darauf eingehen, Sir, daß ein Haus wie das von Tellson und Kompanie, ich will nicht sagen, nur vor fünfzehn, sondern schon vor fünfzig Jahren florierte.«
»Ihr könnt die Zahl dreifach nehmen und hundertfünfzig sagen, ohne sehr gegen die Wahrheit zu verstoßen.«
»Wirklich, Sir?«
Und Augen und Mund weit aufsperrend, trat der Kellner von dem Tische zurück, warf seine Serviette vom rechten unter den linken Arm, nahm eine gemütliche Haltung an und betrachtete den Gast, während dieser aß und trank, wie von einem Wachtturm oder einer Sternwarte aus, nach dem würdigen Brauch der Kellner in allen Jahrhunderten.
Nach Beendigung des Frühstücks erhob sich Mr. Lorry, um einen Spaziergang am Strande zu machen. Die kleine, schmale winkelige Stadt Dover hielt sich vom Strande fern und verbarg als ein Vogel Strauß der See ihren Kopf in den Kalksteinklippen. Das Gestade war eine Wüste, in der Wasser und Steine sich untereinander tummelten; die See tat, was sie mochte, und ihr Lieblingsgeschäft war Zerstören. Sie donnerte gegen die Stadt, donnerte gegen die Klippen und hauste wie toll an der Küste. Die Luft um die Häuser her hatte einen so starken Fischgeruch, daß man hätte meinen sollen, kranke Fische badeten darin, wie die kranken Menschen im Wasser drunten zu baden pflegten. In dem Hafen wurde etwas Fischerei betrieben; doch diente er noch weit mehr solchen Spaziergängern zum Tummelplatz, die nachts, namentlich um die Zeit der Fluthöhe, eifrig aufs Meer hinausspähten. Kleine Kaufleute ohne Geschäft kamen oft auf eine unerklärliche Weise zu großem Vermögen, und es war merkwürdig, daß in der ganzen Nachbarschaft niemand den Laternenanzünder ausstehen konnte.
Es wurde Nachmittag, und die Luft, die mitunter so klar gewesen war, daß man die französische Küste sehen konnte, füllte sich aufs neue mit Dunst und Nebel. Auch Mr. Lorrys Gedanken schienen sich zu umwölken. Als er nach Einbruch der Dunkelheit neben dem Kamin des Kaffeezimmers saß und wie am Morgen auf das Frühstück so jetzt auf die Hauptmahlzeit wartete, beschäftigte sich sein Geist emsig damit, in den rotglühenden Kohlen zu graben und zu graben und zu graben.
Eine Flasche guten Rotweins nach dem Essen konnte einem Kohlengräber bei so heißer Arbeit nicht schaden, weil sie höchstens dazu diente, ihm das Geschäft ein wenig zu verleiden. Mr. Lorry war schon geraume Zeit müßig gewesen und hatte eben mit einer so vollkommen befriedigten Miene, wie man sie nur bei einem ältlichen Gentleman mit frischer Gesichtsfarbe am Schluß einer Flasche finden kann, das letzte Glas eingeschenkt, als sich von der engen Straße her das Gerassel eines Wagens vernehmen ließ, der bald darauf in den Hof des Gasthauses einfuhr.
Er setzte das Glas unberührt wieder auf den Tisch und sagte zu sich selber: ›Das ist die Mamsell.‹
Einige Minuten später trat der Kellner ein, um zu melden, daß Miß Manette von London angelangt sei und sich darauf freue, den Gentleman von Tellsons zu empfangen.
»Schon?«
Miß Manette hatte unterwegs einige Erfrischungen zu sich genommen und brauchte für den Augenblick nichts, brannte aber vor Begier, den Gentleman von Tellsons sogleich bei sich zu sehen, wofern es ihm gelegen und nicht unangenehm sei.
So blieb dem Gentleman von Tellsons keine andere Wahl, als mit einer Miene stumpfer Verzweiflung sein Glas zu leeren, sein wunderliches Flachsperücklein zurechtzurücken und dem Kellner nach Miß Manettes Zimmer zu folgen. Es war ein großes dunkles Gemach mit schwarzen Roßhaarmöbeln und schweren dunkelfarbigen Tischen, so daß man an eine Trauerparade gemahnt wurde. Man hatte die Tische so lange geölt und geölt, bis die zwei hohen Lichter der mittleren Tafel auf jeder Tischplatte düster widerstrahlten, als seien sie tief in das schwarze Mahagoniholz eingesenkt und als könne kein annehmbares Licht von ihnen erlangt werden, ehe sie ausgegraben wären.
Es war so dunkel, daß Mr. Lorry, der sich durch den abgenutzten türkischen Teppichläufer leiten ließ, schon glaubte, Miß Manette sei für einen Augenblick in das anstoßende Zimmer getreten. Als er aber die zwei hohen Kerzen hinter sich hatte, bemerkte er neben dem Tische zwischen diesem und dem Kamin, zu seinem Empfang bereit, eine junge Dame von nicht mehr als siebzehn Jahren in einem Reitmantel, die den Reisestrohhut am Bande in der Hand hielt. Seine Augen ruhten auf einer kleinen, schmächtigen, hübschen Figur, einer Fülle goldenen Haars, einem Augenpaar, das dem seinigen mit fragenden Blicken begegnete, und einer Stirn, die die bei solcher Jugend und Glätte befremdliche Eigenschaft besaß, durch Heben und Zusammenziehen der Brauen einen Ausdruck anzunehmen, der nicht gerade ein Anzeichen von Verwirrung, von Staunen, von Unruhe oder auch nur von gespannter Aufmerksamkeit genannt werden konnte, wohl aber etwas von allen diesen vier Affekten in sich faßte. Während nun seine Blicke auf diesem Bilde hafteten, fiel ihm plötzlich die lebhafte Ähnlichkeit mit einem Kinde auf, das er bei einer Fahrt über den Kanal von Dover bei kaltem Hagelwetter und hochgehender See in den Armen gehabt hatte. Die Erinnerung war jedoch nur flüchtig und einem Hauche auf der Oberfläche des einzigen Pfeilerspiegels ähnlich, auf dessen Rahmen eine Spitalprozession von verkrüppelten und kopflosen schwarzen Genien einer Versammlung von schwarzen weiblichen Gottheiten in schwarzen Körben Früchte vom Toten Meer darbrachte. Er machte Miß Manette eine förmliche Verbeugung.
»Ich bitte, nehmt Platz, Sir«, begann eine sehr helle und angenehme junge Stimme mit einem ganz leichten Anflug von ausländischem Akzent.
»Ich küß Euch die Hand, Miß«, sagte Mr. Lorry mit den Manieren einer älteren Generation, während er nach einer abermaligen förmlichen Verbeugung seinen Sitz einnahm.
»Ich habe gestern von der Bank einen Brief erhalten, der von einer Neuigkeit oder einer Entdeckung spricht …«
»Das Wort ist nicht wesentlich, Miß; Ihr könnt es so oder so nennen.«
»Es handelt sich um das kleine Eigentum meines Vaters, den ich nie sah und der schon so lange tot ist.«
Mr. Lorry rückte auf seinem Stuhl und warf einen ängstlichen Blick auf die Spitalprozession der schwarzen Genien. Als ob sie für irgend jemand Hilfe bringen könnten in ihren abgeschmackten Körben!
»Es soll dadurch notwendig werden, daß ich nach Paris reise und dort gemeinschaftlich handle mit einem Herrn, der ausdrücklich wegen dieser Angelegenheit nach Paris geschickt worden sei.«
»Der bin ich.«
»Das habe ich erwartet, Sir.«
Sie machte einen Knicks vor ihm (damals knicksten die jungen Frauenzimmer noch), um ihm damit zu verstehen zu geben, daß sie fühle, um wieviel älter und weiser er sei. Und er verbeugte sich abermals.
»Ich habe darauf der Bank geantwortet, Sir, wenn meinen sachverständigen freundlichen Beratern meine Reise nach Paris nötig erscheine, so werde ich als eine Waise, die keinen Verwandten hat, der sie begleiten kann, mich glücklich schätzen, dieser Notwendigkeit unter dem Schutz des würdigen Herrn nachzukommen. Der Gentleman hatte zwar London schon verlassen; aber ich glaube, es ist ihm ein Bote nachgeschickt worden mit der Bitte, er möchte die Güte haben, mich hier zu erwarten.«
»Ich bin so glücklich gewesen, mit diesem Dienst betraut zu werden«, erwiderte Mr. Lorry.
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