Es war ihm »angetan«; selbst Gott der Herr, der doch alle Dinge gemacht hatte, konnte ihm kaum noch helfen.

Wahrlich lag auf dem Pfarrherrn Friedemann Leutenbacher ein Zauber, und ein gewaltiger! Je mehr seine Nachbarn im Elend, seine Pfarrkinder, sich mit Scheu und Abscheu von dem Wesen im Walde abwendeten, desto mehr und heftiger fühlte er sich dazu hingezogen, und wenn solches ein Zauber war, so war es doch kein Wunder.

Der Pfarrer im Elend hatte, im Gegensatz zu seiner Zeit, immerdar aufs innigste mit der Natur verkehrt; der Arme hatte ja aus seinem und seiner Umgebung Jammer nie eine andere Zufluchtsstätte gehabt als den Wald, und wenn er wenig wußte von der gelehrten Kunst, jedes schöne Leben in Forst und Feld zu zergliedern und bei seinem lateinischen oder griechischen Namen zu nennen, so hielt er sich an die Namen, die Adam den Dingen gegeben, und ließ sie in jedweder Stimmung nach Adams Weise auf sich wirken. Er sah die Zeiten des Jahres – er sah den Nebel, den Regen, den Schnee, den Sonnen- und Mondenschein kommen und gehen. Er lehnte am knorrigen Stamme der Eiche im Schatten und blickte in das glänzende Land, dessen Brand- und Blutstätten, dessen verwüstete Felder und Fluren in der allgemeinen Schönheit, welche der Mensch der Erde, seinem theatro, nimmer zu nehmen vermag, verschwanden und untergingen. Er lag den sonnigen Tag über im Gras am Bergeshang und blickte über die schwarzen Lettern seines Neuen Testamentes in die geheimnisvolle Finsternis seines Tannenwaldes und hörte die Tannen leise singen im Hauch des Windes. Weithin war er mit seiner Gegend vertraut, und jeden Fels und Stein, jeden Quell, jeden dunkelklaren Weiher im Forst kannte er und kam zu ihnen, mit ihnen zu verkehren wie mit Freunden und Verwandten – heute mit diesem, morgen mit dem, wie sein Herz und die bange oder leichtere Stimmung des Tages ihn trieben. Den dritten Teil seiner Predigten verfertigte er im Walde – er trug seine Seele hinein und gab sie ihm.

Aber wenn der Mensch seine Seele gibt, so muß er auch eine Seele wieder empfangen, wenn sich nicht der hohe Segen zum bittersten Unheil verkehren soll, und es ist einerlei, ob die Seele einem Weibe, einer Dichtung oder einem großen Werk und Plan zum Besten der Bruder des Erdentages gegeben werde. Nun war der Wald nur schön, erhaben, lieblich, feierlich: eine Seele hatte er nicht wiederzugeben, wie das Weib, wie die grau gefärbte Tafel, wie das arme Blatt weißen Papieres. Einsam blieb der Pfarrherr Friedemann Leutenbacher im Schatten wie im Sonnenschein; selbst die Schönheit, Milde und Lieblichkeit der Natur mußten erdrückend werden.

Seit langen Jahren wagte Friedemann nicht mehr, das Echo mit seiner Stimme zu lustigem Gegenruf zu erwecken; er fürchtete sich vor der Stimme des Waldes, die seiner Verlassenheit spottete. Oft fuhr er schaudernd zurück vor seinem Bild im Quell oder im dunkeln, geheimnisvollen Waldteich; oft fuhr er erschreckt zusammen, wenn plötzlich fern der Wind sich erhob, über die Wipfel fuhr und sie mit dem Saum seines Gewandes geisterhaft streifte. Dem Pfarrherrn von Wallrode fröstelte oft in der heißesten Glut; des Juli auf dem sonnigsten Wiesenflecke, und der Duft, welchen der wolkenlose Sommermittag den Tannen und Fichten entlockte und der, wenn man nicht einsam ist, berauschend wie junger Wein wirkt, füllte ihm Herz und Hirn mit so jäher Angst und unsäglicher Beklemmung, daß er aus dem Bereich desselben im Lauf entfliehen mußte, um dann, atmend im freien Felde stehend, die pochenden Schläfen mit der Hand zu drücken.

Weil dem Walde die Seele fehlte und weil Undine, die sich nach einer Seele sehnte, nur ein schönes Märchen ist, konnte der Pfarrherr von Wallrode im Elend nur den dritten Teil seiner Predigten im Walde machen. Das erbarmungswürdige, halb tierische Leben um seine leere, halbzertrümmerte Behausung her hatte doch wieder mehr dafür zu gehen als die Natur. Als nun von dem Frühling des Jahres sechzehnhundertsiebenunddreißig an dem Walde eine Seele wuchs, da huben für den Pfarrer im Elend das Wunder und der Zauber an.

Den Herbst und Winter des Jahres sechsunddreißig hindurch hatte der Magister Konrad jeden Verkehr mit dem Pfarrherrn schroff und mißtrauisch von sich gewiesen, und scheu, selber halb furchtsam, hatte Ehrn Friedemann Leutenbacher, dessen Grüße kaum erwidert wurden, die Gegend der hohen Tanne gemieden und seine Schritte nach andern Richtungen gelenkt. Aber gegen Ende des Frühlings siebenunddreißig trat eines Abends, als die Sonne dem westlichen Horizont schon ziemlich nahe war, der fremde Mann dem Geistlichen jach in den Weg, grüßte ihn zum ersten Male höflich, wenn auch finster, und fragte ihn, ob er nicht eine Stelle wisse und kundgeben wolle, wo das Kräutlein Hypericum, sonsten Auch Sankt-Johannis-Kraut genannt, in guter Menge wachse und zu finden sei. Er mußte seine Frage eindringlicher wiederholen; denn so verwundert war der Pfarrherr über das plötzliche Entgegentreten aus dem Gebüsch und das Anreden, daß er des Fremden Meinung zuerst ganz und gar überhörte. Wohl aber wußte er, wo Gott ein jegliches heilkräftig, gesund, balsamisch oder giftig Kräutlein in seinem Walde wachsen ließ – sei es in der Sonne, sei's im Schatten, sei's am Felsgestein, sei's am Quell. Auch das Kraut Hypericum kannte er nach Stand und Nutzen, schritt mit dem Magister zur Stelle und half ihm pflücken. Da mußte zuletzt doch ein Wort das andere gehen und die beiden Männer aus ihrer gegenseitigen Einsamkeit hinaus- und einander entgegenführen. Der Pfarrherr erfuhr, daß das kleine Mädchen seit dem harten Winter in der Hütte krank liege und sich trotz des neuen Frühlings und der schönern Tage nicht wieder erholen und zurechtwerden könne. Der Fremde erfuhr, daß Ehrn Friedemann Leutenbacher ein Mann sei, mit welchem sich wohl in jeder Sache ein gut Wort reden und ein guter Rat halten lasse. So waren die beiden, ihnen selber fast unvermerkt, nahe an die Hütte gekommen, und es mußte geschehen, daß der Magister Konrad den Pfarrherrn einlud, einzutreten unter das Dach, so er hatte aufrichten helfen, und das kranke Mägdlein anzusehen. Zum ersten Male stand der Pfarrherr in dem Raume, vor dessen Gerät und Bewohnern dem Dorfe Wallrode so sehr grauete. Er sah die Bücher und wenigen mathematischen und physikalischen Instrumente, und er sah die kleine, kranke Else, die mit großen, dunkelblauen, fieberkranken Augen ihn von ihrem Lager aus anblickte und, nachdem sie seine Gestalt und Miene erkundet hatte, lächelte und ihn lieblich nickend grüßte. Die Bücher und Instrumente zogen den Pfarrherrn von Wallrode wohl recht an, gleich alten, trefflichen, lang entbehrten Bekannten aus längst vergangener Zeit; aber mit noch größerer Wehmut und Rührung würde er sie gegrüßt haben, wenn des Mägdleins Augen es gelitten hätten. Dem Zauber, der aus diesen beiden dunkeln Kindesaugen auf den Mann, den Diener am Worte Gottes, den Gelehrten, den Menschen, der soviel litt und erfuhr, strahlte, war nicht zu widerstehen; – Von dieser Stunde, Von diesem Augenblick an war Friedemann Leutenbacher an die Hütte des Magisters Konradus gebannt; von diesem Augenblicke an bekam der große Wald eine Seele, und der Pfarrherr brauchte nicht mehr aus ihm zu fliehen, weil er sich fürchtete in seiner Einsamkeit. Dieses Kind bedeutete für den Mann aus dem Elend die Offenbarung eines Daseins, welches er nicht kannte, nach welchem er nur ein dumpfes, schmerzvolles, unbestimmtes Sehnen im Herzen trug. Dieses Kind wußte nichts von der grausen Last, die auf der Erde und dem Herzen des Pfarrers von Wallrode im Elend lag. –

Noch längere Zeit, nachdem die Tochter leicht und heiter dem Geistlichen entgegengegangen war, blieb der Meister Konrad verschlossen und finster und gestattete erst allmählich, als der Einfluß des Gelehrten auf den Gelehrten zu wirken begonnen hatte, einen tiefern Einblick in die Geschichte seines Lebens. Das Unglück maß damals mit einem gewaltigen Maß, und kein Schrecken und Schmerz, welche den Menschen treffen mochten, waren so groß, daß sie nicht noch durch gräßlicheres Unheil überboten werden konnten. Seinen Namen nannte der Magister nie; doch von seinen Schicksalen erzählte er im Laufe der Jahre bruchstücksweise, und das Herz erzitterte, sie zu hören; wir können aber nur kurz davon Bericht geben, da wir nicht seine Geschichte beschreiben.

Er war ein Lehrer an der Domschule der unglücklichen Stadt Magdeburg gewesen, und mit seinem Hause waren sein Weib und seine beiden ältesten Kinder verbrannt am zehnten Mai des Jahres sechzehnhunderteinunddreißig. Ihn selber hatte das Geschick mit dem jüngsten Kind in die Domkirche unter die tausend jammervollen Menschen geschleudert, welchen nach drei Tagen der Todesangst der kaiserliche General Johann Tzerklas von Tilly das schenkte, was allein er ihnen nicht nahm, das Leben.