Überall standen in den Dörfern neben den Kirchtürmen die Pfarrhäuser mit ihren Familien als Stützpunkte des deutschen Wesens. Die Vorfahren hielten unter slawischem Volk auf die deutsche Art, wie man aus den Namen ihrer Frauen schließen darf, die bis zu dem meiner Mutter sämtlich deutsch sind. Als Johann Freytag, der Sohn des Simon, eine Anna Wüterich – althochdeutsch Wuotanarich – heiratete, da wurden auf einem Bauernhofe die Namen unserer beiden großen Heidengötter Frija und Wuotan nach den Schrecken des dreißigjährigen Krieges zu christlicher Ehe verbunden.
Um 1700 heiratete Adam, ein Enkel jenes Simon, die Erbtochter einer Scholtisei von Schönwald, Marie Anna Victor. Durch sie kam der Scholzenhof I des Dorfes in das Geschlecht. Eine Erinnerung an die Ahnmutter erhielt sich bis in meine Kinderzeit, sie soll eine kleine, kluge Frau gewesen sein, die bei den Geschlechtsgenossen in hohem Ansehen stand. Die Männer des Geschlechts aber sind in der Mehrzahl hochgewachsen mit rundem Kopf, blondem Haar, starken Knien und großer Faust, in jedem Nest ein oder mehrere behende Linktotschel. Der Kindersegen der Höfe pflegte reichlich zu sein.
Die Scholtisei und die freien Bauernhöfe waren nach altem Herkommen Minorate, der jüngste Sohn erbte den Hof, die älteren Söhne wurden vom Vater ausgestattet, soweit die Mittel reichten, sie heirateten in andere Höfe, suchten ihr Glück in der Fremde oder blieben als Knechte auf dem Hofe des jüngsten Bruders. Es war Brauch in den Grenzdörfern, ältere Söhne in Städte oder Dörfer, welche im Deutschen lagen »auf Wechsel« zu geben, dann erhielten die Knaben in einem befreundeten Hause Unterkunft, Kost und deutschen Unterricht, auch die Bürger schickten im Tausche ihre Söhne bisweilen in das Bauernhaus zum gründlichen Erlernen des Landbaus. Denn noch brachte die Landwirtschaft den Städten einen großen Teil der Nahrung.
In dieser Weise gab der Urgroßvater, Johann Simon Freytag, Erb- und Gerichtsscholz in Schönwald, seinen ältesten Sohn Georg (geb. 1737), als dieser acht Jahre alt war, zu Verwandten nach Namslau, damit er dort deutschen Stil und etwas Latein erwerbe; drei Jahre später auf das Gymnasium nach Brieg, wo er aus der Quarta bis zur Universität hinaufsteigen sollte, um dereinst Geistlicher zu werden.
Georg war im Januar 1755 ein hochgewachsener Primaner, als der Oberst der Garnison Brieg eine Razzia gegen die großen Schüler veranstaltete. Georg erhielt Nachricht, daß er in der Rolle der sieben stand, welche der Oberst sich aneignen wollte. Er vertauschte deshalb seine Wohnung mit der eines andern Gymnasiasten, und als der Oberst den Rekruten abholen ließ, erhielt er statt des langen einen unbrauchbaren kurzen unter das Maß. Derweile war ein eiliger Bote die neun Meilen bis Schönwald gelaufen, dort im Scholzenhose die Gefahr zu verkünden.
Der Vater schickte sogleich Wagen und Pferde in die Nähe von Brieg und dem Sohne die Botschaft, er solle zusehen, wie er aus der Stadt kommen könne. Allen Torwachen war anbefohlen, keinen großen Menschen passieren zu lassen und Georg war nach siebenjährigem Aufenthalt in Brieg auch den Soldaten bekannt. Er ging deshalb gegen 11 Uhr Vormittags unter den finstern Schwibbogen des Odertores, wartete dort bis die Ablösung der Torwache vorbei marschiert war, und folgte den Soldaten über die Oderbrücke, da er wußte, daß diese bei dem Marsch und der Ablösung sich nicht umsehen durften. Während die Wache vor dem Wachthaus in die Linie trat, wandelte er glücklich ins Freie, fand seinen Wagen und fuhr unter falschem Namen nach Breslau, von da in einer Landkutsche nach Königsberg. Dort studierte er drei Jahre Theologie, hörte auch etwas Philosophisches bei Kant. Doch auch zu Königsberg wurde ihm ein friedliches Beharren über seinen Büchern nicht vergönnt. Die Russen überzogen die Landschaft und sperrten den Verkehr mit der Heimat. Von dort drangen im Februar 1758 ängstliche Briefe zu ihm durch. Die Mutter war schwer erkrankt, der Vater durch einen Schlaganfall gelähmt, auch zu Hause war Kriegsnot und Einquartierung und der älteste Sohn nicht länger zu entbehren. Aber von den Russen wurde niemand in das Gebiet König Friedrichs hinaus gelassen. Wieder kam Georg in Bedrängnis, und wie er als Flüchtling zur Universität gezogen war, mußte er auch auf heimlichen Pfaden die Rückkehr suchen. Er nahm deshalb in der russischen Kanzlei einen Reisepaß nach Danzig und übergab sich und sein Gepäck einem Fuhrmanne, der mit seiner Ladung unweit Danzig über die Weichsel gelangen wollte. Der Strom war noch mit Eis belegt, aber an den Rändern floß bereits das Tauwasser. Als Georg das Eis betreten hatte und unter sich das Brechen der Schollen und das Rauschen der Flut vernahm, rief er an das Ufer nach einem kleinen Handschlitten, ließ Koffer und Bettsack darauf laden und folgte dem Schlitten vorsichtig nach dem andern Ufer. Wagen und Pferde, welche vom Fuhrmann auf die Versicherung der Anwohner, daß das Eis noch halte, über den Strom getrieben wurden, brachen hinter ihm ein und versanken.
In der Heimat fand er Trauer und Sorge, die Mutter starb wenige Stunden nach seiner Ankunft, der kranke Vater hatte sein Gedächtnis fast ganz verloren, dazu sechs jüngere Geschwister im Hause und im Lande fremdes Kriegsvolk. Da mußte der Kandidat das Scholzenamt versehen, die schweren Lieferungen auf die einzelnen Höfe verteilen, das Gelieferte von den Dorfleuten empfangen und absenden, bald österreichische, bald sächsische Kommandos aufnehmen, bewirten und vorsichtig behandeln, außerdem der Wirtschaft des Gutes vorstehen und jeden Morgen früh um drei Uhr nach Stall und Scheuer sehen. Dennoch bestand der kranke Vater darauf, daß er alle vier Wochen predigen mußte. So versah der Jüngling durch zwei Kriegsjahre die Geschäfte des Scholzenhofes, es war eine schwere Lehrzeit, die ihn zum Manne machte.
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