Schön sind die Bilder der alten Germanen, sie tragen Felle und Keulen, auf die sie sich stützen, ihre Weiber kauern auf der Erde und müssen die Schilde scheuern. Stanislaus meint, sie gebrauchten dazu ihre blonden Haare, die aussehen wie um den Kopf gelegte Bettvorhänge aus Stroh. In den meisten Tafeln liegen Bilder von unserem Kaiser, er hat sich einen Mantel von rotem Samt auf seine Schultern gelegt, in der einen Hand hält er eine Kugel, in der anderen einen goldenen Feuerhaken.
Wenn ich morgens in meinem Bett liege und die vielen Kaiserbilder ansehe, frage ich mich: Geht ein Kaiser auch aufs Klo? Die Frage beschäftigt mich sehr, und ich laufe zur Mutter. »Du wirst noch ins Gefängnis kommen«, sagt Mutter. Also geht er nicht aufs Klo.
Vom Marktplatz zu den Kirchhöfen führt die Totenstraße. Die Menschen, die dort wohnen, finden nichts dabei, daß ihre Straße »Totenstraße« heißt, sie stehen vor den Türen und schwatzen, sie schimpfen auf den Bürgermeister, weil das Trottoir, auf das alle Leute in der Stadt stolz sind, mitten in der Straße aufhört. »Wie abrasiert«, sagt Kaufmann Fischer. Ich möchte nicht in der Totenstraße wohnen. Ich habe noch nie einen Toten gesehen, nur Schädel und Knochen, die haben Arbeiter gefunden, als sie neben der Mühle einen Brunnen gruben. Stanislaus und ich spielen Ball mit Schädeln, die Knochen dienen als Abschlaghölzer, Stanislaus gibt den Schädeln Fußtritte.
»Warum tust du das?«
»Großmutter hat gesagt, es sind böse Menschen gewesen, Gute bleiben nicht im Grab, Engel holen sie und fliegen mit ihnen in den Himmel zum lieben Gott.«
»Was tun sie da?«
»Pellkartoffeln fressen sie nicht.«
Ich esse Pellkartoffeln sehr gerne, zu Hause nicht, ich esse sie lieber bei Stanislaus. Seine Großmutter, seine Mutter, sein Vater, drei Schwestern und vier Brüder wohnen in der Dorfstraße, in einem kleinen Haus aus Lehm, oben deckt es ein Strohdach, alle schlafen in einer Stube, und gekocht wird darin auch. In der Dorfstraße fehlt das Trottoir, aber niemand schimpft auf den Bürgermeister. Immer, wenn ich um die Mittagszeit Stanislaus besuche, essen sie Pellkartoffeln und Grützsuppe oder Pellkartoffeln und Hering, ich stehe in einer Ecke, und das Wasser läuft mir im Mund zusammen.
»Lang zu«, sagt endlich Stanislaus' Mutter, »essen elf sich satt, wird es auch für zwölf reichen.«
Stanislaus pufft mich in die Seite:
»Braten und Gebackenes kannst du dir malen.«
»Wir essen auch nicht jeden Tag Braten und Gebackenes,« »Ihr könntet so fressen, wenn ihr wolltet.«
Ich nehme meine Mütze und renne nach Haus.
»Was mußt du dort zu Mittag bleiben«, schilt mich Mutter, »du ißt den armen Leuten ihr bißchen Brot weg.«
»Warum haben sie so wenig?«
»Weil der liebe Gott es so will.«
Die Totenstraße ist sehr lang, ich denke mir, wegen der Toten, sie wollen noch ein bißchen spazierenfahren, ehe sie ins Grab gelegt werden und es sich entscheidet, ob sie darin bleiben oder in den Himmel fliegen.
Neulich ist Onkel M. gestorben. Ob er ein guter Mensch war? Ich stehe an der Friedhofsmauer. Von einer Weide breche ich mir eine Gerte und spitze sie an, ich klettere über die Mauer, laufe zum Grab und bohre, der Friedhofswärter überrascht mich, ich mache mich aus dem Staub.
Auf dem Nachhauseweg denke ich: ›Was ist ein guter Mensch?‹
Draußen krachen Türen. Im Zimmer ist es dunkel. Dort schläft Vater, dort Mutter. Es ist gar nicht dunkel. Und die Betten von Vater und Mutter sind leer. Haben Räuber sie überfallen? Von draußen blinkt es rötlich. Ein Horn bläst, immer den gleichen heulenden Ton. Ich springe aus dem Bett, reiße die Tür auf, renne auf die Straße, drüben, auf der anderen Seite des Marktes, brennt ein Haus, rot und grün und schwarz, Feuerwehrleute mit glänzenden Helmen auf dem Kopf rennen wild umher, und die Menschen stellen sich auf die Zehenspitzen. Jule, unsere Köchin, sieht mich und jagt mich ins Bett zurück.
»Warum brennt es, Jule?«
»Weil Gott strafen will.«
»Warum will Gott strafen?«
»Weil kleine Kinder zuviel fragen.«
Ich fürchte mich, ich kann nicht mehr einschlafen, es riecht nach Rauch, es riecht nach Versengtem, es riecht nach dem lieben Gott. Am andern Morgen stehe ich vor verkohlten Balken und Steinen, sie sind noch heiß.
»Nicht einen Knochen hat man gefunden, die arme Frau ist in ihrem Bett verbrannt.«
Ich drehe mich jäh um, der Mann, der es sagte, ist weitergegangen.
Ich laufe nach Haus, setze mich in eine Ecke, der Stock, mit dem ich in der Asche gestochert habe, klebt in meiner Hand.
Herr Levi kommt. Er lacht.
»Schöne Sachen machst du.«
Ich rühre mich nicht.
»Alle in der Stadt wissen es, du hast Eichstädts Haus angesteckt.«
Herr Levi steckt sich eine Zigarre an und geht davon. Erst meinte Jule, ich sei schuld, nun sagt es Herr Levi.
Ich verkrieche mich auf dem Boden und bleibe dort bis zum Abend.
War es anders gestern? Ich hatte mich ausgezogen, mich gewaschen, ins Bett gelegt und geschlafen, gewaschen habe ich mich nicht, nur Mutter vorgeredet, ich hätte es getan, also gelogen. Darum das Feuer? Darum diese schreckliche Strafe? Ist Gott so streng? Ich denke an die Pellkartoffeln, an die verbrannte Frau Eichstädt.
Im Zimmer ist es dunkel. Ich liege und horche. Rechts von der Tür hängt ein rundes längliches Glasröhrchen, an das zu rühren mir verboten ist, das Stubenmädchen Anna bekreuzigt sich, bevor sie es abstaubt.
»Da wohnt der Juden ihr Gott drin«, brummt sie.
Mein Herz klopft.
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