Noch wage ich es nicht. Wenn »Er« nun aus der Rolle herausspringt und schreit: »Ich bin der liebe Gott! Zur Strafe, daß du gelogen hast...« Ich lasse mir nicht länger Angst einjagen, und vor Pellkartoffeln fürchte ich mich auch nicht, mit einem Satz bin ich an der Tür, klettere auf die Kommode, reiße den »lieben Gott« herunter. Ich zerschlage das Glasröhrchen. »Er« rührt sich nicht. Ich werfe das Röhrchen auf den Boden. »Er« rührt sich nicht. Ich spucke es an, ich nehme meine Schuhe und schlage drauf los. »Er« rührt sich nicht. Vielleicht ist »Er« schon tot. Mir ist leicht zumute. Ich packe Glas- und Papierfetzen, stopfe sie in die Sofafalte zwischen Lehne und Polster, morgen werde ich den »lieben Gott« begraben.
Fröhlich lege ich mich ins Bett, mögen alle wissen, daß ich den »lieben Gott« totgeschlagen habe.
Ich habe geglaubt, alle Jungen und Mädchen gehen zusammen in eine Schule. Ilse und Paul gehen in die »evangelische«, Stanislaus in die »katholische«, ich in die »jüdische«. Dabei lernen sie lesen und schreiben wie ich, und die Schulhäuser sehen eins aus wie das andere.
Der Lehrer heißt Herr Senger. Wenn er morgens die Türe aufreißt, rufen wir: »Guten Morgen, Herr Senger.« Er setzt sich aufs Katheder und legt den Rohrstock neben sich. Wer seine Aufgabe nicht gelernt hat, muß seine Hände vorstrecken, dann schlägt Herr Senger mit dem Rohrstock darauf, »zur Strafe«, sagt er. Wer seine Aufgaben gelernt hat, den nimmt Herr Senger auf die Knie, er muß seine Backe an die Backe von Herrn Senger legen, die ist stachlig, und Herr Senger reibt sich daran, »zur Belohnung«, sagt er.
In der Pause zeigen wir uns die Frühstücksstullen.
»Ich habe Fleisch.«
»Ich habe Käse.«
»Was hast du drauf?«
»Er hat gar nichts drauf.«
Kurt will seine leere Stulle verstecken, wir lassen es nicht zu, wir lachen ihn aus, Kurt ruft: »Ich werde es meiner Mutter erzählen«, wir rufen: »Petzer«, Kurt wirft sein Brot in den Sand und weint.
Wie wir von der Schule nach Haus gehen, sagt Max: »Meine Eltern erlauben nicht, daß ich mit Kurt spiele, seine Mutter wäscht bei uns jede Woche, alle armen Leute sind schmutzig und haben Flöhe.«
Ich spiele mit Stanislaus. Ich habe eine Eisenbahn geschenkt bekommen. Ich bin der Lokomotivführer. Stanislaus ist Weichensteller. Mitten in der Fahrt bremse ich.
»Weiterfahren«, ruft Stanislaus, er steckt zwei Finger in den Mund und pfeift schrill.
»Hast du Flöhe?«
»Fahr weiter.«
»Bist du schmutzig?«
Stanislaus tritt mit seinem Fuß auf die Eisenbahn und zerbiegt das schöne Spielzeug zu einem Haufen Blech.
»Wenn Max doch sagt, daß alle armen Leute schmutzig sind und Flöhe haben. Jetzt hast du meine Eisenbahn kaputt gemacht, und du willst mein Freund sein?«
»Ich bin nicht dein Freund. Ich hasse euch.«
Auf der Straße schreien die Kinder: »Jude, hep, hep!« Ich habe es früher nie gehört. Nur Stanislaus schreit nicht, ich frage Stanislaus, warum die anderen so schreien.
»Die Juden haben in Konitz einen Christenjungen geschlachtet und das Blut in die Mazzen gebacken.«
»Das ist nicht wahr!«
»Daß wir schmutzig sind und Flöhe haben, das ist wohl wahr, wie?«
Lehrer Senger geht über den Marktplatz. Ein Junge läuft hinter ihm her und singt:
»Jiddchen, Jiddchen, schillemachei,
reißt dem Juden sein Rock entzwei,
der Rock ist zerrissen,
der Jud hat geschissen.«
Lehrer Senger geht, ohne sich umzudrehen, weiter. Der Junge ruft: »Konitz, hep, hep! Konitz, hep, hep!«
»Glaubst du wirklich«, fragte ich Stanislaus, »daß die Juden in Konitz einen Christenjungen geschlachtet haben? Ich werde nie mehr Mazzen essen.«
»Quatsch! Gib sie mir.«
»Warum rufen die Jungen Jude, hep, hep?«
»Rufst du nicht auch Polack?«
»Das ist etwas anderes.«
»Ein Dreck! Wenn du's wissen willst, Großmutter sagt, die Juden haben unsern Heiland ans Kreuz geschlagen.«
Ich laufe in die Scheune, verkrieche mich im Stroh und leide bitterlich. Ich kenne den Heiland, er hängt bei Stanislaus in der Stube, aus den Augen rinnen rote Tränen, das Herz trägt er offen auf der Brust, und es blutet. »Lasset die Kindlein zu mir kommen«, steht darunter. Wenn ich bei Stanislaus bin und niemand aufpaßt, gehe ich zum Heiland und bete.
»Bitte, lieber Heiland, verzeih mir, daß die Juden dich totgeschlagen haben.«
Abends im Bett frage ich Mutter:
»Warum sind wir Juden?«
»Schlaf, Kind, und frag nicht so töricht.«
Ich schlafe nicht. Ich möchte kein Jude sein. Ich möchte nicht, daß die Kinder hinter mir herlaufen und »Jude« rufen.
Auf dem Hof des Tischlers Schmidt steht ein Schuppen.
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