Mehrmals entfuhren ihm während der Erzählung unwillkürliche Worte.
»Ach! Papa, mein armer Papa!« rief er, an seine Schwester sich schmiegend.
Miß Grant horchte zu, faltete die Hände, äußerte kein Wort, bis die Erzählung beendigt war, dann sprach sie:
»O! Gnädige Frau, das Document! Das Document!
– Ich habe es nicht mehr, liebes Kind, erwiderte Lady Helena.
– Sie haben es nicht mehr?
– Nein, Lord Glenarvan hat es mit nach London genommen, um für Deinen Vater zu wirken; aber ich habe Ihnen Wort für Wort seinen ganzen Inhalt mitgetheilt, und habe Ihnen gesagt, wie es uns gelungen ist, den Sinn desselben genau heraus zu bekommen; unter den fast ausgetilgten Wortresten haben die Fluthen einige Zahlen verschont; leider ist die Länge ...
– O, die braucht man nicht zu wissen! rief der Knabe.
– Ja, Robert, erwiderte Helena lächelnd, als sie ihn so entschlossen sah. Also, Miß Grant, Sie wissen nun die geringsten Details, wie ich selbst.
– Ja, gnädige Frau, erwiderte das Mädchen, aber ich hätte gern die Handschrift meines Vaters gesehen.
– Nun, morgen wird Lord Glenarvan wohl wieder hier sein. Mein Mann hat dieses unbestreitbare Document den Commissären der Admiralität vor Augen legen wollen, um zu erwirken, daß sogleich ein Schiff zur Aufsuchung des Kapitän Grant ausgeschickt werde.
– Ist es möglich, gnädige Frau! rief das Mädchen aus; das haben Sie für uns gethan?
– Ja, liebe Miß, und ich erwarte die Rückkunft Lord Glenarvan's jeden Augenblick.
– Gnädige Frau, sagte das Mädchen mit dem Ton innigster Dankbarkeit und warmer Frömmigkeit, der Himmel vergelte Ihnen und Lord Glenarvan die Wohlthat.
– Liebes Kind, erwiderte Lady Helena, jeder andere Mensch hätte an unserer Stelle ebenso gehandelt. Möchten die Hoffnungen, welche ich bei Ihnen angeregt habe, in Erfüllung gehen! Bleiben Sie bis zur Rückkunft Lord Glenarvan's bei mir auf dem Schloß ...
– Gnädige Frau, erwiderte das Mädchen, ich möchte die freundliche Güte, welche Sie Personen, die Ihnen fremd sind, erweisen, nicht mißbrauchen ...
– Fremd! Liebes Kind; weder Sie, noch Ihr Bruder sind unserm Hause fremd, und ich wünsche, daß Lord Glenarvan bei seiner Rückkehr den Kindern des Kapitän Grant mittheile, was man zur Rettung ihres Vaters thun wird.«
Ein so gütiges Anerbieten war nicht abzulehnen. Miß Grant und ihr Bruder warteten also zu Malcolm-Castle die Rückkehr des Lord Glenarvan ab.
Viertes Capitel.
Ein Vorschlag der Lady Glenarvan.
Während dieser Unterredung hatte Lady Helena nicht von den Besorgnissen gesprochen, welche Lord Glenarvan in seinem Brief über die Aufnahme seines Gesuches von Seiten der Commissäre der Admiralität geäußert hatte. Ebensowenig in Betreff der vermuthlichen Gefangenschaft des Kapitän Grant bei den Indianern Süd-Amerika's. Vielmehr, nachdem sie alle Fragen der Miß Grant beantwortet hatte, fragte sie dieselbe ihrerseits über ihr Leben, ihre Lage in der Welt, worin sie die einzige Beschützerin ihres Bruders zu sein schien.
Die einfache und rührende Erzählung des Mädchens vermehrte noch die freundliche Theilnahme der Lady Glenarvan für dasselbe.
Miß Mary und Robert Grant waren die einzigen Kinder des Kapitäns. Harry Grant hatte seine Frau bei der Geburt Robert's verloren, und während weiter Seefahrten seine Kinder der Pflege einer guten alten Cousine überlassen.
Der Kapitän Grant war ein kühner Seemann, der seinen Beruf wohl verstand, guter Schiffer und zugleich auch Kaufmann, vereinigte also einen doppelten Vorzug der Kapitäne von Kauffahrteischiffen. Er wohnte zu Dundee in der schottischen Grafschaft Perth, war ein eingeborenes Landeskind. Er hatte von seinem Vater, welcher Pfarrer der Katharinenkirche war, eine tüchtige Erziehung erhalten, was keinem Menschen, nicht einmal einem Schiffskapitän, nachtheilig ist.
Bei seinen ersten Seefahrten machte er gute Geschäfte, so daß er einige Jahre nach Robert's Geburt im Besitz eines hübschen Vermögens war.
Damals faßte er einen großartigen Plan, der seinen Namen in Schottland populär machte. Wie die Glenarvan und einige andere große Familien des Niederlands, war er, wenn auch nicht im Handeln, doch in der Gesinnung dem erobernden England feind. In seinen Augen konnten die Interessen seines Landes nicht mit denen der Angel-Sachsen zusammenstimmen, und um denselben eigenthümlich selbständige Entwickelung zu geben, beschloß er, auf einem der Continente Amerika's eine große schottische Colonie zu gründen. Dachte er für die Zukunft dabei an die Unabhängigkeit, wovon die Vereinigten Staaten Amerika's das erste Beispiel gegeben hatten, und welche Indien und Australien einst unfehlbar erringen werden? Vielleicht. Vielleicht auch ließ er seine stillen Hoffnungen merken. Begreiflich, daß die Regierung nicht darauf einging, zu seinem Colonisationsproject die Hand zu bieten; sie bereitete sogar dem Kapitän Grant Schwierigkeiten, welche in jedem andern Lande ihren Mann vernichtet hätten. Aber Harry verlor den Muth nicht; er wendete sich an den Patriotismus seiner Landsleute, setzte sein Vermögen daran, ein Schiff zu bauen, und dann, als sich eine auserlesene Mannschaft mit ihm zusammenfand, vertraute er seine Kinder der Pflege seiner alten Cousine und segelte ab, um die großen Inseln der Südsee für seinen Zweck zu durchforschen. Dies geschah im Jahre 1861. Ein Jahr lang, bis zum Mai 1862, erhielt man Nachrichten von ihm; aber seit seiner Abfahrt von Callao, im Juni desselben Jahres, hörte man kein Wort mehr von dem Britannia, und die Seezeitung verstummte über das Schicksal des Kapitäns.
So war die Lage der Dinge, als die alte Cousine Harry Grant's starb, und nun fanden sich die beiden Kinder allein auf der Welt.
Mary Grant war damals vierzehn Jahre alt; ihre starke Seele erschrak nicht vor dem schweren Loose, das ihr zugefallen war, und sie widmete sich ganz ihrem Bruder, der noch Kind war. Ihr lag es nun ob, ihn zu erziehen, zu unterrichten. Mit Sparsamkeit, Klugheit und Anstrengung ihrer Geisteskraft, mit Arbeit bei Tag und Nacht widmete sie sich ihm ganz, versagte sich Alles: so ward die Schwester fähig, ihren Bruder zu erziehen, und sie erfüllte muthig diese mütterliche Pflicht.
Die beiden Kinder lebten also zu Dundee in dieser rührenden Lage einer Armuth, welche sie mit Edelmuth ertrugen, gegen die sie tapfer kämpften. Mary hatte keinen andern Gedanken, als an ihren Bruder, sann nur darauf, ihm eine glückliche Zukunft zu bereiten. Sie hielt die Britannia für hoffnungslos verloren, ihren Vater für zweifellos todt. Man denke also, mit welcher Gemüthsbewegung sie die Anzeige in der »Times« las, welche zufällig ihr vor Augen kam und sie plötzlich aus ihrer Hoffnungslosigkeit herausriß.
Jetzt galt es, nicht zu zögern; ihr Entschluß war rasch gefaßt. Sollte sie auch erfahren müssen, daß man den Leichnam des Kapitän Grant an einer öden Küste, auf dem Rumpfe eines gescheiterten Schiffes, aufgefunden habe, besser doch, als dieser unablässige Zweifel, diese ewige Qual eines unbekannten Schicksals.
Sie theilte es ihrem Bruder mit, und noch denselben Tag fuhren die beiden Kinder mit der Eisenbahn ab, und kamen Abends zu Malcolm-Castle an, wo Mary nach so vielem Kummer wieder Hoffnung faßte.
Diese Jammergeschichte erzählte Mary Grant der Lady Glenarvan in höchst einfacher Weise, ohne daran zu denken, daß sie sich bei alle diesem in der langen Prüfungszeit als ein heroisches Mädchen benommen hatte; aber Lady Helena dachte so an ihrer Statt, und schloß wiederholt, ohne ihre Thränen zurückzuhalten, die beiden Kinder des Kapitän Grant liebevoll in ihre Arme.
Robert schien diese Geschichte zum ersten Male zu hören; er machte große Augen bei der Erzählung seiner Schwester; er begriff Alles, was sie gethan, gelitten hatte, endlich rief er aus, sie umarmend: »O! Mama! Liebe Mama!« Er konnte den Ausruf, der aus des Herzens Tiefe drang, nicht mehr zurückhalten.
Während dieser Unterredung war es völlig Nacht geworden. Lady Helena wollte, in Rücksicht auf die Ermüdung der beiden Kinder, diese Unterhaltung nicht länger fortsetzen. Mary und Robert Grant wurden in ihre Zimmer geführt und schliefen ein in Träumen an eine bessere Zukunft.
Als sie weggegangen waren, ließ Lady Helena den Major rufen und erzählte ihm Alles, was sich diesen Abend begeben hatte.
»Ein braves Mädchen, diese Mary Grant, sagte Mac Nabbs, als er die Erzählung seiner Cousine hörte.
– Wollte der Himmel, daß meinem Mann sein Vorhaben glückt! Denn die Lage dieser beiden Kinder würde erschrecklich sein.
– Er wird zum Ziel kommen, erwiderte Mac Nabbs, oder die Lords der Admiralität hätten Herzen, härter als das Gestein zu Portland.«
Trotz dieser Versicherung des Majors verbrachte Lady Helena diese Nacht in lebhaftester Besorgniß, ohne einen Augenblick zu schlafen.
Am folgenden Morgen standen Mary und ihr Bruder mit Tagesanbruch auf und wandelten in dem großen Schloßhof, als man Wagengeräusch vernahm. Lord Glenarvan kehrte in raschester Fahrt nach Malcolm-Castle zurück. Augenblicklich erschien Lady Helena in Begleitung des Majors im Hof und eilte ihrem Gemahl entgegen.
Dieser schien traurig, enttäuscht, entrüstet. Er schloß seine Gemahlin schweigend in die Arme.
»Nun, Edward, Edward?« rief Lady Helena.
1 comment