»Aber was nun, meine Lieben?« begann er wieder. »Schlafen kann ich nicht unter diesen Toten, und, wie mir deucht – sie stinken auch ganz erklecklich! Aber – mich erleuchtet der Geist: die Nacht ist schön. Schaben gibt es draußen nicht – machen wir einen Männerspaziergang!«
»Einen Spaziergang?« wiederholte Marx zögernd, der nach dieser Aufregung recht jämmerlich dreinsah. »Ich bin müde, Franz, und habe morgen vormittag um zehn Uhr Klavierstunde; komm mit mir, du kannst auf meinem Sofa schlafen!«
»Nein, nein, edler Lavendel, gute Gedanken dürfen nicht auf Sofas verschlafen werden. Kommt nur! Durch Kannstatt nach Waiblingen, wo die Wachtturmtreppe so eng ist, daß die Witwe des alten Turmwarts sich anstandshalber mit dem neuen Wächter verheiraten mußte, da sie wegen ihrer Dicke nicht mehr hinunterkonnte! Unser nordischer Freund muß nebenbei auch Schwaben kennenlernen!«
Mit einem Wort, er drängte so, daß wir beiden andern uns endlich bereit erklärten und die Treppe mit ihm hinabstiegen. Als wir unten waren, stürmte er noch einmal hinauf, kam aber sogleich mit einer Notenrolle wieder herab.
»Was hast du denn geholt?« frag ich.
»Das Allernotwendigste«, sagte er und hob die Rolle in die Höhe, »unser Terzett!«
Nun gingen wir auf die Gasse; es mochte nach elf Uhr sein; die Juninacht war schön, einige Sterne funkelten über uns; aber auf Erden war's doch dunkel. So marschierten wir zur Stadt hinaus; die Nachtkühle brachte ihre erfrischende Wirkung, und schon auf der Chaussee rief Franz: »Was meint ihr, mir ist, als müßten wir einmal singen!«
»Ja, aber was denn?«
»Was anders als unser Terzett!«
»Aber dazu brauchen wir Licht, wir können's ja nicht auswendig.«
»Alles vorgesehen«, erwiderte Franz, zog sein Schnupftuch hervor und entwickelte daraus ein Kästchen mit Zündhölzern und einige Stümpfchen Stearinlichts. Wir warfen uns auf einen Haufen von Chausseesteinen, der am Wege lag; die Lichter wurden angezündet und daraufgeklebt, Franz hatte die Stimmen verteilt und taktierte mit der Hand: »Eins, zwei!«, und: »Tropfen von Tau!« – unser Terzett strahlte wie ein Stern durch die einsame Juninacht.
»Schön!« sagte Franz, indem er die Stimmen wieder einsammelte. »Doch nun vorwärts!«
Marx wollte die beiden Lichter ausblasen, aber er wehrte ihm. »Laß,« sagte er. »Zur Freude der Nachtwanderer, die nach uns kommen!«
So ließen wir sie brennen und marschierten weiter. Da stieg zu Osten unten über den Eßlinger Bergen ein gelber Mond empor; zugleich schlug eine Nachtigall, und ein Schauer zog durch die Obstbäume, die am Wege standen.
De la nuit j'aime le silence:
Doux rossignols, chantez pour moi!
sang Marx mit halber Stimme; dann faßte er mich unter den Arm, drückte ihn und sagte zitternd: »Nord und Süd! Wir kommen doch zusammen!«
Noch mehrmals sahen wir zurück nach unseren Lichtern, bis die schwache Helle nicht mehr zu uns reichte; dann marschierten wir durch Kannstatt; es muß nach Mitternacht gewesen sein, die Stadt war totenstill. So suchten wir denn einiges Leben hineinzubringen; unsere Stöcke schwingend, tralate jeder von uns seine eigene Melodie. Da schlurfte es heran. »He, Sie! Was machet Se denn für en Heidespektakel? Des ischt hie net der Brauch!« scholl eine rauhe Stimme, und eine Gestalt mit Speer und Tuthorn hatte sich vor uns hingepflanzt.
»Mann der Nacht«, sagte Franz. »Lassen Sie uns, wir fahren jetzt gen Waiblingen.«
Der Wächter sah verächtlich nach unseren Stiefeln: »Fahre? Und da hent Se's Schusters Rappe dazue eing'spannt?«
»Ganz recht, Liebwertester, aber« – und Franz konnte, wenn es ihm nötig schien, ein gar fürnehmes Wesen vortun – »Er kennet uns wohl nicht? Wir sind fahrende Sänger, falls Er von solchen jemals etwas sollte gehört haben; Er aber ist ein Zuberklaus, und wir wünschten ihm Verstand und gute Wacht!«
Damit schritten wir rüstig weiter und dem andern Tore zu, aber noch lange hörten wir den Wächter schelten.
Draußen malte jetzt der Mondschein die Schatten der Bäume quer über die Chaussee; hinten aus der Stadt schlug es von den Türmen eins. Als wir etwa eine Stunde wacker zugeschritten waren, regte sich etwas in mir, das ich alsbald und zweifellos für Hunger anerkennen mußte; denn seit acht Uhr hatten wir wohl alle nichts gegessen. Aber in Waiblingen! Die Wecken mußten bei unserer Ankunft gerade fertig sein. Ich griff in meine Tasche, fand aber nur vier lose Kreuzer. »Halt!« rief ich, »ich spüre einen Männerhunger.«
Alle standen still. »Warum redst du nur davon!« sagte Franz. »Der Teufel hol, nun fühl ich auch dergleichen.«
»Aber du hast doch Geld zu dir gesteckt?«
»Versteht sich!« rief er und fuhr zuversichtlich in seine Tasche; aber das geöffnete Portemonnaie ergab nur sieben Kreuzer. »Hm!« sagte er, »daß ich bei der Ausfahrt nicht an das schändliche Metall gedacht habe! Aber« – und er sah uns lachend an – »im Grunde war es auch egal gewesen, ich führe doch allzeit mein Vermögen in der Tasche.«
»Ihr seid auch ewig hungrig!« murmelte Marx.
Franz nickte ihm zu: »Das verstehst du nicht, Lavendel, du nährst dich nötigenfalls von Schnecken und Knoblauch, wir mögen das nicht! Sieh lieber einmal nach dem Wesentlichen in deinen Taschen!«
Sie wurden umgekehrt, und als Summe unseres Gesamtvermögens ergaben sich dreizehn Kreuzer. »Das reicht für die Morgenwecken!« rief Franz. »Und nun vorwärts auf die alte Hohenstaufenstadt!«
Und weiter ging es, und allmählich begann der Mond zu blassen, und ein leises Morgendämmern zog durch die Welt. Nach zweistündiger Wanderung scholl ein dumpfer Glockenton zu uns herüber. »Hört ihr's?« rief Franz. »Die Glocke von Waiblingen schlägt drei Uhr, nun sind die Wecken fertig!«
»Da halte ich auch mit«, sagte Marx; »euer Schwätzen hat mich angesteckt!«
Franz klopfte ihm auf die Schulter: »Siehst du, Halbfranzöschen, nun wird dein Vaterteil lebendig.«
Bald hatten wir die alte Stadt erreicht; die finsteren Giebel sahen auf uns herab, und die engen Gassen führten uns bergauf, bergab. Aus einem geöffneten Fenster wehte der lockende Duft von frischgebackenem Brote auf uns zu, und da ich aufblickte, sah ich zwei Engel eine goldene Brezel uns entgegenhalten; aus dem Fenster drang ein schwacher Lichtstrahl auf die Gasse. »Koin Schritt gang i weiter!« sagte ich schwäbelnd und klopfte an die Scheiben des geschlossenen Fensters.
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