Übrigens scheinst du dich mit sträflichen Geheimnissen zu befassen!«
Marx tat, als ob er nichts gehört habe, und ging strack voran. Bald hatten wir ein Dorf erreicht – den Namen habe ich vergessen –, in der offenen Tür eines Hauses, unter einem Schilde mit einem roten Ochsenkopf, stand, von den schrägen Sonnenstrahlen angeschienen, ein grauköpfiger Mann in Hemdsärmeln und mit weißer Zipfelmütze. »Mein Gastfreund«, sagte unser Halbfranzose, und »Grieß Gott, Herr Marx!« rief der Wirt und streckte ihm die runde Hand entgegen und schüttelte sie kräftig. »Wisset Se no, wia mer mit anander g'fahre send? Se hent wölle nach Stuegert aufs Konservatori! Wo kommet Se denn ietzt gar so früeh scho her? Aber wöllet die Herre net rei'spaziere? D' Luft goht kuel vom Tal her.«
Wir traten in die große leere Gaststube, Franz warf seinen Ziegenhainer auf den Tisch und sagte mit Würde: »Drei Glas Pomeranzen, Herr Wirt.«
Ich erschrak: »O weh, unsere armen dreizehn!« Aber Franz hatte in diesen Dingen stets die Oberleitung.
Der Wirt hantierte schon an seinem Flaschenbort und setzte die Gläser vor uns auf den Tisch. »No«, sagte er zu Marx, »wie goht's? Was machet Se denn? Se send e bißle schmäler worren do rum«, und er strich sich mit dem Finger um seine runden Backen.
Marx nahm sein Glas und nippte: »Ach, Herr Wirt, das ist vom selben, mit dem Sie mich dazumal erquickten. Ja, mich anlangend«, fuhr er fort, »wir drei, wie Sie uns hier sehen, gehören zu dem jetzt so seltenen Orden der fahrenden Sänger, aber wir hoffen frischen Schwung hineinzubringen.«
»Des wär! Ei, was Se saget!« sagte der Wirt und schaute uns mit unglaublich dummen Augen an.
»Sie scheinen Zweifel zu hegen, lieber Mann«, nahm jetzt Franz das Wort und sah ihn mit Würde durch seine Brille an; »es ist Ihnen auch nicht gerade zu verdenken, aber – liebe Sangesbrüder, habt die Güte!« Und er verteilte wiederum die Stimmen.
»Ei was, machet Se koine G'schichte!« rief unser Wirt; »i han jo net da mindeschte Zweifel.«
Aber schon taktierte Franz: »Eins, zwei!« und »Tropfen von Tau!« scholl es in so reinem Dreiklang; ich weiß nicht, half uns der Morgen, der so hell in die Fenster schien; mir war, wir hätten's niemals noch so schön gesungen.
Der Wirt hatte beide Hände auf den Tisch gestemmt und sah uns bewegungslos mit seinen runden Augen an. »Noi, so was!« rief er. »Ebbes so Schönes! Wo hent Se des denn profitiert? Aber halt!« Und er schlug mit der Faust auf den Tisch. »I hol mei Weib! Ah, wia di jung gwea isch, hot se au g'sunge wie a Lerchele! Und mei Tochter, dia hot Klavierstund beim Lehrer hie. Gelt, so singet's uns no emol!«
Er wollte davontraben, aber Franz hielt ihn zurück. »Warten sie, Herr Wirt, wir singen's Ihnen schon gern noch einmal wieder; aber, wissen Sie, hier? In der ordinären Gaststub? Es geht schon auf fünf Uhr, es könnten Leute kommen – das paßt sich nicht für unsern Stand.«
»Ja, ja«, sagte der Wirt, »i hör, i begreif scho, aber kommet Se no nauf in die ober' Stub, in unser guete Stub, da wird's schon gehe!«
Franz warf uns einen triumphierenden Blick zu, und der Wirt führte uns eine Treppe hinauf in eine leidlich möblierte Stube mit niedriger Decke, worin sich außer den Bildern von König und Königin auch eine Art von hartem Sofa vorfand. Dann lief er fort und kam bald mit einer sauberen Fünfzigerin und einem etwa zehnjährigen Mädchen in die Stube. Sie sagten beide ihr »Grieß Gott!« und setzten sich auf Stühle neben der Tür, während der Wirt am Pfosten stehen blieb. Aber als wir kaum die ersten zwölf Takte hinter uns hatten, wurde das Gesicht der Wirtin schon lebendig; sie schlug mit den Händen auf ihre runden Knie und sah aus ihren feurigen Augen liebevoll zu uns herüber. »Wisset Se!« rief sie, da wir eben einen brillanten Schluß gemacht hatten, »mer hent e Hauzich heut im Dorf! Das wär e Fraid, wann Se do singe tätet! 's ischt en alte Liabschaft, 's Bräutigams Vater hot net wolle, und er hat's Guett g'hett; aber jetzt leit er drüben aufm Kirchhof und heut lasset sich de Junge z'sammegebe. Des wär halt schön von dene Herre, wenn mer do so a paar Liedle könnt z'höre kriege! Und a Tänzle? Do werdet Se au nix dagege han!«
Ich sah schon, daß dem Franz die Lust zu Kopfe stieg; auch dem Wirt gefiel der Vorschlag, und beide Eheleute drängten jetzt, wir sollten bleiben. »Nu, nu«, sagte der Ehemann endlich, da keine reine Antwort von uns kam, »verakkordieret's mit enander!« Damit zog er seine Frau zur Tür hinaus, während das Dirnlein sich hinterdrein drängte.
»Das geht nicht«, sagte Marx bestimmt, »um zehn Uhr habe ich Klavierstunde, ich muß nach Haus.«
Franz sagte nichts, aber er saß verdrossen auf dem Sofa und kaute an einem Strohhalm, er konnte sein Gelüsten offenbar noch nicht verwinden.
»Liebster Dirigent«, sagte ich, da auch mir des Abenteuers nun genug schien, »gedenkst du wirklich den fahrenden Sängerorden mit unserem einen Terzett gegen eine ganze Bauernhochzeit aufrechtzuerhalten?«
Er warf den Kopf zurück, und ein sieghaftes Lächeln flog über sein junges Antlitz; denn schwere Schritte und ein Klirren von Tassen und Löffelchen kam draußen die Stiege herauf. »Der Kaffee! Beim Zeus, der Kaffee!« rief er fröhlich; »du hast recht, Nordmann, wir müssen gehen!«
Und da erschien er und erfüllte das Zimmer mit seinem belebenden Morgenduft; eine dicke Magd trug ihn, die Familie folgte. »Nu, ihr Herre!« rief der Wirt, »was hent Se ausg'macht?«
Aber Franz erklärte, nicht ohne Feierlichkeit, daß eine Versammlung der fahrenden Sänger uns auf den Abend unabkömmlich mache.
Die Frau wollte sich nicht zufriedengeben; sie hatte die Augen immer noch auf unsern schmucken Dirigenten; der Wirt aber rief: »Nu, Weib, wenn's emol net sei ka! Schenk dene Herre ihre Schale voll, se hent no en weite Weag z'mached.«
Ich glaube, nimmer noch hat mir ein Kaffee so geschmeckt, wie Wonne zog es mir durch alle Glieder; dann aber fragten wir nach unserer Schuldigkeit.
Die guten Leute wurden fast zornig, als Franz in frevlem Übermut den Finger auf den Tisch stützte und aufrechnend frug: »Drei Portionen Kaffee?«
Mir fiel das Herz dabei völlig – salva venia – in die Hosen; aber, Gott bewahre! Nur für die drei bestellten Pomeranzen, weiter waren wir nichts schuldig!
Unter vielem Dank und Händeschütteln verabschiedeten wir uns, und da wir nachzählten, waren noch fünf Kreuzer in unserer Reisekasse. Wir fühlten endlich, daß wir unsere Kräfte ausgegeben hatten, und gingen ohne viele Worte unseren Weg zurück; nur Franz sagte noch einmal wie zu sich selber: »Neun Kreuzer und ein Terzett!«
Etwa halb zehn Uhr vormittags langten wir in meiner Wohnung an. »Nicht einen Schritt weiter!« rief Franz und warf sich auf mein Sofa; »hier laß ich's nachten und auch wieder tagen!« Ich warf mich, wie ich war, aufs Bett; ich glaube, es war die größte Müdigkeit meines Lebens. »Und du, Marx?« frug ich.
Er saß zusammengesunken auf meinem Klavierbock und sah hundselend aus. »Laß mich noch ein Viertelstündchen!« erwiderte er; »um zehn Uhr muß ich zur Klavierstunde!«
Wir suchten es ihm auszureden, aber er ging wirklich.
Wie ich später von dem Lehrer hörte, hatte er gerade damals vortrefflich gespielt; aber was es ihm an Nervenkapital gekostet, davon hat er nicht geredet. – Franz und ich schliefen, bis am andern Morgen früh die Hähne krähten.
So lebten wir im ersten Jahre miteinander zusammen in frischem Jugendübermut, jeder für sich in gewissenhafter Arbeit, Marx in peinlichster Pflichterfüllung. Im Winter wurde ein größerer Verein gestiftet – »Drehorgel« hieß er –, wo man einmal in der Woche im Wirtshaus zusammenkam; Zweck und Inhalt waren dieselben wie bei unsern kleinen »Versammlungen«, die aber deshalb nicht gestört wurden.
Von den drei Freunden hatte sich derzeit Marx am festesten an mich geschlossen; wir sahen uns fast täglich. Aber er war nicht eben ein bequemer Freund, obgleich er mit fast kindlicher Liebe an mir hing, denn das leiseste Wort konnte ihn verstimmen, er war von krankhafter Reizbarkeit; zumal seine Abhängigkeit von der Meinung anderer über ihn war völlig quälend. War ihm dergleichen zugekommen, dann, wenn er abends nach der Versammlung mich nach Hause geleitete, faßte er krampfhaft meinen Arm, zitterte und knirschte mit den Zähnen und redete unendlich und immer eifriger über die meist recht gleichgültige Sache. »Nicht wahr, du fühlst es! Du, du fühlst es doch auch, daß ich es nicht ertragen kann!« Ich hörte meist geduldig zu, oder mitunter hörte ich auch nicht, oder ich sagte: »Laß doch den Plunder, du könntest dich um drei Kreuzer noch ins Tollhaus reden.« Dann wurde er eine Weile still, aber es half doch nicht. Nie vergesse ich den Abend, da unser gemeinsamer Klavierlehrer, ein wahrer Vater seiner Konservatoristen, ihn in der Nachmittagsstunde, ich weiß nicht mehr wie, auf den Tod sollte beleidigt haben; der Mensch sollte ihm vor die Pistole, der Unterricht zum mindesten sollte aufhören! Ich entsinne mich noch, daß ich schließlich die Nachtklingel an einer Apotheke ziehen mußte, um Brausepulver für ihn zu kaufen, und daß ich ihn in seiner Wohnung selber noch ins Bett packte. Er machte die Sache anderntags auch wirklich beim Direktor anhängig, und der gute Professor schrieb ihm dann: »J'attends Monsieur Marx pour sa leçon de Vendredi, je lui promets de ne pas le manger et d'oublier même sa singulière façon de me mettre à la porte.« – Wir andern lachten, und so war dieser Fall geschlichtet.
Marx hat mir einmal angedeutet, er sei, da er zum Musiker bestimmt gewesen, schon als Kind zu übermäßigem Klavierspiel angetrieben worden, er habe nachher oft seine kleinen Hände nicht stillhalten können; vielleicht lag hier der Urquell dieser Zustände.
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