Er machte die Sache anderntags auch wirklich beim Direktor anhängig, und der gute Professor schrieb ihm dann: »J'attends Monsieur Marx pour sa leçon de Vendredi, je lui promets de ne pas le manger et d'oublier même sa singulière façon de me mettre à la porte.« – Wir andern lachten, und so war dieser Fall geschlichtet.
Marx hat mir einmal angedeutet, er sei, da er zum Musiker bestimmt gewesen, schon als Kind zu übermäßigem Klavierspiel angetrieben worden, er habe nachher oft seine kleinen Hände nicht stillhalten können; vielleicht lag hier der Urquell dieser Zustände. Überdies trank er den stärksten Kaffee, bevor er sich des Morgens ans Klavier setzte, und rauchte scheußlich schweren Tabak, den er sich in grünen Blättern von einer Muhme in Lahr zu holen pflegte. Nun war in den ersten neuen Frühlingstagen auch noch jener Seufzer: »Linele!«, den wir bei unsrer Sängerfahrt zum ersten Mal von ihm gehört hatten, zu einer vollgerechten Liebschaft ausgewachsen. Allmählich hatte er alles mir anvertraut: die allerliebste Tischlermeistertochter wohnte ihm gerade gegenüber, durch die Fenster hatten sie sich zuerst gesehen, dann angesehen, blutrot und unter starkem Herzschlagen, dann hatten kleine Handbewegungen und Blumentöpfe ein Verständnis vermittelt; er hatte ihr ein Konzertbillett gesandt und, nachdem endlich die ewige Musik zu Ende gewesen, das junge blonde Kind durch manche überflüssige Gassen nach ihrer Wohnung hingeleitet. In sein Notizbuch, das er mir eines Tages aufgeschlagen in die Hand drückte, hatte er das alles deutsch und französisch durcheinander hingeschrieben: »Sa robe flottante résonna comme une harpe éolienne! Und wie ich den schön geformten Arm an meinem Herzen fühlte! Es zitterte mir ins Gehirn hinauf, und alles Denken wurde ausgelöscht. Wenn ich nur wüßte, ob sie gleicherweis empfunden hat!«
Es stand noch mehr in diesem Büchlein: »Am 2. Mai: Ich habe sie geküßt! Es ist zwar nicht zu glauben; aber es ist dennoch wahr.
›Wie kannst mi nur so lieb habe?‹ sagte sie.
›Weshalb nicht? Bist du nicht das süßeste Geschöpf zum Liebhaben?‹
›Ach, i weiß ja, i bin ja gar net schön!‹
Da nahm ich das liebe Wesen und hielt es ein wenig von mir und sah sie an; ich hatte selbst noch nicht daran gedacht. ›Nein, Linele‹ – ihre Augen schienen von meinen Lippen lesen zu wollen – ›schön bist du wohl nicht; aber weißt du, was hübsch ist? Ich glaub, Linele, du bist wunderhübsch!‹
Sie blickte mich ganz verworren an: ›Was sagst, Adolf? des verstand i net.‹
Und das Gesichtel sah so reizend dabei aus.
›Wenn ich es nur versteh, herztausiger Schatz!‹ rief ich fröhlich und küßte sie zum zweiten Mal.
›Ja freili, Adolf; aber jetzt sei brav; gelt?‹
Wo ist das Ende? Je ne pourrai jamais la laisser!«
Aber diese Liebe ließ ihn seine Pflicht niemals versäumen; wie eine Madonna erfüllte das Linele die Phantasie des Liebenden; sie war ihm Antrieb und Wächterin für alles Gute. So konnte denn auch der Handel den nächsten Freunden nicht verborgen bleiben; wenn wir auf sein Zimmer zur Versammlung kamen, unterließ wohl keiner, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, ob sich nicht etwa drüben der unschuldige Mädchenkopf bei der Gardine vorbeuge.
– – Es war Mitte Mai, und die Dämmerung war eben angebrochen, als ich mit Franz und Walther zu Marx ins Zimmer trat; er stand vor seiner offenen Schatulle und kramte in einem Pappkasten, in dem er allerlei Zierlichkeiten und Schnurrpfeifereien zu bewahren pflegte; durch das offene Fenster sahen wir drüben die weiße Gardine sich bewegen.
»Was machst du, Marx?« fragte einer.
»Bitte, tretet ein wenig leiser!« sagte er, »ihr sollt mir singen helfen!« Dann nahm er drei kleine mit Rosen bemalte Wachskerzen aus seinem Schatzkasten, zündete sie an und klebte sie vor dem offenen Fenster auf die Fensterbank, wo sie bei der Stille der Luft ruhig weiterbrannten.
»Was sind das für Anstalten?« frug Walther. »Was sollen wir denn singen? Ein Ave Maria?«
Marx hob beschwichtigend seine Hand: »Setz dich ans Klavier, Walther; ihr andern stellt euch neben mich! – ›Es waren!‹« raunte er dann zu Walther hinüber.
Wir wußten Bescheid; wir hatten seit unserer Sängerfahrt außer den »Tropfen von Tau« noch andere Lieder gesungen und brauchten keine Noten. Bald standen wir an Marx' Seite vor dem Fenster, und in gedämpftem Tone klang das alte Lied in den Maiabend hinaus:
Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb,
Sie konnten beisammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.
»Ach, Liebster, kannst du schwimmen,
So schwimm doch herüber zu mir;
Drei Kerzchen will ich anzünden,
Die sollen leuchten dir!«
Unserem Marx standen die dicken Tränen in den Augen, er war völlig »verturnt«, wie wir zu sagen pflegten; er drückte uns allen krampfhaft die Hand und warf sich dann in eine Sofaecke; drüben aber hatte die Gardine sich nicht mehr geregt.
Seit jenem Abend wurde das
für uns vier zum Signal; wir sangen oder pfiffen es, sei es, daß einer den andern von der Gasse aus zum Spaziergang herabrufen oder ihm sonst nur von dort etwas nach seinem hohen Kämmerlein hinauf zu melden hatte.
So gingen mehrere Monate hin; Marx war von höchstem Fleiße und gewann eine Innerlichkeit des Vortrags, die ich ihm zuvor nicht zugetraut hatte. Zwar im technischen Klavierspiel hatte er, vielleicht infolge jener verfrühten Übungen, mich schon lange überholt; er hatte begonnen, wenn wir allein waren, mir schwierige Sachen ohne Anstoß vorzuspielen; aber es war mir mitunter schwer erträglich geworden, denn ich meinte zu fühlen, daß ihm etwas fehle, das mit dem Kern und Urquell aller Musik zusammenhing, was ich selber in mir trug, aber derzeit wegen mangelnder Technik nicht zum vollen Ausdruck bringen konnte. Bei der Reizbarkeit des Freundes wagte ich lange kein Wort darüber gegen ihn zu äußern; als ich mich später dennoch dazu überwand, gab er es freundlich zu; nur einmal sagte er traurig: »Mais – cela restera, mon ami.«
Jetzt aber wurde alles anders; namentlich mit Chopin ging er in den tiefsten Abgrund. Wie oft saß ich ihm nun zur Seite am Klavier, nur bittend, daß er es noch einmal und noch zum drittenmal spiele; endlich aber, wenn von der Gasse herauf der Wächterruf dazwischenklang, sprang er plötzlich auf, raffte seine Noten zusammen; und mich umarmend, rief er: »Genug, lieb Herze; da ist der Zuberklaus! Wie freut's mich, daß du heut zufrieden warst!« Und ehe ich mich besonnen hatte, war er schon zur Tür hinaus; aber ich stieg doch langsam hintennach, um unten für ihn aufzuschließen. »Es waren zwei Königskinder!« hörte ich ihn dann noch einmal im Fortgehen auf der Gasse pfeifen.
Auch das wurde wieder anders, oder vielmehr, es ging zurück; dieser glückliche Zustand, den ich in Gedanken »Linele« überschrieb, hörte auf. Wenn ich ihn bat, mir vorzuspielen, so hatte er immer einen andern Grund, es abzulehnen, und wenn es einmal geschah, so war es nur das Spiel von früher. Seine Stunden und Vorlesungen besuchte er zwar, aber er tat alles ohne innere Teilnahme; in der »Drehorgel«, wo er in den letzten Monaten am lebhaftesten die Register angezogen hatte, saß er jetzt schweigend mit gestütztem Kopf vor seinem Seidel. Ich sah das eine Zeit mit an; dann faßte ich einmal seine Hand: »Was ist dir, Marx? Du spielst seit einiger Zeit wieder so seelenlos, so wie ein Automat – ja so, als hättest du dein Linele verloren!«
Da fiel er mir um den Hals: »Ich hab sie auch verloren!« Und nun erfuhr ich's denn; seit einigen Wochen hatte das Mädchen den Fenstersitz vermieden; war sie einmal dagewesen, dann hatte sie seine ihr so wohlverständlichen Aufforderungen zu neuen Zusammenkünften mit traurigem Kopfschütteln abgelehnt; in der letzten Woche war sie völlig unsichtbar geblieben.
»Und wo«, frug ich halb neckend, »hatte sie denn ihre Hand, als sie so hübsch ihr blondes Köpfchen schüttelte?«
Seine Augen leuchteten auf, als habe er was Verlorenes gefunden. »Ihre Hand? Ja, die drückte sie auf die Brust.«
»Siehst du«, sagte ich, »das Herz ist noch dasselbe; das andere sind nur Liebesirrwege; du mußt ihr wieder auf den rechten Weg helfen!«
Aber er wollte es nicht zugeben. »Nein, Freund, es ist wie in unserem alten Liede:
Das hört' ein falsches Nönnchen,
Die tät, als wenn sie schlief;
Sie tät die Kerzen auslöschen,
Der Jüngling ertrank so tief.«
Und er starrte düster vor sich hin.
»Marx!« rief ich, »ich fürchte nur, du selber bist das Nönnchen!« Denn er litt wie an prickelndem Ehrgeiz, so auch an einem gesellschaftlichen Hochmut; sein Vater war in den besten Familien ein geschätzter Mann und stand in freundlichem Verkehr mit ihnen; der Sohn hatte oft nicht ohne Gewicht zu mir davon gesprochen. Und jetzt liebte er eine Handwerkerstochter mit der ganzen Heftigkeit seines Wesens; ein sonst tadelloses Mädchen, aber sie sprach nicht ganz richtig Deutsch, sie schwäbelte ein wenig, was zwar von den jungen Lippen lieblich klang; von Französisch gar war ihr Gewissen völlig frei. Schon aus seinem Tagebuch, hatte ich es herausgelesen, daß diese Gegensätze ihn gequält hatten. Wie leicht, bei dem lebhaften Menschen, konnte in ihrer Gegenwart ein Wort darüber ihm entschlüpft sein und eine kühlere Überlegung in dem Mädchen wachgerufen haben.
Ich sagte ihm dies alles, aber er wollte mir nichts zugeben.
Am zweiten Tage danach – ich wußte, er hatte ihr noch einmal geschrieben – hörte ich unter meinem Fenster die »Königskinder« pfeifen. Als ich öffnete, stand Marx auf der Gasse und nickte heiter zu mir herauf.
»Guten Morgen!« rief ich hinab. »Du siehst ja gewaltig fröhlich aus!«
Er nickte: »Sehr!« rief er hinauf. Dann hielt er die hohle Hand an seinen Mund: »Ich – soll« – und er schrieb mit dem Finger ein großes L in die Luft – »heut abend – sehen!«
»Gratuliere!« rief ich; und er nickte wieder und eilte frohen Schritts von dannen.
Es war schon gegen Oktober, an einem Mittwochabend; ich hatte mich eben für die »Drehorgel« angezogen, hatte den Hut schon auf dem Kopf und bürstete nur noch einige Fäserchen von den Kleidern, da stürmte es die Treppe hinauf; meine Tür wurde aufgerissen, und Marx stand vor mir, totenblaß, sagte aber nichts, sondern begann in meinem geräumigen Zimmer auf und ab zu schreiten, knirschte mit den Zähnen, und ich sah, wie seine Finger heftig in der Luft spielten.
»Was ist nun wieder?« rief ich, »hast du sie neulich abends nicht getroffen?«
»Ja, was ist?« sagte er, indem er stehenblieb. »Als ich in den Lauerschen Garten kam, wohin sie mich bestellt hatte, lief ich lang und konnte sie nicht finden. Aber ich fand sie doch; in einem wüsten, vernachlässigten Winkel stand sie neben einer verfallenen Laube und riß wie in Gedanken die gelben Blätter von den Zweigen. Oh, mon ami, sähest du je die Trauer in Augen von sechzehn Jahren? – ›I hab dir was z'sagen, Adolf; deswege bin i komme‹, hob sie zitternd an, aber sie kam nicht weiter, sie brach in bitterliche Tränen aus und sagte dann: ›'s druckt mir's Herz ab, aber i muß, i muß!‹ Sie schwieg; ich wartete umsonst; aber dann plötzlich schlug sie die Arme um meinen Nacken und küßte mich, als ob sie mich ersticken wollte. ›O, Adolf, guck, z' Tod möcht i di drucke und mi selber mit!‹«
Marx begann wieder auf und ab zu gehen.
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