»D' Soldate send wüescht mit em umgange, nu – – Sie werdet's selber sea.«
Nachdem ich darauf Franz in seiner Wohnung abgeholt hatte, gingen wir nach Marx' Zimmer, und wir beide suchten aus dessen Kommode das Nötigste zusammen; dann beluden wir einen Knaben mit den Kleidern und begaben uns nach dem Rathause. Auf Befragen kam ein Mann mit schwerem Schlüsselbund, der uns durch mehrere Gänge in ein großes Gemach führte, wo viele Schreiber arbeitend an großen Tischen saßen. Hier schloß er seitwärts eine Tür auf, und wir traten in einen engen, scheinbar leeren Raum; nur in einer Ecke lag ein Haufen Heu und Stroh; daneben stand ein gefüllter hölzerner Napf mit ebensolchem Löffel, aus dem eine warme Flüssigkeit dampfte. Aus dem Streuhaufen erhob sich eine schwarze Gestalt, in der wir mit Mühe unsern Freund erkannten. Schwarz auch im Gesicht und an den Händen, wie vor Frost zitternd, streckte er seine Arme uns entgegen; wir sahen bald, daß er von oben bis unten mit Kienruß eingerieben war. »Du bist krank«, sagte ich; »nimm doch einen Löffel von der warmen Suppe da!«
»Das soll ich fressen!« rief er grimmig und schüttelte sich schaudernd; »Gefangenenkost, nein, nein; ich ertrag das nicht, es gibt noch Wege aus der Welt heraus.«
Wir kannten diese Reden und achteten nicht darauf, obgleich er sie ein paarmal wiederholte und dabei wie mitleidig auf seine feinen Hände sah. Franz war fortgegangen und kam nun zurück. »Du bist frei«, sagte er, »du kannst nach Hause gehen, wann du willst; aber erst müssen wir aufs Bureau und wegen der an dir verübten Niedertracht eine Anzeige zu Protokoll geben!«
Marx wollte nicht in seinem jetzigen Zustande; aber Franz bestand darauf, das gehöre mit dazu; überhaupt, hier könne er nicht gereinigt werden.
Als wir in hellere Räume traten, sahen wir erst, wie er zugerichtet war. »Ich bin geschändet, mein Leib ist ganz geschändet!« murmelte er.
»Marx, laß die dummen Reden!« hörte ich Franz sagen, indem er ihn die Treppe nach dem Bureau hinaufführte, »wenn du dich gewaschen hast, so ist die Schande aus!« – Sie stiegen weiter; ich ging aus dem Rathause, um eine verdeckte Droschke zu besorgen; und nach einer Weile fuhren wir mit Marx und seinen frischen Kleidern in irgendein Bad, und nachdem er mit vieler Mühe gereinigt und anders gekleidet war, in den Saal unserer ›Drehorgel‹, wo wir uns und vor allem unsern Freund durch einige Seidel und Bratwürstel wieder aufzurichten suchten.
Aber seit jener Nacht ging es dennoch abwärts mit unserem lieben Lavendel; sein Gang wurde schleichend, sein Gesicht magerer und seine Augen größer; niemals habe ich seitdem einen Wohlgeruch an ihm verspürt, der sonst bald in Rosen-, bald in Veilchen-, oder in dem Dufte seines Namens seinem wohlgepflegten Haar entströmte; am Klavier saß er nur noch, um den Lehrern gerecht zu werden oder um die Zeit nur hinzubringen; ich konnte mich nicht mehr überwinden, ihn zum Chopinspielen aufzufordern. Er wurde so reizbar, daß die andern Freunde sich allmählich von ihm zurückzogen und er seinen Umgang fast auf mich beschränkte. »Siehst du«, sagte er, »sie verachten mich! Sie wollen mich nicht mehr!« – Dann bat ich sie, und sie näherten sich ihm wieder; aber bei nächster Gelegenheit hatte er sie wieder aufs neue von sich gestoßen.
Man sagt von mir, daß ich ein geduldiger Mensch sei, und wenn ich an jene Zeit zurückdenke, so möchte ich es fast selber glauben. Einmal war Marx polizeilich vernommen worden; dann schien die Sache stillzustehen, wahrscheinlich war sie dem Gerichte übergeben worden; Vorladungen gelangten nicht an Marx. So ging eine Woche nach der anderen hin; er wurde immer aufgeregter und die häufigen Abendspaziergänge mit ihm immer peinlicher. »Geschändet! Geschändet!« begann er jetzt wieder zu murmeln, wenn er eine Weile in sich versunken neben mir gegangen war. Und wenn ich dawider sprach, dann fuhr er auf: »Du kannst das nicht beurteilen! Aus allen Ecken glotzt es auf mich zu; jeder Gassenbube! Ich möchte ihn an die Ohren schlagen! Mein Name, mein guter Name als nächtlicher Trunkenbold und Ruhestörer in den Straflisten! Als Bestrafter dem Direktorium des Konservatoriums angezeigt! Komm!« rief er plötzlich, ergriff meine Hand und zog mich aus der Allee, in der wir gingen, in einen Seitenweg; »es ist so hell hier; hier sind so viele Leute! Was fang ich an? Es ist alles aus; ich kann mich nicht mehr sehen lassen. – Und die Zeitungen! Weißt du, die beiden Redakteure, die im Winter mit uns aßen! Ich begegne ihnen jeden Augenblick; die frechen Kerle sehen mich schon als ihre Beute an; das gibt einen Artikel – ah, sacré nom de Dieu!« Und er knirschte mit den Zähnen.
Ich suchte ihn zu beruhigen; jeden Abend redete ich dasselbe und jeden Abend umsonst, und immer wieder begann dasselbe Spiel aufs neue.
Die Justiz war ihm gleich einem furchtbaren gespenstischen Raubvogel, der unsichtbar über ihm schwebe, jeden Augenblick bereit, auf ihn herabzustoßen und mit den unentrinnbaren Krallen ihn zu packen. Wenn ich bei einem Besuche etwas heftig an seine Tür geklopft hatte, starrte er bei meinem Eintritt mir schier verstört entgegen: »Du? – Wie hast du mich erschreckt!« Saßen wir dann zusammen, und es wurden Schritte auf der Treppe laut, dann stand er auf und sagte zitternd: »Da kommt wohl der Gerichtsdiener, um mich vorzuladen!« Kam auf der Straße ein solcher uns entgegen, so zwang er mich, mit ihm umzukehren oder in irgendeinen Laden einzutreten, bis der Mann vorbei war, oder wenn ich nicht wollte, verließ er mich und kam nicht wieder. »Ich halt's nicht aus«, rief er einmal, »wenn das nicht bald zu Ende ist!«
– – Eines Oktoberabends, da ich versprochenermaßen zu ihm ging, sah ich auf dem Trottoir eine Mädchengestalt vor mir herschreiten, die mich auffallend an Linele erinnerte; sie hatte ein dunkles Tüchlein um den Kopf, und ich sah blonde Härchen von den Schläfen wehen, als sie eben unter einer Straßenleuchte ging. Sollte sie wieder in Stuttgart sein? Marx hatte mir kein Wort davon gesagt. Ich machte große Schritte, um sie einzuholen; als ich sie erreicht hatte, wandte sie den Kopf, und ich hatte mich nicht getäuscht, sie war es selber, die mit großen Kinderaugen mich so erschrocken ansah. Sie kannte mich, sie wußte von Marx, daß ich in ihr Verhältnis zu diesem völlig eingeweiht war; aber – ob wir beiden jungen Menschen im Augenblick das Richtige nicht zu finden wußten und es deshalb für immer versäumten – sie zögerte ein paar Sekunden; dann erwiderte sie meinen Gruß und schritt eilig mir voraus. Ich gewahrte noch, wie ein Begegnender ihr mit unverschämter Gebärde ins Gesicht sah, und hörte, wie sie einen leichten Schrei ausstieß; auch da trat ich nur laut einige Schritte vorwärts, so daß der Mensch sie gehen ließ; vergebens sagte ich mir später, daß sie mich traurig und wie hülfeflehend angesehen habe.
Stürmisch stieg ich die Treppen zu Marx hinauf. Er saß müßig im Sofa und hatte mit seinem scheußlichen Knaster das ganze Zimmer vollgedampft. »Du lärmst ja über die Maßen. Ist irgendwo der Himmel eingestürzt?« frug er gereizt und blies einen dicken Qualm von sich.
»Es geht nur dich an«, erwiderte ich. »Weißt du, daß dein Linele wieder hier ist? Ich bin ihr eben erst vorbeigegangen.«
Er sah mich lange wie mit toten Augen an. »Ich weiß es«, sagte er dann.
»Du hast sie schon gesprochen?«
»Was meinst du?«
Ich wiederholte meine Worte.
»Nein«, sagte er, »ich will sie auch nicht sprechen.«
»Du willst nicht? Weshalb willst du nicht?«
»Nein«, und er streckte seine Hände aus und schien sie voll Mitleid zu betrachten, »das kann ich nicht; ich darf das reine Kind mit diesen Händen nicht berühren. Ach, lieb Herze, ich glaube, es ist alles aus.«
Dann nahm er seine Pfeife wieder und vergrub sich in der Sofaecke.
»Ich glaube, du bist ein Narr geworden!« schrie ich.
Aber er nickte nur: »Ich glaube es selbst mitunter.«
Ob Linele seinen Zustand ahnte; ob sie nicht oft hinter ihrer Gardine beklommen und verlangend zu ihm hinüberlauschte, davon erfuhr ich nichts; denn es kam keine Gelegenheit wieder, mit ihr zu reden; an sie zu schreiben aber wagte ich nicht.
Es waren noch köstliche Herbsttage; Marx hatte ich eine kurze Zeit nicht gesehen, ich war mit den übrigen Freunden von einem Sonnabend zum Montag auf Wanderungen in dem schönen Neckartal gewesen, wozu ich vergebens auch ihn zu bereden versucht hatte. Jetzt war es am 24. Oktober, noch früh am Vormittag; und ich werde das Datum nie vergessen.
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