– ›I kann nit, und wenn i sterbe müeßt!‹ rief sie. – Sie hatte mich in die Laube gezogen und den Kopf an meine Brust gelegt. ›Laß mi bei dir sein!‹ sprach sie leise, ›morgen will i dir alles schreibe!‹ Das war das Ende. Aber heute abend, eben – lies! Das hab ich mit der Post bekommen!« Und er griff in die Tasche und warf ein offenes Schreiben vor mir auf den Tisch.
Ich nahm es auf und las; es war von schulmäßiger Mädchenhand geschrieben: »Ich hab gestern Abschied von Dir nommen, Adolf: Du bist mein Einzigs auf der Welt; aber es ging doch so nit meh; Dein Vater ist ein fürnehmer Gelehrter, und ich bin nur ein Meistertochter, das paßt nit z'sammen. – Ich schick Dir auch Dein liebs Bild wieder, das Du mir geschenkt hast; ich darf's nit anschaun mehr. Aber behalt Du meines, ihr Männer habt ja stärkere Natur. Oh, mei Schatz, mei lieber Schatz, und so b'hüt Di Gott viel tausendmal!«
Es war nicht so gar leicht zu lesen, denn statt manchen Wortes war nur eine Tränenspur. »Und um dies liebe Blatt verzweifelst du?« frug ich. »Du siehst nun, daß du selbst dein Nönnchen warst!«
»Was hilft's!« rief er; »sie ist fort, Gott weiß, wohin; zu einer Tante oder Muhme, irgendwohin in der weiten Welt!« Er hatte sich auf einen Stuhl geworfen; nun sprang er wieder auf: »Komm, wir wollen zur ›Drehorgel‹; es soll einen Rausch geben, einen Rausch, der mich die Weiber vergessen läßt, die uns das Herz aus der Brust nehmen und uns dann am Wege liegenlassen!«
»Du solltest lieber zu Bett gehen, als dir einen Rausch trinken!« sagte ich; denn er sah gottsjämmerlich aus.
»Zu Bett?« wiederholte er und knirschte mit den Zähnen. »Ja, in das letzte, um nicht wieder aufzustehen.«
Ich suchte es ihm auszureden; ich wollte mit ihm allein ins Freie gehen, aber er stampfte mit dem Fuße, als ich den entgegengesetzten Weg einzuschlagen suchte.
So gingen wir denn in die »Drehorgel«, die diesmal vollzählig versammelt war. Ich fand Franz und Walther und muß mir den Vorwurf machen, daß ich mich zu ihnen setzte, denn ich wurde so von Marx getrennt, der an ihnen vorbei in eine leere Ecke ging und dort allein an einem Tische Platz nahm. Aber ich hatte das Bedürfnis, eine Weile mit normalen Menschen zu verkehren, und bald auch waren wir in der lebhaftesten Unterhaltung, über das letzte Konzert, über den Chorgesang, über die Modulationslehre, die hier ein halbes Jahr in Anspruch nahm. Ich muß gestehen, ich dachte nicht an Marx; da, während ich eben für Wagner eine Lanze brach, klopfte ein vorübergehender Bekannter mich leise auf die Schulter: »Du, möchtest du nicht mal nach Marx sehen?«
Ich war aufgesprungen und fand ihn noch auf seinem platze: er saß mit verglasten Augen vor seinem halbgeleerten Seidel, das er eine Handbreit in die Höhe hob, dann aber wieder, ohne es berührt zu haben, niedersetzte; ich suchte vergebens, mit ihm zu reden. Um Hülfe zu holen, ging ich wieder zu den Freunden, fand aber nur noch Walther; und uns gelang es, den fast Sinnlosen aufzurichten und den Weg nach Hause mit ihm einzuschlagen. Als wir bei der Stiftskirche vorbeikamen, entriß er sich uns plötzlich und warf sich auf die steinernen Stufen zum Haupteingange. »So müde, ich bin so müde«; lallte er: »laßt mich, hier ist gut schlafen!« Damit streckte er sich und legte den Kopf auf seinen Arm. Da wir ihn vergebens aufzuziehen suchten, bat ich Walther: »Laß nur, ich will dich erst nach Haus begleiten; ich bringe ihn nachher schon fort!«
Walther, der wegen seines Tantenquartiers nicht gerne spät nach Hause kam, nahm meinen Vorschlag an. Als ich nach einer Viertelstunde zurückkehrte, lag Marx noch ebenso, er schien in festen Schlaf versunken. Ich strich ihm das dunkle Haar aus dem Gesicht und neigte mich zu ihm. »Komm!« rief ich ihm ins Ohr; »du sollst in deinem Bett jetzt weiterschlafen, und wenn du willst, so bleib ich bei dir!« Aber er schien es nicht zu hören; erst als ich ihn schüttelte, warf er sich herum und riß seine Schulter aus meiner Hand. »Laß mich, verfluchter Deutscher!« schrie er.
»Marx, Marx!« rief ich, »erkenne mich doch! Ich bin es ja, dein Freund, dein lieb Herze, dein nordischer Siebenschläfer!«
Aber er stieß mit seinem Fuß nach mir, und als ich aufsah, war die Schildwache, die in der Nähe vor einem öffentlichen Gebäude stand, herangetreten. »Se dürfet do koin so Lärm mache!« sagte der Soldat.
Das Gesicht des Trunkenen verzog sich, als ob er etwa ein rostiges Pistol zu spannen habe. »Prussien!« schrie er die über ihm stehende Wache an; »dummer deutscher Söldling!«
Ich erschrak und hielt den Mann zurück, der ihn ergreifen wollte. Von diesem französischen Feuer hatte ich nimmer etwas bei unserem Freunde brennen sehen; noch in den letzten Ferien hatte er mir aus Metz geschrieben: »Spazierengehen ist nicht viel; ich fürchte immer von den Franzosen überfallen zu werden.« Aber jetzt aus dem Berauschten redete die Nationalität der Mutter; er sprach Französisch und fluchte auf die Deutschen.
»Ich bitte, lassen Sie ihn!« sagte ich zu dem Soldaten. »Sie sehen, er weiß nicht, was er spricht; ich will einen Freund holen, dann bringen wir ihn nach Haus.«
Der stieß mit dem Gewehrkolben auf das Pflaster: »So machet Se tapfer, denn sottiche Sache derfet mer net dulde.«
Ich lief mehr, als ich ging; gleichwohl mochte über eine Viertelstunde vergangen sein, bis ich mit Franz zurückkam. – Aber Marx war nicht mehr da; es war alles still, nur die Schildwache wandelte wieder, hundert Schritte davon, an ihrem alten Platze auf und ab. Als wir zu ihr gingen, sah ich, daß es nicht mehr dieselbe war; doch soviel erfuhren wir: Marx war arretiert. Als wir zu dem entfernten Wachthause kamen, war er von dort schon auf die Polizei geschafft; auch dorthin gingen wir, aber wir standen vor einem dunklen und verschlossenen Hause. – So blieb uns nur, das eigene Bett zu suchen.
– – Am andern Morgen, es mochte etwa acht Uhr sein, erschien ein Polizist in meiner Stube und überreichte mir ein Schlüsselbund; er habe zu grüßen von Herrn Marx; ich möchte ihm doch Kleidung und reine Wäsche aus seiner Wohnung besorgen, er sei in der Nacht von der Wache auf die Polizei gebracht worden. Ich versprach das, aber der alte Graubart stand noch und schüttelte mißbilligend seinen Kopf.
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