So ging eine Woche nach der anderen hin; er wurde immer aufgeregter und die häufigen Abendspaziergänge mit ihm immer peinlicher. »Geschändet! Geschändet!« begann er jetzt wieder zu murmeln, wenn er eine Weile in sich versunken neben mir gegangen war. Und wenn ich dawider sprach, dann fuhr er auf: »Du kannst das nicht beurteilen! Aus allen Ecken glotzt es auf mich zu; jeder Gassenbube! Ich möchte ihn an die Ohren schlagen! Mein Name, mein guter Name als nächtlicher Trunkenbold und Ruhestörer in den Straflisten! Als Bestrafter dem Direktorium des Konservatoriums angezeigt! Komm!« rief er plötzlich, ergriff meine Hand und zog mich aus der Allee, in der wir gingen, in einen Seitenweg; »es ist so hell hier; hier sind so viele Leute! Was fang ich an? Es ist alles aus; ich kann mich nicht mehr sehen lassen. – Und die Zeitungen! Weißt du, die beiden Redakteure, die im Winter mit uns aßen! Ich begegne ihnen jeden Augenblick; die frechen Kerle sehen mich schon als ihre Beute an; das gibt einen Artikel – ah, sacré nom de Dieu!« Und er knirschte mit den Zähnen.
Ich suchte ihn zu beruhigen; jeden Abend redete ich dasselbe und jeden Abend umsonst, und immer wieder begann dasselbe Spiel aufs neue.
Die Justiz war ihm gleich einem furchtbaren gespenstischen Raubvogel, der unsichtbar über ihm schwebe, jeden Augenblick bereit, auf ihn herabzustoßen und mit den unentrinnbaren Krallen ihn zu packen. Wenn ich bei einem Besuche etwas heftig an seine Tür geklopft hatte, starrte er bei meinem Eintritt mir schier verstört entgegen: »Du? – Wie hast du mich erschreckt!« Saßen wir dann zusammen, und es wurden Schritte auf der Treppe laut, dann stand er auf und sagte zitternd: »Da kommt wohl der Gerichtsdiener, um mich vorzuladen!« Kam auf der Straße ein solcher uns entgegen, so zwang er mich, mit ihm umzukehren oder in irgendeinen Laden einzutreten, bis der Mann vorbei war, oder wenn ich nicht wollte, verließ er mich und kam nicht wieder. »Ich halt's nicht aus«, rief er einmal, »wenn das nicht bald zu Ende ist!«
– – Eines Oktoberabends, da ich versprochenermaßen zu ihm ging, sah ich auf dem Trottoir eine Mädchengestalt vor mir herschreiten, die mich auffallend an Linele erinnerte; sie hatte ein dunkles Tüchlein um den Kopf, und ich sah blonde Härchen von den Schläfen wehen, als sie eben unter einer Straßenleuchte ging. Sollte sie wieder in Stuttgart sein? Marx hatte mir kein Wort davon gesagt. Ich machte große Schritte, um sie einzuholen; als ich sie erreicht hatte, wandte sie den Kopf, und ich hatte mich nicht getäuscht, sie war es selber, die mit großen Kinderaugen mich so erschrocken ansah. Sie kannte mich, sie wußte von Marx, daß ich in ihr Verhältnis zu diesem völlig eingeweiht war; aber – ob wir beiden jungen Menschen im Augenblick das Richtige nicht zu finden wußten und es deshalb für immer versäumten – sie zögerte ein paar Sekunden; dann erwiderte sie meinen Gruß und schritt eilig mir voraus. Ich gewahrte noch, wie ein Begegnender ihr mit unverschämter Gebärde ins Gesicht sah, und hörte, wie sie einen leichten Schrei ausstieß; auch da trat ich nur laut einige Schritte vorwärts, so daß der Mensch sie gehen ließ; vergebens sagte ich mir später, daß sie mich traurig und wie hülfeflehend angesehen habe.
Stürmisch stieg ich die Treppen zu Marx hinauf. Er saß müßig im Sofa und hatte mit seinem scheußlichen Knaster das ganze Zimmer vollgedampft. »Du lärmst ja über die Maßen. Ist irgendwo der Himmel eingestürzt?« frug er gereizt und blies einen dicken Qualm von sich.
»Es geht nur dich an«, erwiderte ich. »Weißt du, daß dein Linele wieder hier ist? Ich bin ihr eben erst vorbeigegangen.«
Er sah mich lange wie mit toten Augen an. »Ich weiß es«, sagte er dann.
»Du hast sie schon gesprochen?«
»Was meinst du?«
Ich wiederholte meine Worte.
»Nein«, sagte er, »ich will sie auch nicht sprechen.«
»Du willst nicht? Weshalb willst du nicht?«
»Nein«, und er streckte seine Hände aus und schien sie voll Mitleid zu betrachten, »das kann ich nicht; ich darf das reine Kind mit diesen Händen nicht berühren. Ach, lieb Herze, ich glaube, es ist alles aus.«
Dann nahm er seine Pfeife wieder und vergrub sich in der Sofaecke.
»Ich glaube, du bist ein Narr geworden!« schrie ich.
Aber er nickte nur: »Ich glaube es selbst mitunter.«
Ob Linele seinen Zustand ahnte; ob sie nicht oft hinter ihrer Gardine beklommen und verlangend zu ihm hinüberlauschte, davon erfuhr ich nichts; denn es kam keine Gelegenheit wieder, mit ihr zu reden; an sie zu schreiben aber wagte ich nicht.
Es waren noch köstliche Herbsttage; Marx hatte ich eine kurze Zeit nicht gesehen, ich war mit den übrigen Freunden von einem Sonnabend zum Montag auf Wanderungen in dem schönen Neckartal gewesen, wozu ich vergebens auch ihn zu bereden versucht hatte. Jetzt war es am 24. Oktober, noch früh am Vormittag; und ich werde das Datum nie vergessen. Ich saß eben vertieft in eine Harmonieaufgabe auf meiner Sofabank, aber ich konnte augenblicklich nicht damit zustande kommen, die falschen Quinten quälten mich, und so sprang ich empor und riß das Fenster auf, um einen Augenblick frische Luft zu atmen, da sah ich Marx die Straße heraufkommen. Er ging langsam und schien nicht aufzusehen; als er näher kam, gewahrte ich, daß er ein Päckchen Papiere in seiner Hand hielt.
»Guten Morgen!« rief ich hinunter.
Er schrak sichtlich zusammen. »Guten Morgen!« rief er dann ebenfalls.
»Wohin willst du? Und was für Papiere trägst du da?«
»Ich bin wieder vorgeladen«, rief er hinauf, »ich gehe aufs Gericht!«
»Gott Dank! So wirst du ja die Torheit endlich mal los; mach's gut!«
Er nickte, aber schon im Weitergehen und ohne nach mir umzuschauen.
Ich hatte schon wieder ein Weilchen hinter meinen Noten gesessen und wollte eben zum Niederschreiben eines glücklichen Gedankens die Feder ansetzen, da war mir, als hörte ich es von der Straße her pfeifen; kaum hörbar, aber doch: »Es waren zwei Königskinder.«
Dann kam es noch einmal, ganz deutlich; ich warf die Feder hin und lief ans Fenster, das noch offenstand; ich weiß nicht, wie mir war; als ob ich Unheimliches erfahren sollte. Als ich mich umsah, gewahrte ich Marx an einer entfernten Straßenecke ; ich sah sein Antlitz nicht ganz deutlich, aber mir war, als blickte er mich unaussprechlich liebevoll und traurig an.
»Marx!« rief ich. Er antwortete nicht, er blieb nur unbeweglich stehen und sah mich immer an; dann nickte er mir noch einmal langsam zu, und dann war er verschwunden.
Ich schloß das Fenster und setzte mich wieder an meine Arbeit, um den vorhin gefaßten Gedanken niederzuschreiben; aber ich hatte ihn vergessen, ich konnte überhaupt nicht arbeiten; immer sah ich Marx so wunderlich an jener Ecke stehen und lautlos dann verschwinden. Weshalb denn hatte er mich gerufen? Was wollte er? Mich nur noch einmal sehen? Ich sprang auf. Nur noch einmal? Woher kam mir der Gedanke? Aber es war doch seltsam, und mir lag es wie ein Zentner auf der Brust.
Ich hatte eine Klavierstunde auf dem Konservatorium zu nehmen; ich zog mich an und ging auf einem längeren Umwege dahin. Als ich bei der Wohnung des Portiers vorbeiging, trat dessen Frau heraus und überreichte mir ein in Papier geschlagenes Päckchen. »Des soll i Ihne vom Herrn Marx gebe«, sagte sie, »aber sieht der jetzt aus! Brot könnt man mit ihm bettle.«
Ich erschrak heftig, denn es war offenbar dasselbe Päckchen, das ich vorhin in der Hand des Freundes gesehen hatte. Als ich in das Klavierzimmer trat, war noch niemand da, und ich machte mich mit zitternder Hand daran, die Bindfäden aufzulösen : seine mir bekannten Notizbücher mit den Bekenntnissen seiner Liebe; darin Lineles Bildnis, ein Papier mit blonden Härchen, zwei Konzertbillette für morgen, vertrocknete Blumen – das alles fand ich, aber kein aufklärendes Wort dabei.
Als der Professor eingetreten war, ging es mir wie Marx nach unserer Sängerfahrt: ich spielte ohne jeden Anstoß, die schwierigsten Passagen flogen mir nur so aus den Fingern, daß der Lehrer mich befremdet und doch höchst beifällig ansah. Aber es ging nicht länger, ich sprang auf: »Verzeihung, Herr Professor! Ich kann nicht länger spielen!«
»Ei, wie? Sie spielen ja heute über alle Maßen!«
»Eben deshalb!« Und ich erzählte ihm, was vorgefallen war.
Mein Lehrer war derselbe gütige Mann, der auch Marx unterrichtet hatte. Er war gleich mir erschrocken: »Das gibt ein Unheil!« rief er.
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