Ich muß gestehen, ich dachte nicht an Marx; da, während ich eben für Wagner eine Lanze brach, klopfte ein vorübergehender Bekannter mich leise auf die Schulter: »Du, möchtest du nicht mal nach Marx sehen?«
Ich war aufgesprungen und fand ihn noch auf seinem platze: er saß mit verglasten Augen vor seinem halbgeleerten Seidel, das er eine Handbreit in die Höhe hob, dann aber wieder, ohne es berührt zu haben, niedersetzte; ich suchte vergebens, mit ihm zu reden. Um Hülfe zu holen, ging ich wieder zu den Freunden, fand aber nur noch Walther; und uns gelang es, den fast Sinnlosen aufzurichten und den Weg nach Hause mit ihm einzuschlagen. Als wir bei der Stiftskirche vorbeikamen, entriß er sich uns plötzlich und warf sich auf die steinernen Stufen zum Haupteingange. »So müde, ich bin so müde«; lallte er: »laßt mich, hier ist gut schlafen!« Damit streckte er sich und legte den Kopf auf seinen Arm. Da wir ihn vergebens aufzuziehen suchten, bat ich Walther: »Laß nur, ich will dich erst nach Haus begleiten; ich bringe ihn nachher schon fort!«
Walther, der wegen seines Tantenquartiers nicht gerne spät nach Hause kam, nahm meinen Vorschlag an. Als ich nach einer Viertelstunde zurückkehrte, lag Marx noch ebenso, er schien in festen Schlaf versunken. Ich strich ihm das dunkle Haar aus dem Gesicht und neigte mich zu ihm. »Komm!« rief ich ihm ins Ohr; »du sollst in deinem Bett jetzt weiterschlafen, und wenn du willst, so bleib ich bei dir!« Aber er schien es nicht zu hören; erst als ich ihn schüttelte, warf er sich herum und riß seine Schulter aus meiner Hand. »Laß mich, verfluchter Deutscher!« schrie er.
»Marx, Marx!« rief ich, »erkenne mich doch! Ich bin es ja, dein Freund, dein lieb Herze, dein nordischer Siebenschläfer!«
Aber er stieß mit seinem Fuß nach mir, und als ich aufsah, war die Schildwache, die in der Nähe vor einem öffentlichen Gebäude stand, herangetreten. »Se dürfet do koin so Lärm mache!« sagte der Soldat.
Das Gesicht des Trunkenen verzog sich, als ob er etwa ein rostiges Pistol zu spannen habe. »Prussien!« schrie er die über ihm stehende Wache an; »dummer deutscher Söldling!«
Ich erschrak und hielt den Mann zurück, der ihn ergreifen wollte. Von diesem französischen Feuer hatte ich nimmer etwas bei unserem Freunde brennen sehen; noch in den letzten Ferien hatte er mir aus Metz geschrieben: »Spazierengehen ist nicht viel; ich fürchte immer von den Franzosen überfallen zu werden.« Aber jetzt aus dem Berauschten redete die Nationalität der Mutter; er sprach Französisch und fluchte auf die Deutschen.
»Ich bitte, lassen Sie ihn!« sagte ich zu dem Soldaten. »Sie sehen, er weiß nicht, was er spricht; ich will einen Freund holen, dann bringen wir ihn nach Haus.«
Der stieß mit dem Gewehrkolben auf das Pflaster: »So machet Se tapfer, denn sottiche Sache derfet mer net dulde.«
Ich lief mehr, als ich ging; gleichwohl mochte über eine Viertelstunde vergangen sein, bis ich mit Franz zurückkam. – Aber Marx war nicht mehr da; es war alles still, nur die Schildwache wandelte wieder, hundert Schritte davon, an ihrem alten Platze auf und ab. Als wir zu ihr gingen, sah ich, daß es nicht mehr dieselbe war; doch soviel erfuhren wir: Marx war arretiert. Als wir zu dem entfernten Wachthause kamen, war er von dort schon auf die Polizei geschafft; auch dorthin gingen wir, aber wir standen vor einem dunklen und verschlossenen Hause. – So blieb uns nur, das eigene Bett zu suchen.
– – Am andern Morgen, es mochte etwa acht Uhr sein, erschien ein Polizist in meiner Stube und überreichte mir ein Schlüsselbund; er habe zu grüßen von Herrn Marx; ich möchte ihm doch Kleidung und reine Wäsche aus seiner Wohnung besorgen, er sei in der Nacht von der Wache auf die Polizei gebracht worden. Ich versprach das, aber der alte Graubart stand noch und schüttelte mißbilligend seinen Kopf. »D' Soldate send wüescht mit em umgange, nu – – Sie werdet's selber sea.«
Nachdem ich darauf Franz in seiner Wohnung abgeholt hatte, gingen wir nach Marx' Zimmer, und wir beide suchten aus dessen Kommode das Nötigste zusammen; dann beluden wir einen Knaben mit den Kleidern und begaben uns nach dem Rathause. Auf Befragen kam ein Mann mit schwerem Schlüsselbund, der uns durch mehrere Gänge in ein großes Gemach führte, wo viele Schreiber arbeitend an großen Tischen saßen. Hier schloß er seitwärts eine Tür auf, und wir traten in einen engen, scheinbar leeren Raum; nur in einer Ecke lag ein Haufen Heu und Stroh; daneben stand ein gefüllter hölzerner Napf mit ebensolchem Löffel, aus dem eine warme Flüssigkeit dampfte. Aus dem Streuhaufen erhob sich eine schwarze Gestalt, in der wir mit Mühe unsern Freund erkannten. Schwarz auch im Gesicht und an den Händen, wie vor Frost zitternd, streckte er seine Arme uns entgegen; wir sahen bald, daß er von oben bis unten mit Kienruß eingerieben war. »Du bist krank«, sagte ich; »nimm doch einen Löffel von der warmen Suppe da!«
»Das soll ich fressen!« rief er grimmig und schüttelte sich schaudernd; »Gefangenenkost, nein, nein; ich ertrag das nicht, es gibt noch Wege aus der Welt heraus.«
Wir kannten diese Reden und achteten nicht darauf, obgleich er sie ein paarmal wiederholte und dabei wie mitleidig auf seine feinen Hände sah. Franz war fortgegangen und kam nun zurück. »Du bist frei«, sagte er, »du kannst nach Hause gehen, wann du willst; aber erst müssen wir aufs Bureau und wegen der an dir verübten Niedertracht eine Anzeige zu Protokoll geben!«
Marx wollte nicht in seinem jetzigen Zustande; aber Franz bestand darauf, das gehöre mit dazu; überhaupt, hier könne er nicht gereinigt werden.
Als wir in hellere Räume traten, sahen wir erst, wie er zugerichtet war. »Ich bin geschändet, mein Leib ist ganz geschändet!« murmelte er.
»Marx, laß die dummen Reden!« hörte ich Franz sagen, indem er ihn die Treppe nach dem Bureau hinaufführte, »wenn du dich gewaschen hast, so ist die Schande aus!« – Sie stiegen weiter; ich ging aus dem Rathause, um eine verdeckte Droschke zu besorgen; und nach einer Weile fuhren wir mit Marx und seinen frischen Kleidern in irgendein Bad, und nachdem er mit vieler Mühe gereinigt und anders gekleidet war, in den Saal unserer ›Drehorgel‹, wo wir uns und vor allem unsern Freund durch einige Seidel und Bratwürstel wieder aufzurichten suchten.
Aber seit jener Nacht ging es dennoch abwärts mit unserem lieben Lavendel; sein Gang wurde schleichend, sein Gesicht magerer und seine Augen größer; niemals habe ich seitdem einen Wohlgeruch an ihm verspürt, der sonst bald in Rosen-, bald in Veilchen-, oder in dem Dufte seines Namens seinem wohlgepflegten Haar entströmte; am Klavier saß er nur noch, um den Lehrern gerecht zu werden oder um die Zeit nur hinzubringen; ich konnte mich nicht mehr überwinden, ihn zum Chopinspielen aufzufordern. Er wurde so reizbar, daß die andern Freunde sich allmählich von ihm zurückzogen und er seinen Umgang fast auf mich beschränkte. »Siehst du«, sagte er, »sie verachten mich! Sie wollen mich nicht mehr!« – Dann bat ich sie, und sie näherten sich ihm wieder; aber bei nächster Gelegenheit hatte er sie wieder aufs neue von sich gestoßen.
Man sagt von mir, daß ich ein geduldiger Mensch sei, und wenn ich an jene Zeit zurückdenke, so möchte ich es fast selber glauben. Einmal war Marx polizeilich vernommen worden; dann schien die Sache stillzustehen, wahrscheinlich war sie dem Gerichte übergeben worden; Vorladungen gelangten nicht an Marx.
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