Reed die Empfehlung, mich doch in eine Schule zu schicken. Und ohne Zweifel wurde dieser Rat sehr bereitwillig angenommen, denn als ich an einem der folgenden Abende im Bett lag und Bessie und Abbot mich schlafend glaubten, sagte Letztere: »Ich glaube, die gnädige Frau ist nur zu froh, solch ein langweiliges, boshaftes Kind loszuwerden; sie sieht immer aus, als beobachte sie jeden Menschen und schmiede heimliche Pläne.« Ich glaube wahrhaftig, dass Abbot mich für einen verschlagenen Attentäter, eine Art kindlichen Guy Fawkes hielt.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch aus Miss Abbots Mitteilungen an Bessie, dass mein Vater ein armer Pastor gewesen war, den meine Mutter gegen den Willen ihrer Angehörigen geheiratet hatte, welche diese Heirat für erniedrigend hielten. Mein Großvater Reed war so erzürnt über den Ungehorsam meiner Mutter, dass er sie gänzlich enterbte. Nachdem er kaum ein Jahr mit meiner Mutter verheiratet gewesen war, holte sich mein Vater den Typhus in den armen Vierteln der großen Fabrikstadt, in welcher seine Pfarre lag. Meine arme Mutter folgte dann ihrem Gatten kaum einen Monat später ins Grab.

Als Bessie diese Erzählung anhörte, seufzte sie und sagte: »Abbot, die arme Miss Jane ist wirklich zu bedauern.«

»Ja, ja«, entgegnete Abbot. »Wenn sie ein liebes, gutes, hübsches Kind wäre, so könnte man wohl Mitleid mit ihr haben, weil sie so gänzlich verlassen ist. Aber solch eine scheußliche kleine Kröte kann einem doch unmöglich Erbarmen einflößen.«

»Nein, nicht viel«, stimmte Bessie ihr bei, »auf jeden Fall würde eine so prächtige Schönheit wie Miss Georgiana in einer solchen Lage viel rührender wirken.«

»Ja, ich bete Miss Georgiana an!«, rief die begeisterte Abbot. »Der kleine süße Liebling! Mit ihren langen Locken, blauen Augen und der frischen Farbe, gerade wie gemalt! – Weißt du was, Bessie, ich bekomme wahrhaftig Appetit auf geröstetes Brot mit Käse zum Abend.«

»Ich auch, ich auch – mit geschmorten Zwiebeln. Kommen Sie, wir wollen hinuntergehen.«

Und sie gingen.

Viertes Kapitel

 

Aus meiner Unterredung mit Mr. Lloyd und dem soeben geschilderten Gespräch zwischen Abbot und Bessie schöpfte ich Hoffnung genug, um den Wunsch nach Genesung zu hegen. Eine Veränderung schien bevorzustehen, und ich hoffte und wartete im Stillen. Die Sache verzögerte sich indessen. Die Tage und Wochen vergingen, mein Gesundheitszustand war wieder normal, aber ich vernahm keine Hinweise mehr auf den Gegenstand, über welchen ich grübelte. Oft betrachtete Mrs. Reed mich mit strengen, finsteren Blicken, aber nur selten sprach sie zu mir. Seit meiner Krankheit hatte sie eine schärfere Grenzlinie denn je zwischen mir und ihren eigenen Kindern gezogen; mir war eine kleine Kammer als Schlafgemach zugewiesen worden, man hatte mich verurteilt, meine Mahlzeiten allein einzunehmen, und ich musste allein im Kinderzimmer verweilen, während ihre Kinder sich stets im Wohnzimmer aufhielten. Indessen gab es noch immer keine Anzeichen von dem Plan, mich in eine Schule zu schicken. Und doch hegte ich die instinktive Gewissheit, dass sie mich nicht mehr lange unter ihrem Dach dulden würde, denn mehr denn je las ich in Mrs. Reeds Blicken ihren unüberwindlichen und tief verwurzelten Abscheu.

Eliza und Georgiana handelten augenscheinlich nach Instruktionen, da sie so wenig wie möglich mit mir sprachen. John streckte die Zunge heraus, sobald er mich nur erblickte, und einmal versuchte er sogar, mich zu schlagen. Da ich mich aber augenblicklich gegen ihn wandte und er in meinen Blicken dieselbe Wut wahrnahm, mit welcher ich mich schon einmal gegen ihn aufgelehnt hatte, hielt er es für besser, abzulassen und unter lauten Verwünschungen davonzulaufen, während er schrie, ich hätte ihm das Nasenbein zertrümmert. Tatsächlich hatte ich nach diesem hervorspringenden Gesichtsteil einen Schlag geführt, so heftig, wie meine Knöchel ihn nur auszuteilen vermochten. Und als ich bemerkte, dass entweder dieser Schlag oder aber meine Blicke ihn wirklich eingeschüchtert hatten, verspürte ich die größte Neigung, meinen Vorteil noch weiter auszubeuten. Er war indessen schon zu seiner Mutter gelaufen. Ich hörte, wie er mit stammelnden Lauten eine Geschichte begann, wie »diese abscheuliche Jane Eyre«, einer wilden Katze gleich, auf ihn gesprungen sei. Mit strenger Stimme unterbrach ihn jedoch seine Mutter:

»Sprich mir nicht von ihr, John, ich habe dir gesagt, dass du ihr nicht zu nahe kommen sollst. Sie ist deiner Beachtung nicht wert, und ich will nicht, dass du dich mit ihr abgibst. Und für deine Schwestern gilt das Gleiche.«

In diesem Augenblick lehnte ich mich über das Treppengeländer und schrie plötzlich, ohne im Geringsten über meine Worte nachzudenken:

»Nein, sie sind es nicht wert, mit mir zu verkehren!«

Mrs. Reed war eine ziemlich starke Frau; als sie indessen diese seltsamen und dreisten Worte vernahm, kam sie ganz leichtfüßig die Treppe heraufgerannt und zerrte mich mit Windeseile ins Kinderzimmer, und indem sie mich an die Seite meines kleinen Bettes drückte, verbot sie mir mit pathetischer Stimme, mich von dieser Stelle fortzurühren oder während des ganzen Tages auch nur noch ein einziges Wort zu sprechen.

»Was würde Onkel Reed jetzt sagen, wenn er noch lebte?«, war meine fast willenlos gestellte Frage. Ich sage ›fast willenlos‹, denn es war, als spräche meine Zunge diese Worte aus, ohne dass mein Wille darum wusste – es sprach etwas aus mir, worüber ich keine Gewalt hatte.

»Was?«, zischte Mrs.