Er starb in jenem Zimmer und lag dort aufgebahrt. Weder Bessie noch sonst jemand geht am Abend da hinein, wenn es nicht dringend nötig ist. Und es war furchtbar grausam, mich dort allein und ohne Licht einzuschließen – so grausam, dass ich glaube, ich werde es niemals vergessen können.«
»So ein Unsinn! Das macht Sie so elend? Fürchten Sie sich jetzt bei Tage auch noch?«
»Nein. Aber es dauert nicht lange und dann wird es wieder Nacht. Und außerdem bin ich unglücklich, sehr unglücklich, um anderer Dinge willen.«
»Was für Dinge denn? Können Sie mir die nicht nennen?«
Sosehr ich wünschte, offen und ehrlich auf diese Frage antworten zu können, so schwer war es, die richtigen Worte für eine solche Antwort zu finden. Kinder können wohl empfinden, aber sie können ihre Empfindungen nicht zergliedern, und wenn ihnen die Zergliederung zum Teil auch in Gedanken gelingt, so wissen sie nicht, wie sie das Resultat dieses Vorganges in Worte kleiden sollen. Da ich aber fürchtete, dass diese erste und einzige Gelegenheit, meinen Kummer durch Mitteilung zu erleichtern, ungenützt vorübergehen würde, gelang es mir nach einer Weile schließlich doch noch, eine unzulängliche, aber wahre Antwort hervorzubringen.
»Erstens habe ich keinen Vater, keine Mutter, keinen Bruder und keine Schwester.«
»Aber Sie haben eine gütige Tante, liebe Cousinen und einen Vetter.«
Wiederum hielt ich inne, dann rief ich aus:
»Aber John Reed hat mich zu Boden geschlagen, und meine Tante hat mich im Roten Zimmer eingesperrt!«
Zum zweiten Mal holte Mr. Lloyd seine Schnupftabaksdose hervor.
»Finden Sie denn nicht, dass Gateshead Hall ein wunderschönes Haus ist?«, fragte er. »Sind Sie nicht dankbar, an einem so schönen Ort leben zu können?«
»Es ist nicht mein eigenes Haus, Herr, und Abbot sagt, dass ich weniger Recht habe, hier zu sein, als ein Dienstbote.«
»Dummes Zeug! Sie können doch nicht so dumm sein, zu wünschen, dass Sie einen so herrlichen Ort wie diesen verlassen wollen?«
»Wenn ich nur wüsste, wohin ich gehen sollte, ich wäre wahrhaftig froh zu gehen. Aber ich darf Gateshead erst verlassen, wenn ich erwachsen bin.«
»Vielleicht doch auch früher, wer weiß? Haben Sie außer Mrs. Reed denn keine Verwandten?«
»Ich glaube nicht, Sir.«
»Niemanden, der mit Ihrem Vater verwandt war?«
»Ich weiß es nicht. Einmal fragte ich Tante Reed, und da sagte sie, dass ich möglicherweise irgendwelche armen, heruntergekommenen Verwandten namens Eyre haben könnte, dass sie aber nichts über sie wisse.«
»Würden Sie denn zu denen gehen wollen, wenn es solche Leute gäbe?«
Ich besann mich. Armut – das klingt für erwachsene Menschen abschreckend, für Kinder aber noch mehr. Kinder haben keinen Sinn für fleißige, arbeitsame, ehrenhafte Armut, das Wort erweckt in ihnen nur Gedanken an zerlumpte Kleider, kärgliche Nahrung, einen kalten Ofen, rohe Manieren und entwürdigende Laster. Auch für mich war Armut gleichbedeutend mit Entehrung.
»Nein! Ich möchte nicht bei armen Leuten leben«, war daher meine Antwort.
»Auch nicht, wenn diese gütig gegen Sie wären?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht begreifen, wie arme Leute überhaupt die Mittel haben sollten, gütig zu sein. Und sollte ich etwa reden wie sie, ihre Manieren annehmen, schlecht erzogen werden, aufwachsen wie eines jener armen Weiber, die ich zuweilen vor den Hütten ihre Kinder warten und ihre Kleider waschen sah? Nein, ich war nicht heroisch genug, meine Freiheit um den Preis meiner Kaste zu erkaufen.
»Aber sind Ihre Verwandten denn wirklich so arm? Gehören sie zur arbeitenden Klasse?«
»Das weiß ich nicht. Tante Reed sagt, wenn ich überhaupt Angehörige habe, so müssen sie Bettlergesindel sein. Nein, nein, ich möchte nicht betteln gehen.«
»Möchten Sie gerne in die Schule gehen?«
Wieder dachte ich nach; wusste ich doch kaum, was eine Schule eigentlich war. Bessie sprach zuweilen davon wie von einem Ort, an dem man von jungen Damen erwartete, dass sie außerordentlich manierlich und geziert sind. John Reed hasste seine Schule und schmähte seinen Lehrer, aber John Reeds Ansichten und Geschmack waren keine Maßstäbe für mich. Und wenn Bessies Berichte über die Schuldisziplin – diese stammten von den Töchtern einer Familie, in welcher sie gedient hatte, bevor sie nach Gateshead kam – auch etwas abschreckend klangen, so waren ihre Erzählungen von den verschiedenen Talenten und Kenntnissen, welche die besagten jungen Damen sich in der Schule angeeignet hatten, andererseits höchst verlockend. Bessie schwärmte von wunderschönen Gemälden mit Landschaften und Blumen, welche sie vollendet hatten, von Liedern, die sie singen und Klavierstücken, die sie spielen konnten, von Täschchen, die sie häkelten und von französischen Büchern, die sie übersetzten – so lange, bis mein Gemüt zur Nachahmung aufgestachelt wurde. Zudem bedeutete die Schule eine gründliche Veränderung: Es wäre eine lange Reise damit verknüpft, eine gänzliche Trennung von Gateshead und ein Eintritt in ein neues Leben.
»Ja, ich möchte in der Tat gerne zur Schule gehen«, war die hörbare Schlussfolgerung dieser meiner Gedanken.
»Nun ja, wer weiß schon, was nicht alles geschehen kann?«, sagte Mr. Lloyd, indem er sich erhob. »Das Kind braucht Luft- und Ortsveränderung«, fügte er für sich selbst hinzu, »die Nerven sind in einer bösen Verfassung.«
Jetzt kam Bessie zurück, und im selben Augenblick hörte man auch Mrs. Reeds Wagen über den Kies der Gartenwege rollen.
»Ist das Ihre Herrin, Bessie?«, fragte Mr. Lloyd. »Ich möchte noch mit ihr reden, bevor ich gehe.«
Bessie begleitete ihn ins Frühstückszimmer. Wie ich aus den nachfolgenden Begebenheiten schloss, wagte der Apotheker während seiner Unterredung mit Mrs.
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