In ungefähr zwei bis drei Wochen werde ich nach Brocklehurst Hall zurückkehren; mein guter Freund, der Erzdiakon, wird mir kaum erlauben, ihn früher zu verlassen. Übrigens werde ich Miss Temple ankündigen, dass sie ein neues Mädchen zu erwarten hat, damit bei ihrem Eintritt keine Schwierigkeiten entstehen. Leben Sie wohl!«
»Leben Sie wohl, Mr. Brocklehurst, und empfehlen Sie mich Mrs. und Miss Brocklehurst, Augusta und Theodore sowie Master Broughton Brocklehurst!«
»Das werde ich tun, Madam. – Mein kleines Mädchen, hier ist ein Buch mit dem Titel: ›Des Kindes Wegweiser‹. Lesen Sie es mit Andacht, besonders jenen Teil, welcher von dem ›furchtbaren und plötzlichen Tode der Marta G.‹ handelt, einem unartigen Kinde, welches der Falschheit und Lüge ergeben war.«
Mit diesen Worten legte Mr. Brocklehurst ein Pamphlet in meine Hand, welches sorgsam in einen Umschlag genäht war. Dann ließ er seinen Wagen vorfahren und verschwand.
Mrs. Reed und ich blieben allein; mehre Minuten verharrten wir im Schweigen; sie nähte, ich beobachtete sie. Mrs. Reed mochte zu jener Zeit ungefähr sechs- oder siebenunddreißig Jahre alt sein, sie war eine Frau von robuster Gestalt, breiten Schultern und starken Knochen, nicht schlank, aber auch nicht dick. Sie hatte ein ziemlich großes Gesicht mit einem stark entwickelten, hervortretenden Unterkiefer. Ihre Stirn war niedrig, das Kinn breit, Mund und Nase waren ziemlich regelmäßig. Unter ihren farblosen Brauen blitzten Augen, die wenig Herzensgüte verrieten; ihre Haut war dunkel und matt, das Haar flachsblond. Sie war von fester und gesunder Konstitution – niemals nahte sich ihr eine Krankheit. Sie war eine strenge, pünktliche Hausfrau, der Haushalt und die Dienerschaft standen vollständig unter ihrer Kontrolle – nur ihre Kinder trotzten zuweilen ihrer Autorität und verlachten sie höhnisch. Sie verstand es, ihre stets sorgfältig Kleidung zur Geltung zu bringen.
Ich saß wenige Schritte von ihrem Lehnstuhl entfernt auf einem niedrigen Schemel und ließ meine Blicke prüfend auf ihren Gesichtszügen ruhen. In der Hand hielt ich das Traktat, welches von dem plötzlichen Tod der Lügnerin handelte und das – als passende Warnung für mich – meiner besonderen Aufmerksamkeit anempfohlen worden war. Noch schmerzte mir die Seele von dem, was soeben geschehen war, was Mrs. Reed in Bezug auf mich zu Mr. Brocklehurst gesagt hatte. Ich hatte jedes Wort ebenso klar empfunden, wie ich es gehört hatte, und das leidenschaftlichste Rachegefühl begann sich in mir zu regen.
Mrs. Reed blickte von ihrer Arbeit auf; ihre Augen bohrten sich in die meinen und ihre Finger hielten in ihrer geschäftigen Bewegung inne.
»Verlass das Zimmer! Geh wieder ins Kinderzimmer zurück!«, befahl sie. In meinem Blick musste sie etwas Herausforderndes entdeckt haben, denn sie sprach mit nur mühsam unterdrücktem Zorn. Ich stand auf und ging an die Tür. Dann kam ich aber wieder zurück und ging ans Fenster, schließlich jedoch quer durch das Zimmer bis dicht an ihren Lehnstuhl.
Ich musste sprechen, man hatte mich zu schmerzhaft verletzt, ich musste mich auflehnen. Doch wie? Welche Mittel hatte ich denn, um meine Gegnerin wirksam zu treffen? Ich nahm meinen ganzen Mut, meine ganze Energie zusammen und schleuderte ihr folgende Worte ins Gesicht:
»Ich bin nicht falsch, nicht lügnerisch, wäre ich es, so würde ich sagen, dass ich Sie liebte. Aber ich erkläre Ihnen, dass ich Sie nicht liebe, ich hasse Sie mehr als irgendjemanden auf der ganzen Welt, John Reed ausgenommen, und dieses Buch hier mit der Geschichte einer Lügnerin, das können Sie Ihrer Tochter Georgiana geben, denn sie ist es, die beständig lügt, nicht ich!«
Mrs. Reeds Hände ruhten untätig auf ihrer Arbeit, ihre eisigen Augen waren wie erstarrt.
»Hast du sonst noch etwas zu sagen?«, fragte sie mich in einem Ton, den man wohl Erwachsenen gegenüber, niemals aber im Gespräch mit einem Kind anzuschlagen pflegt.
Ihre Augen und ihre Stimme wühlten all den Hass, der in mir lebte, auf.
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