Von Kopf bis Fuß bebend, von einer Erregung geschüttelt, der ich nicht mehr Herr werden konnte, fuhr ich fort:

»Ich bin glücklich, dass Sie nicht meine Blutsverwandte sind. Niemals, solange ich lebe, werde ich Sie wieder Tante nennen. Niemals, selbst wenn ich erwachsen bin, werde ich kommen, um Sie zu besuchen, und wenn irgendjemand mich fragen sollte, ob ich Sie liebe und wie Sie mich behandelt haben, so werde ich antworten, dass der Gedanke an Sie allein schon genügt, um mich todkrank zu machen, und dass Sie mich mit elender Grausamkeit behandelt haben!«

»Wie kannst du es wagen, Jane Eyre, so etwas zu behaupten?«

»Wie ich es wagen kann, Mrs. Reed? Wie ich es wagen kann? Weil es die Wahrheit ist! Sie glauben, dass ich kein Gefühl habe, dass ich ohne die geringste Liebe und Güte leben kann, aber so kann ich nicht leben. Sie kennen kein Mitleid, kein Erbarmen. Ich werde niemals vergessen, wie Sie mich heftig und roh in das Rote Zimmer zurückgestoßen und mich dann eingeschlossen haben – bis zu meiner Sterbestunde werde ich es nicht vergessen. Obgleich ich Todesangst hatte, obgleich ich, vor Jammer und Entsetzen fast erstickend, mit allen Kräften schrie und flehte: ›Habt Erbarmen, Tante Reed! Habt Erbarmen!‹ Und diese Strafe ließen Sie mich erdulden, weil Ihr boshafter, schlechter Sohn mich schlug – mich ohne Grund und Ursache zu Boden schlug. Und diese Geschichte – gerade so, wie ich sie jetzt erzähle – werde ich jedem erzählen, der mich fragt. Die Leute glauben, dass Sie eine gute Frau sind, aber Sie sind schlecht! Sie sind hartherzig! Sie sind lügnerisch und falsch!«

Ehe ich noch mit dieser Antwort zu Ende war, begann sich ein seltsam glückliches Gefühl der Freiheit und des Triumphes meiner Seele zu bemächtigen. So hatte ich noch niemals empfunden. Es war, als wenn unsichtbare Fesseln und Bande plötzlich zerrissen wären und ich mir endlich den Weg zur unverhofften Freiheit erkämpft hätte. Und dieses Gefühl kam nicht ohne Veranlassung über mich, denn Mrs. Reed schien erschrocken und eingeschüchtert. Die Arbeit war von ihrem Schoße gefallen, sie erhob die Hände und wiegte sich hin und her, ja, ihr Gesicht verzerrte sich – fast, als wolle sie anfangen zu weinen.

»Jane, du irrst, du irrst dich, Kind! Was ist mit dir vorgegangen? Weshalb zitterst du so heftig? Möchtest du einen Schluck Wasser trinken?«

»Nein, Mrs. Reed.«

»Möchtest du irgendetwas anderes, Jane? Du kannst mir glauben, ich wünsche nichts anderes, als dir eine Freundin zu sein.«

»Nein, das ist nicht wahr. Sie haben Mr. Brocklehurst gesagt, dass ich einen lügnerischen, bösen und falschen Charakter hätte. Aber ich werde jedem Menschen in Lowood erzählen, was Sie sind und was Sie getan haben! Das schwöre ich Ihnen!«

»Jane, du verstehst solche Dinge nicht. Kinder müssen von ihren Fehlern geheilt werden.«

»Ich bin aber keine Lügnerin, Falschheit ist nicht mein Fehler!«, schrie ich mit wilder, gellender Stimme.

»Aber du bist leidenschaftlich und heftig, Jane, das musst du zugeben. Und jetzt geh wieder in das Kinderzimmer … sei ein gutes, liebes Kind … geh und ruh dich ein wenig aus!«

»Ich bin nicht Ihr gutes, liebes Kind! Ich kann mich nicht ausruhen! Schicken Sie mich bald in die Schule, Mrs. Reed, denn das Leben hier ist mir unerträglich und verhasst.«

»Wahrhaftig, ich muss sie so schnell wie möglich in die Schule schicken«, murmelte Mrs. Reed vor sich hin. Dann raffte sie ihre Arbeit zusammen und verließ hastig das Zimmer.

Ich blieb allein zurück, als Siegerin auf dem Schlachtfeld. Es war der erbittertste Kampf, den ich bisher gekämpft, und der erste Sieg, den ich je errungen hatte. Einige Augenblicke stand ich vor dem Kamin auf derselben Stelle, wo zuvor Mr. Brocklehurst gestanden hatte, und genoss meinen einsamen Erfolg. Ich lächelte still vor mich hin und fühlte mich erhaben. Aber diese trotzige Freude schwand in demselben Maße dahin, wie das Rasen meines Pulsschlags nachließ. Ein Kind kann nicht mit älteren Leuten streiten, kann seinen Gefühlen nicht freien Lauf lassen, wie soeben geschehen, ohne dass es nachher quälende Gewissensbisse hat und Furcht vor Konsequenzen empfindet. Als ob ein Höhenzug in der Heide in Flammen steht, lebhaft strahlend und sich verzehrend – so war mein Gemüt, als ich Mrs.